Jörg Greck

Zeitdiebstahl durch stethoskoptragende Weißkittel

 

Kurzfassung für den eiligen Leser: Man sieht es diesen Herrschaften nicht an, diesen Zeitdieben, wenn sie, gekleidet in einen blütenweißen Kittel und in Turnschuhen, das Stethoskop lässig um den Nacken gehängt, in ihrer Arztpraxis den Behandlungsraum 22n betreten, um den inzwischen eingenickten Kassenpatienten mit einem jovial herausposaunten „Na, wie geht es uns denn heute“ donnernd den arztüblichen Tagesgruß zu entbieten. Wenn der leidgeprüfte gesetzlich Versicherte es bis hierher geschafft hat, dann hat er, was ihm meist nicht bewusst ist, schon drei Warteschleifen hinter sich gebracht. Nämlich den  Dank der Bemühungen der Kassenärztliche Vereinigung um ein auskömmliches Erwerbseinkommen ihrer Mitglieder  inzwischen auf 45 km angewachsenen Weg von zu Hause bis in die Arztpraxis, die „Grundwartezeit“ im Wartezimmer, das eigentlich Vireninkubator heißen müsste, und die „Extrawartezeit“ in dem ihm vom Hilfspersonal des Arztes weit vor dem Beginn der Konsultation zugewiesenen Behandlungsraum 22n, der nur unbedeutend größer ist als ein Hamsterkäfig. Für dieses erhebliche Zeitinvestment bekommt der gesetzlich Krankenversicherte dann die exklusiv für ihn entwickelte „Fünf-Minuten-Medizin“ verabreicht. Ich nenne das Zeitdiebstahl, wenn Aufwand und Ertrag in einem derart krassen Missverhältnis stehen.

Die Wörter „Arzt“ und „Zeit“ sind ein unauflöslich miteinander verbundenes Begriffspaar, das uns Kassenpatienten im Alltag in den verschiedensten Konstellationen begegnet, die sich allesamt auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Zeitdiebstahl.

Durchlauftermine

Beliebt bei Ärzten, weniger hingegen bei Patienten, sind die so genannten Durchlauftermine, die  wie bei Gericht  der Verfahrensbeschleunigung auf dem Weg hin zu einer medizinischen bzw. juristischen Entscheidung dienen.

Hierzu bestellt die Arzthelferin eine möglichst große Zahl von Patienten auf exakt ein und dieselbe Uhrzeit zur Untersuchung ein. So hocken dann bei Praxiseröffnung um 6.30h zehn ob des schon um diese Uhrzeit prall gefüllten Wartezimmers verdutzt dreinschauende Kassenpatienten beieinander, husten sich an und vertrödeln ihre Zeit mit der Lektüre keim-, bakterien- und virenbehafteter veralteter (Frauen-)Zeitschriften. Wird man dann, meist vergehen 10 bis 20 Minuten, zwangsweise in einen der zahlreichen Behandlungsräume abgeführt, die sich von einer Ausnüchterungszelle nur durch die liebevolle Teilmöblierung mit einem Uralt-PC unterscheiden, dessen bauchiger Monitor augenermüdend flimmert, beginnt das Warten auf Godot.1 Wer sich zur Überbrückung der Wartezeit keine Pizza bestellen mag, kann seine Zeit gewinnbringend mit Recherchen in der (selbstverständlich schon geöffneten) elektronischen Patientendatei verbringen. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, welche teils doch recht exotischen Krankheiten meine Nachbarn haben. Irgendwann, so nach 20 bis 30 Minuten, erscheint dann ein meist wohlgelaunter Arzt, der großzügigerweise fünf Minuten seiner kostbaren Arbeitszeit in den Kassenpatienten investiert.

Schmaler Ertrag für den Patienten

Das Zeitinvestment des Patienten, die Wartezeit, und der Ertrag, die für die medizinische Dienstleistung – ich rede hier nicht vom Behandlungserfolg  des Arztes aufgewendete Zeit, stehen besonders dann in einem krassen Missverhältnis, wenn sich der Behandlungsbeginn noch weiter dadurch verzögert, das „Notfälle, die bei uns immer Vorrang haben“, wie die Arzthelferin versichert, versorgt werden mussten, sprich: der Arzt, aus welchen Gründen auch immer, nicht pünktlich in der Praxis erschienen ist.

Fünf-Minuten-Medizin“ – nicht von Maggi

Die erwähnte „Fünf-Minuten-Medizin“ bekommen Kassenpatienten quartalsmäßig von ihrem Hausarzt verabreicht, auch wenn sie ihnen bitter aufstößt. Im Umgang mit Ärzten noch unerfahrenen Patienten, Patienten-Anwärtern, also Menschen, die zwar erkrankt sind, davon aber noch nichts davon wissen, und Dauergesunden, die noch nie eine Arztpraxis von innen gesehen haben, sei hierzu klarstellend erläutert, dass der Begriff „Fünf-Minuten Medizin“ nicht eine spezielle Behandlungstechnik besonders erfahrener Ärzte beschreibt, die wegen ihrer herausragenden medizinischen Fähigkeiten dazu in der Lage sind, jede Krankheit innerhalb von fünf Minuten zu diagnostizieren und innerhalb dieses Zeitraums auch zu lindern bzw. sogar zu heilen.

Erfinder dieses minimal intensiv durchgeführten Eingriffs in den Körper des Kassenpatienten ist übrigens nicht, wie irreführend immer wieder behauptet wird, die schweizerische Nestlé AG, die im Jahr 1947 mit der Maggi AG fusionierte und unter dem Markennamen von Maggi seit 1979 mit dem Instantprodukt „5 Minuten Terrine“ und artgleicher Fertignahrung den Markt der convinient meals um inzwischen zahllose weitere Geschmacksverirrungen bereichert hat.

Richtig ist allerdings, dass beiden Angeboten dieselbe Produktidee zugrunde liegt, nämlich dem Kunden mit möglichst wenig Aufwand ein strafrechtlich unbedenkliches Produkt zu präsentieren und dabei den größtmöglichen Ertrag zu generieren.

Ein paar Zahlen für Zweifler

Wenn Sie zur Gruppe der Patienten-Anwärter oder Dauergesunden gehören, dann halten Sie die These von der „Fünf-Minuten-Medizin“ für Kassenpatienten vielleicht für die böswillige Behauptung eines manisch-depressiven Ärztehassers. Dem ist aber nicht so, wie die vom führenden Verlautbarungsorgan der Ärzteschaft, dem „Deutschen Ärzteblatt“,2 dankenswerterweise dokumentierten Zahlen aus dem Jahr 2012 belegen, denen eine repr䳥ntative Befragung von 11.000 Kassenärzten zugrunde lag:

Danach versorgt ein Hausarzt im Durchschnitt 53 Patienten pro Tag, also 265 Patienten pro Woche (5 Tage x 53 Patienten). Seine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit – über alle Tätigkeiten gerechnet – beträgt 58 Stunden. Von diese 58 Stunden entfallen 25%, also 14,5 Stunden, auf Verwaltungsarbeiten, die Führung des Praxisteams, die Fortbildung und sonstige (unternehmerische) Aufgaben. In den restlichen 43,5 Wochenstunden, die 2.610 Minuten entsprechen, widmet sich der Hausarzt der Patientensprechstunde, Hausbesuchen und dem Bereitschaftsdienst. Rechnet man den Bereitschaftsdienst, auf den 8% der ärztlichen Tätigkeit entfallen, und die Anfahrtszeit bei Hausbesuchen wohlwollend voll mit in die für die Patientenbetreuung zur Verfügung stehende Zeit ein, so entfallen im Durchschnitt 9.51 Minuten (2.610 Minuten : 265 Patienten) auf die medizinische Betreuung jedes Patienten, gleich ob er Kassen- oder Privatpatient bzw. Selbstzahler ist.

Umsatzorientiertes Zeitinvestment

9.51 Minuten sind noch keine fünf, das ist richtig. In Richtung dieser Größenordnung kommen Sie als Kassenpatient allerdings sehr schnell dann, wenn man berücksichtigt, dass der Arzt, um die lukrativen Privatpatienten angemessen zu bedienen, d.h.. dauerhaft an seine Praxis zu binden, das Zeitkontingent für die Behandlung der Kassenpatienten auf das Notwendigste beschränkt. Und der durchschnittliche Anteil von Privatpatienten in „Arztpraxen ohne Medizinische Versorgungszentren“ an der Gesamtzahl aller Patienten ist hoch, er liegt bei ca. 30%!3

Mal ernsthaft: Würden Sie als unternehmerisch denkender Hausarzt, der auch eine Personalverantwortung für seine Mitarbeiter trägt, bei 265 Patienten pro Woche nicht auch den Zeitaufwand für Ihre 180 Kassenpatienten möglichst überschaubar halten, sagen wir, auf fünf Minuten beschränken, um die so gewonnene Zeit in Ihre 80 Privatpatienten zu investieren, denen Sie im Durchschnitt dann ca. 20 Minuten Untersuchungs- und Beratungszeit einräumen können?

Wer hat's erfunden?

Die „Fünf-Minuten-Medizin“ für Kassenpatienten ist ein Produkt des intensiven Nachdenkens der Kassenärztlichen Vereinigungen darüber, wie, orientiert an der Rechengröße „Bedarfsplanung“ im Sinne einer zu vermeidenden „Über- bzw. Unterversorgung“, die „Ärztedichte“ in den „Planungsbereichen“ gestaltet werden muss, um flächendeckend eine  aus der Sicht des Patienten  qualitativ hochwertige medizinische und – aus der Sicht der Ärzteschaft – qualitativ hochwertige finanzielle Versorgung dauerhaft zu garantieren, wobei sich, man ahnt es schon, die unterschiedlichen Qualitätsmaßstäbe nicht (immer) miteinander in Deckung bringen lassen.

Der Bus ist voll“

Das strukturelle Problem, zu viele Patientenkontakte und zu wenig Zeit für den Patienten, wird zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit von den Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigungen sorgenvoll bis tränenreich beklagt. Hierbei wird aber von den berufsmäßigen Lobbyisten immer wieder verdrängt, dass es gerade die Kassenärztlichen Vereinigungen sind, die als Interessenvertreter der (bereits) niedergelassenen Ärzte nach dem Prinzip „Der Bus ist voll“ durch eine restriktive Zulassungspraxis gemäß der Ärzte-Zulassungsverordnung und nach den Grundsätzen der „Bedarfsplanungs-Richtlinie“ aus dem Jahr 1992 „im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen“ dafür sorgen, dass das für 2015 von den Krankenkassen auf rund 33 Mrd. € gedeckelte Budget für Kassenärzte nicht an zu viele Ärzte ausgeschüttet werden muss. Denn je mehr Konkurrenten um den Patienten buhlen, umso schmaler ist das Stück vom Honorarkuchen für den einzelnen Arzt. Das leuchtet ein.

Konkurrenz unerwünscht

Der Satz, Konkurrenz belebt das Geschäft, gilt halt nur in den Wirtschaftsbereichen, in denen im Interesse des Kunden ein gesetzlich reglementierter fairer Leistungswettbewerb zwischen den Anbietern herrscht. Im Bereich der Kassenärzte kommt es darauf jedoch nicht an, hier sichern monopolistische Strukturen die Pfründe der bereits etablierten Marktteilnehmer, und zwar zu Lasten der Kassenpatienten, die sich mit einer von oben gesteuerten „Fünf-Minuten-Medizin“ abspeisen lassen müssen, was mit Blick auf die in diversen Wartezimmern verplemperten Wartezeit und den Anfahrtsweg den Zeitdiebstahl besonders unerträglich macht.

The Long and Winding Road“

Dass der Weg zum Arzt steinig sein kann, sollen angeblich schon die Beatles in ihrem im Jahr 1969 erschienenen Song beklagt haben. In die Songzeile „Why leave me standing here“4 können auch die Patienten einstimmen, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen mit dem Instrument der Bedarfsplanungs-Richtlinie dazu gezwungen werden, eine weit von ihrem Wohnort gelegene Arztpraxis mit entsprechend langen Anfahrtswegen aufzusuchen – die dritte ärgerliche Spielart des Zeitdiebstahls zu Lasten des Patienten.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen achten nämlich nicht nur darauf, die Gesamtzahl der Kassenärzte aus den genannten Gründen klein zu halten, sie sind auch als berufsmäßig bestellte Interessenvertreter ihrer Klientel darauf gepolt, das Angebot konkurrierender Klinik-Ambulanzen aus dem Wettbewerb mit den Kassenärzten zu schießen. So werden dann schon mal die Abrechnungsfachleute der Kassenärztlichen Vereinigung auf Klinikbetreiber angesetzt, um ihnen Abrechnungsbetrug nachzuweisen5 und ihnen, wie im Fall des Deutschen Roten Kreuzes geschehen, die Schließung von drei Medizinischen Behandlungszentren im Jahr 2010 in Berlin-Gesundbrunnen, Berlin-Westend und Berlin-Köpenick im Wege eines gerichtlichen Vergleichs abzuringen.

Ursachen

Die Lücken in der medizinischen Versorgung der Patienten, die durch die Eliminierung der Konkurrenz mit der, wie Kritiker sagen, „Hexenjagd auf Kliniken“ gerissen werden, die Festsetzung zu großer Planungsbereiche6 und die zunehmend zu beobachtende Praxis der Ausschüsse der Kassenärztlichen Vereinigungen, die Verlegung von Kassenarztpraxen aus sozialen Brennpunktbezirken in einen gewinnträchtigen Stadtteil zu gestatten, führen dazu, dass Patienten zeitintensive, weil überlange Anfahrtswege zu ihrem (Fach-)Arzt bewältigen müssen.

Aufrechnung

Wenn Ihr Medizinmann mit Ihnen demnächst wieder einmal eines seiner Lieblingsthemen, nämlich „Schadensersatz wegen versäumter Arzttermine“, erörtern will, können Sie sich bedenkenlos mit ihm solidarisieren. Überraschen Sie ihn dann aber mit dem Hinweis, dass Sie gegen seine Forderung mit den Posten überlange Verweildauer im Wartezimmer unter dem Aspekt der von ihm praktizierten „Fünf-Minuten-Medizin“ und der  Dank der Bemühungen seiner Kassenärztlichen Vereinigung  45 km langen Anfahrtsstrecke zu seiner Praxis (Kfz-Kosten, aufgewendete Lebenszeit) aufrechnen werden. Und, bitte nicht vergessen: Stellen Sie ihm zusätzlich noch einen Strafantrag wegen Zeitdiebstahls in Aussicht. Zwar funktioniert das nicht, Ihr Weißkittel wird das aber nicht wissen.

1 In dem Theaterstück „Warten auf Godot“ beschreibt Samuel Beckett, wie Sie sich vielleicht erinnern, die Situation der beiden Landstreicher Estragon und Wladimir, die unter einem kahlen Baum an der Landstraße – vergeblich – auf die Ankunft einer Person namens Godot warten.

2 Osterloh, Deutsche Ärzteblatt, Ärzten macht ihre Arbeit Spaß, Seite A 1212 ff. (Jahrgang 109, Heft 24 vom 15.6.2012).

3 Siehe Statistisches Bundesamt, Fachserie 2, Reihe 1.6.1, Seite 29, 2011: Unternehmen und Arbeitsstätten – Kostenstruktur bei Arzt- und Zahnarztpraxen sowie Praxen von psychologischen Therapeuten, Veröffentlichungsdatum 2013.

4 „Warum lässt du mich hier allein zurück?“

5 Und das geht schnell. Abrechnungsbetrug (und der Tatbestand der Körperverletzung) liegt etwa schon dann vor, wenn ein Assistenzarzt Patienten ohne die erforderliche Facharztqualifikation behandelt.

6 Beispiel: Berlin, ein Planungsbereich, misst von Ost nach West ca. 45 km.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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