Winfried Hau

Hinaus

Drei Tage und drei Nächte war ich hier. Das Hotelzimmer mit Balkon entsprach genau meinen nicht zu hohen Erwartungen, Ich habe lange Spaziergänge in einem Mittelgebirge unternommen und dabei Ruhe und ein wenig Erholung von meinem harten Job gefunden.
Doch schnell geht mein Kurzurlaub zu Ende. Morgen muss ich wieder in aller Früh zur Arbeit erscheinen.
Ich packe meinen kleinen Koffer und meinen Rucksack und schaue noch einmal genau nach, ob nichts vergessen wurde. Schrank und Schreibtisch sind leer, Zahnpasta und Duschgel eingepackt, in der Schublade des Nachttischkästchens befinder sich nur die hausinterne Bibel, und unter das Bett ist nichts versehentlich gefallen oder gerutscht.

Ich schließe das Zimmer ab, gehe mit Koffeer und Rucksack eine lange Treppe hinunter zur Rezeption und drücke einen schwarzen Knopf, der einen erstaunlich leisen Klingelton erzeugt.
Nach etwa einer Minute erscheint ein junges Mädchen. Gedankenverloren lächelnd blickt sie auf ihr Handy und tippt noch eine SMS, bis sie sich mir, grimassenhaft grinsend, zuwendet.
"Ich möchte gerne zahlen für Zimmer 29", sage ich.
"Natürlch, gerne", antwortet sie und gibt auf dem Computer Daten ein. Sie tippt ewig lange, wobei sich ihre Miene zunehmend verfinstert.
In die Backen blasend, fragt sie nach: "Zimmer 29? Und Sie haben drei Übtnachtungen mit Frühstück gebucht?"
Ich bejahe und halte Geldscheine bereit, denn ich zahle immer in bar.
"Da scheint es ein Problem zu geben", sagt das Mädchen. "Zimmer 29 befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Haben Sie Gepäck vergessen?"
"Mit Sicherheit nicht!", antworte ich. "Und wenn, dann kann es sich nur um Kleinigkeiten handeln."
"Es tut mir leid!", sagt das Mädchen. "Aber ich glaube, da muss ich die Chefin einschalten!"
Sie geht in einen hinteren Raum, ich höre Geflüster, und die Chefin erscheint: schleppender Gang, übergewichtig, grauhaarig, wache Augen.
Sie blickt auf das Computerbild.
"Ojeoje!", seufzt sie. "Lieber Herr, kommen Sie doch noch einmal mit auf Ihr Zimmer!"
"Natürlich, gerne!", sage ich, stelle Koffer und Rucksack ab und gehe die Treppen hinauf, während die Chefin den Aufzug benutzt.

Ich sperre Zimmer 29 auf und finde einen überfüllten Raum, vollgepackt mit Büchern, Aktenordnern, Papieren und beschriebenen Zetteln.
"Das,..das kann nicht sein!", sage ich. "Das ist nicht mein Zimmer! Mein Zimmer 29 wurde penibel aufgeräumt!"
"Geht es Ihnen gut?", fragt die Chefin. "Wissen Sie, vielleicht sind Sie krank und brauchen professionelle Hilfe. Es gibt ja heutzutage so viele Krankheiten, von denen man früher nichts wußte. Also, wenn man Ihr Zimmer anschaut...!"
"Mir geht es blendend!", versuche ich in ruhigem Ton zu sagen, aber ich spüre, dass ich diese Worte kreischend und hysterisch hinausstoße.
"Bleiben Sie ruhig!", sagt die Chefin. "Aber Sie müssen verstehen, dass Sie dieses Zimmer so nicht verlassen können. Einen Teil ihres Riesengepäcks können Sie sicher mit Ihrem Wagen wegfahren, und das andere überflüssige Gut können Sie von einem Unternehmen entsorgen lassen! Für diese Kosten müssen natürlich Sie alleine aufkommen!"

Ich trage Bücher, Papiere und Aktenordner vor den Hoteleingang, staple alles auf. Ein paar Bücher und persönlichste Papiere fehlen noch. Noch einmal will ich zurück in Zimmer 29, aber alles in diesem Hotel verändert sich schlagartig. Die Treppen verlaufen spiralförmig, finden kein Oben und Unten, sondern bewegen sich im Kreis. Die Zimmer haben keine Nummern mehr. Öffnet man sie, so findet man nur noch Toiletten, die von Urin und Kot überquellen.
Ich renne sinnlos umher, renne und renne, erreiche zufällig wieder die verlassene Rezeption.
1000 Euro lege ich auf die Theke, die hoffentlch für meine Übernachtungen mit Frühstück sowie für meine Unkosten reichen. Die Kosten sind mir egal. Ich will nur noch raus von hier!

Ich ergreife Rucksack und Koffer und rüttle an der Eingangstür. Sie klemmt, aber schließlich gelingt es mir doch, sie zu öffnen. Eisiger Wind weht mir entgegen. Ich überlege, welchen Teil meines Gepäcks ich mit dem Wagen mitnehmen kann und welchen Teil ich einem Umzugsunternehmen überlassen soll.

Mein Wagen ist verschwunden. Mit dem Handy rufe ich die Poizei an, wobei ich nur das Verschwinden meines Wagens melde. Alles andere klingt zu absurd, um von einem Staatsbeamten verstanden zu werden.

Nach etwa 30 Minuten erscheint ein Dorfpolizist auf einem Fahrrad. Ich will meinen Personalausweis vorzeigen, aber der interessiert ihn überhaupt nicht.
Er fragt nur: "Wie geht es Ihnen?"
Und dann sprudelt es aus mir heraus. Ich erzähle von der plötzlichen Überladung meines Hotelzimmers, der verwirrenden Verwandlung des gesamten Hotels, der völligen Verwandlung von Wirklichkeit.

"Ich muss raus von hier!", bettle ich den Polizisten an . "Ich muss zurück in mein Zuhause, wo ich mich auf meinen morgigen Arbeitstag vorbereiten kann und wo meine Frau und zwei Kinder auf mich warten!"

"Sie sind nicht von hier!", sagt der Polizist. "Diese Gegend ist Ihnen völlig unbekannt. Sie sind ein Fremder im klassischen Sinne. Die Wirklichkeit ist viel größer als sie vordergründig scheint. Von hier aus fahren weder Busse, noch Taxis, noch irgendwelche Autos, noch Züge hinaus. Schnee- und Steinlawinen haben alle Verkehrsverbindungen für Wochen, vielleicht Monate gesperrt. Zudem habe ich gerade erfahren, dass vor einer Minute alle Netzverbindungen zusammengebrochen sind. Kommunikationen mit Handy oder Laptop sind auf unbestimmte Zeit unmöglich.
Hinaus aus dieser Welt führen nur noch Fußwege über das Gebirge, dem noch eines folgt und dann wieder eines und ein weiteres.

Tatsächlich: Die Welt, die ich als sanfte Mittelgebirgslandschaft wahrgenommen habe, hat sich in ein schroffes, von Stürmen gepeitschtes, unüberwindliches Gebirge verwandelt, dem viele Gebirge folgen.

Ich setze einen Fuß vor den anderen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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