Winfried Hau

Bei den Toten

Es ist Mitte Mai und für die Jahreszeit viel zu kühl. Ich bin in die Eifel gefahren, in das Dorf, in dem ich meine Kindheit und frühe Jugend verbracht habe.
Ist es eine morbide Veranlagung oder das gesteigerte Interesse eines in die Jahre gekommenen Menschen am Sinn des Lebens? Jedenfalls führt mich mein erster Gang nach der Ankunft zum Friedhof.
Er liegt auf einer Anhöhe, abseits des Dorfes. Kurz dahinter führt ein Weg in einen Wald, in dem man sich selbst heute noch verirren kann.
Es ist ein relativ kleiner Friedhof. Von ganz unten bis ganz oben sind es vielleicht 200 Meter, bei einer leichten Steigung von vielleicht 2%. Ganz unten liegen die Verbrannten, im mittleren und oberen Sektor die Erdbestatteten.

Meine Toten befinden sich in den oberen Bereichen.
An kaum einem Kreuz oder Grabstein ist ein Foto des Verstorbenen angebracht, ganz im Gegensatz zu Friedhöfen in Bayern.
"Wat fut is, is fut!", pflegt man in der rauen und kargen Eifel zu sagen. Vielleicht sind die Toten hier toter als in südlicheren Gegenden.

Das erste Grab, das ich besuche ist natürlich das Grab meines Vaters. Ich denke an die Zeilen der Gruppe BAP: "Verdamp lang her, dat ich bei dir am Grab wor, verdamp lang her, dat mir jesprochen han, un dat vom eine och jet beim andere ankom, so lang, dat ich mich kaum erinnere kann."
Ich habe die letzten Minuten seines Sterbens im Krankenhaus erlebt, die Nulllinie, die heraushängende Zunge, den heraustropfenden letzten Speichel.
Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Noch zwei Monate, und ich habe sein Sterbedatum erreicht.
Ich bete ein Vater unser und Gegrüßet seist du Maria an seinem Grab. Wahrscheinlich nutzt es nichts, aber es ist ein tief eingefleischtes Ritual.

Auch an den Gräbern von V. und H. wiederhole ich meine Gebete, bitte sogar innigst darum, dass sie mir ein Zeichen senden mögen aus einer anderen Dimension. Na ja, ein paar Grabblumen bewegen sich etwas stärker im Wind

V. hat sich erhängt. Sie ist im gleichen Jahr geboren wie ich und war ein extrem hübsches Mädchen. Keiner von uns verliebten Jungs wußte, dass sie unter Depressionen litt. Bevor sie den Hals in die Schlinge steckte, hatte sie noch Lebensmittel eingekauft. Ihr Suizid war eine Kurzschlußreaktion, mit einer langen, von anderen falsch oder überhaupt nicht wahrgenommenen Vorgeschichte.

H. kenne ich von der Volksschule her, wie sie damals noch genannt wurde.
Von Geburt an leicht gehbehindert, watschelte er mit riesigen Augen über den Schulhof und durch´s Klassenzimmer.
Eines Tages war der Schulrat zu Gast. Er schritt durch die Klasse und verteilte völlig grundlos Ohrfeigen nach rechts und nach links.
Heutzutage würde man diesen Menschen als Psychopathen bezeichnen, aber damals galt er als nicht hinterfragbare Autorität. Wahrscheinlich war er einst Symphatisant der NSDAP gewesen, dem man aber nach dem Krieg keine direkte Mitgliedschaft nachweisen konnte.
Während wir anderen Schüler uns vor den wahllos verteilten Schlägen des Schulrats duckten und die Hände schützend vor weiteren Schlägen vor´s Gesicht hielten, bot H. ihm völlig ungeschützt weitere Schläge an. Der Schulrat rastete aus, schlug wie ein Besessener auf H.ein, stieß ihn mit dem Fuß vom Stuhl in die Ecke, schlug und trat, schlug und trat. Und H. lachte, lachte umso mehr der Schulrat trat und schlug. Irgendwann konnte der Schulrat nur noch keuchen, während H. immer noch lachte.
Woran H. gestorben ist, weiß ich nicht. Wir haben uns auch später nie mehr gesehen. Aber meine Hochachtung ist geblieben, wie dieser körperlich behinderte junge Mensch einem psychopathischen Vollidioten trotzte.

Dann ist da das Grab von Frau B. Ihr Name mit Geburts- und Sterbedatum ist in ein riesiges Herz aus Stein gemeisselt. Sie ist 72 Jahre alt geworden. In meiner Erinnerung ist sie knapp über 30, blond, mit einer extrem sexy Figur. Kann so eine Frau nicht 30 bleiben?

Was, wenn alle diese Toten wirklich tot sind? Was, wenn nichts mehr von ihnen bleibt ausser Erinnerungen? Was ist mit den Millionen Toten, an die sich keiner mehr erinnert? Was, wenn alle Weltreligionen mit ihrem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod scheitern vor nüchternen naturwissenschaftlichen Erkennnissen? Tod! Verwesung! Nichts!

Dorothee Sölle hat einmal gesagt, dass man nur Verletzbares und Zerstörbares wirklich lieben kann. Wenn mit dem Tod alles aus ist, so behält doch und vielleicht in gesteigertem Maße die von allen Religionen geforderte Nächstenliebe ihren Sinn. Wenn es nur dieses eine einzige Leben im Hier und Jetzt gibt, dann müssen wir extrem behutsam, achtsam und sensibel miteinander umgehen. Ich bin vergänglich, du bist vergänglich, wir sind nur "Dust in the wind".
"Auferstehung" gibt es nicht im Jenseits, sondern nur in der konkreten Begegnung zwischen Ich und Du.

Ich verlasse den Friedhof und gehe hinauf in den Wald, in dem man sich auch heute noch verirren kann. Windböen erfassen mich. Spricht da doch die ein oder andere Stimme eines Toten zu mir?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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