Ralf Glüsing

Das große Grünkohlessen

Wenn der erste Frost ins Land gegangen war, wurde es Zeit den Grünkohl zu ernten. All die Jahre, als ich noch einen großen Gemüsegarten mein Eigen nannte, war dies immer ein besonderes Ereignis. Grünkohl ist ja in ganz Niedersachsen, und nicht nur im Oldenburgischen, ein Nationalgericht, jedenfalls im ländlichen Raum. So auch bei uns, wo er zusammen mit der obligatorischen Bregenwurst und Kartoffeln verzehrt wird. Manch einer wird da gewiss die Nase rümpfen, heißt „Bregen“ doch im Hochdeutschen „Gehirn“. Sicher, manch einer, der noch Hausschlachtung betrieb, was aber damals schon am Aussterben war, verwertete hier das Gehirn des geschlachteten Schweines. Mir wurde jedoch auf Nachfrage bei den Schlachtereien der Umgebung versichert, dass man Schweinegehirn nicht mehr verarbeiten dürfe und die Bregenwurst statt dessen schieres Fleisch enthielt. Ich möchte an dieser Stelle jetzt gewiss keinen Werbefeldzug für ein Gericht veranstalten, dass von vielen, die es noch nie probiert haben, gerade noch mit einem „Igitt!“ gewürdigt wird, möchte aber betonen, dass alle Kritiker es dann doch mit Genuss gegessen haben. Doch dazu später.

Die Zubereitung des Grünkohls war einer gewissen Prozedur unterworfen, erst recht wenn man größere Mengen zu verarbeiten hatte. Und das hatte ich. Ich erntete immer den gesamten Grünkohl auf einmal und kochte ihn. Was dann nicht am Abend verzehrt wurde, kochte ich in Gläsern ein.

Wie schon gesagt mussten die Kohlpflanzen Frost bekommen haben, da sie nur dann ihren besonderen Geschmack entfalten können. So wird es jedenfalls immer behauptet. Ich denke, dass der Kohl einfach nur zarter wird, wenn das Blattgewebe dem Frost ausgesetzt war. Ich erntete immer die kompletten „Palmen“, die Grünkohlpflanzen sehen tatsächlich so aus, wie Palmen im Miniformat. Heute bekommt man ihn leider meist nur im zerkleinerten Zustand in Tüten verpackt oder besser gestopft.

Zuerst mussten die Blätter vom Stamm abgebrochen werden, dann wurden die Blätter von den Blattstrunken abgestriffen und grob zerrissen. Nach dieser Prozedur hatte ich stets eine große Wäschewanne gehäuft voll mit Blattwerk. Währenddessen wurde ein Einkochtopf voll Wasser zum Kochen gebracht. Mit dem noch kochenden Wasser wurde der Kohl dann übergossen, also abgebrüht. Dies hatte den Effekt, dass sich das Volumen der Blattmasse auf ca. die Hälfte bis ein Drittel verringerte. Gleichzeitig sollten dadurch Insekten, Raupen und andere Krabbeltiere abgetötet werden. Selbst angebauter, das heißt ungespritzter Grünkohl beherbergt naturgemäß einiges davon. Spätestens hier sehen sich alle, die vorgeben, dass man so etwas nicht essen könne, bestätigt, denn nachdem der Grünkohl nach einer guten halben Stunde aus dem Wasser gefischt wird, schwimmt da doch so einiges im Brühwasser. Darum der gute Rat an alle, die Gäste zum Grünkohlessen einladen, lasst eure Gäste erst zuschauen, wenn der Kohl in den Topf kommt.

Es folgt eine weitere Waschung mit nicht mehr kochendem, aber dennoch heißem Wasser und schließlich eine mit kaltem Wasser. Sollte sich nun nach der Entnahme des Kohls aus dem Wasser darinnen noch Sandpartikel finden, so wäscht man halt noch mal. Dann ist der Kohl bereit für den Topf. Ich hatte immer so viel Kohl, dass ich zum Kochen einen Einkochtopf (30 Liter glaube ich, oder mehr?) benutzte. Zunächst wurde im Topf eine ziemliche Menge grob gehackter Zwiebeln glasig gedünstet. Traditionell wurde dann Bauchfleisch darin angebraten und mit Wasser abgelöscht. Da mir das aber zu fettig ist, gieße ich stattdessen Brühe oder an besten Rinderfond auf und verzichte auf das Bauchfleisch. Manch einer verwendet zum Anbraten immer noch Schmalz - „Igitt!“. Da wir aber nicht mehr im Krieg leben und auch „der Russe“ nicht vor der Tür steht, sollte man lieber Butter oder ein gutes Öl verwenden.

Dann kommt der Kohl in den Topf und wird auf kleiner Flamme gar geköchelt. Etwas Salz und Pfeffer, sowie Honig zum Abrunden und nach einer knappen Stunde sollte der Kohl gar sein. Zum Schluss kommt die Wurst in den Topf. Rohe Bregenwurst im Naturdarm „Hausmacherart“ darf nicht kochen, da sie sonst aufplatzt. Leider isst man vielerorts geräucherte Bregenwurst, die eher einer zu trocken geratenen Krakauer gleicht und in meinen Augen ein verabscheuungswürdiges Sakrileg darstellt. Bregenwurst aus dem Glas geht gerade so, hat aber den Nachteil, dass sich dann nicht der Geschmack der Wurst mit dem des Kohls vereinigt. Auch wenn man etwas Wurstmasse in den Kohl gibt, ist es nicht das Gleiche wie Bregenwurst im Darm, meine ich.

Wie Du siehst, lieber Leser, ein ziemliches Brimborium, das von der Ernte bis zum Essen bei mir meist vom Vormittag bis in den Abend dauerte und unsere Küche in ein Schlachtfeld verwandelte. Der Geruch des abgebrühten Kohls und der dabei reichlich aufsteigende Wasserdampf schufen dabei eine ganz eigene Atmosphäre.

In bester Erinnerung sind mir noch die Grünkohlessen in unserer WG in Ribbesbüttel. Wir bewohnten zu viert das Gesindehaus eines alten Bauernhofes. Im Haupthaus befand sich ebenfalls eine WG – fünf Erwachsene, zwei Kinder. Es waren also immer genug hungrige Mäuler anwesend. Wenn wir zudem noch Besuch hatten, was meist der Fall war, versammelten sich abends oft um die zehn Leute um den Essenstisch. Dies umso mehr, da es bei uns nicht täglich warmes Essen gab.

Unsere Nachbarn, allesamt eher Stadtkinder, die Grünkohl nur vom Hörensagen kannten, verfolgten die oben beschriebene Prozedur mit Interesse, jedoch zugleich mit einer gewissen Reserviertheit. Besonders meine Nachbarinnen zweifelten doch sehr daran, ob man so etwas denn wirklich essen könne. „Naja, probieren werde ich vielleicht!“ war der Kommentar. „Aber diese Würste werde ich bestimmt nicht essen!“ Nun ja, ich hatte dann doch ein paar geräucherte Bregenwürste (man möge mich bitte nicht steinigen) besorgt, die schließlich die Gnade meiner Nachbarinnen fanden.

Als dann der fertige Grünkohl samt Würsten und Kartoffeln auf dem Tisch stand verschwand allmählich die Abneigung meiner Nachbarinnen. Aus: „Sieht ja gar nicht schlecht aus“, „Riecht ja gar nicht mehr so streng nach Kohl“, „Ich probiere erst mal nur ein bisschen“ wurde: „Oh schmeckt ja lecker, ich nehme noch was!“ Und selbst die anfangs so verschmähte Hausmacherwurst wurde letztendlich sogar von meinen Nachbarinnen mit Appetit verspeist.

Selbst als ich schon nicht mehr in Ribbesbüttel wohnte, habe ich dort noch ein Grünkohlessen veranstaltet und selbst mein Zimmernachfolger Juan, der als Baske sicher kein großer Anhänger ländlicher norddeutscher Küche war, sollte nun mit eben jener konfrontiert werden. „Na, ob das dem Basken nicht zu deutsch ist?“ fragte Iffi. Weit gefehlt, Juan aß den Grünkohl mit großem Appetit und hörte erst nach der dritten Portion auf.

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