Brian Channing

Verschlungene Wege

Stunden um Stunden war ich schon unterwegs. Die Sonne schickte nur kärgliches Licht durch die dichten Zweige. Steine und Wurzeln behinderten mich vorwärts zu kommen. Der Aufstieg der eigentlich nicht besonders steil war, aber eben doch meine ganzen Kräfte kostete zu bezwingen. Ich blieb stehen und sah mich um. Die Bäume waren dicht belaubt und nur spärlich wuchs Moos auf dem Waldboden. Nicht einmal die Himmelsrichtung konnte ich genau ermitteln, weil die Sonnenstrahlen sich nur mühsam durch das Geäst Bahn brachen. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, ich blieb erneut stehen und fuhr mir mit dem Taschentuch über das Gesicht. Wohin würde dieser Weg führen? fragte ich mich. Gab es überhaupt kein Ende?
Stehen bleiben wollte ich nicht, da ich nicht wusste wie spät es schon war. Meine Armbanduhr hatte ich wie immer zu Hause gelassen.
Ob es einen Menschen in der Nähe gab, der meinen Ruf hören könnte?
In dieser schwierigen Situation besann ich mich auf meinen Gott und Vater. Er hatte mich schon oft aus einem vermeintlichen Irrgarten herausgeführt. Ich betete mit aller seelischen Kraft und bat um einen Fingerzeig, welchen Weg ich gehen sollte. Ich suchte nach irgendeinem Zeichen, da sah ich in der Ferne einen kleinen Ausschnitt des Himmels. Der Wald lichtete sich. In diese Richtung sollte ich wohl gehen.
In mir wurden Gedanken der Freude und der Zuversicht wach, die mich vorwärts trieben und mir nicht gestatteten zurück zu blicken. Mich drängte es weiter zu gehen, auf keinen Fall wollte ich stehen bleiben. Ich wollte ja nicht in diesem Wald übernachten, sondern mein Ziel erreichen.
Das Emporsteigen war weiterhin mühsam. Zweige und Büsche behinderten mich, aber in mir war der Mut neu erstarkt, nicht aufzugeben! Nach ein paar mühsamen Schritten stand ich plötzlich an einer Wegkreuzung. Wo sollte ich weitergehen, fragte ich mich. Als ich noch so beim Überlegen war, hörte ich es poltern. Ich drehte mich um, da sah ich eine junge Frau, die genauso erstaunt war, jemanden zu treffen. Sie blieb stehen und sah mich mit ungläubigen Augen an, so als wäre ich eine Fatahmorgana. Sie stütze sich auf einen Stock, den sie sich unterwegs gesucht hatte um damit leichter voran zu kommen. Ihr Atem ging stoßweise, es war ihr wahrscheinlich schwer geworden, diesen Berg zu ersteigen.
„Wo kommst du her?“ fragte sie mich.
„Ich komme aus dem Dunkel meiner Kindheit und stehe nun hier und weiß nicht weiter. Woher kommst du?“
„Ich komme aus dem Missbrauch meines Vaters, der mich als Kind verführt hat und habe Ängste und Schmerz erfahren, statt Liebe zu empfinden –ich hasse ihn!“
In ihren Augen waren Kummer und Schmerzen zu lesen und mir ging es nicht anders. Ich gab ihr meine Hand. „Wollen wir gemeinsam versuchen, einen Weg zu finden, der uns aus der Vergangenheit zu einem neuen Licht führen wird?“
Sie nickte nur schwach, doch ich sah es als Zustimmung an. Ich war genau so froh wie sie, nicht mehr allein zu gehen. Obwohl die Ungewissheit vorhanden war, wie es weiter gehen sollte und wo der Weg war, der uns die Freude und dass Licht zurück brachte.
Nun gingen wir zusammen weiter und wenn einer von uns Gefahr lief auszurutschen, half der andere weiter. Es war eine stumme Übereinkunft. Wir hatten uns gefunden, nach allem was trüb und dunkel auf uns lastete. Wir wollten uns beistehen und endlich zum Licht gelangen.
Unsicher ob wir es schaffen würden, waren wir noch immer. Doch wir wollten uns nicht erneut unterkriegen lassen, sondern wirklich Vertrauen darein setzen, zum Ziel zu gelangen. Wir waren schon einige Zeit unterwegs, als wir erneut vor einer Kreuzung standen.
Wir sahen uns an und wussten beide nicht was wir jetzt tun sollten. Ich fragte sie:
„Wohin willst du?“
„Ich weiß es nicht, aber ich will hier links abbiegen. Vielleicht finde ich hier allein zurecht?“
„Wollen wir es nicht gemeinsam versuchen? Ich möchte dich ungern allein lassen.“
„Ich werde es schaffen, denn bis hierher habe ich es auch geschafft.“
„Das letzte Stück haben wir gemeinsam bezwungen. Ich werde versuchen hier rechts lang zu gehen. Vielleicht treffen wir uns noch einmal?“
Etwas bange war mir. Warum konnten wir nicht vereint weitergehen? Hatte ich etwas falsch gemacht. Ihr vielleicht nicht genug Hilfe geschenkt? Wir waren uns näher gekommen auf dieser gemeinsamen Wanderung. Nun wollte sie es alleine versuchen? Sicher, bisher mussten wir oft allein gehen, weil es anders nicht möglich war. Vielleicht hatte ich zuviel von ihr verlangt? Fragen über Fragen.
Mit Tränen in den Augen verabschiedete ich mich. „Leb wohl!“ Vielleicht sehen wir uns wieder. Ich sah ihr noch lange nach, doch endlich raffte ich mich auf, den von mir gewählten Pfad zu gehen. Ich konnte sie nicht halten, sie hatte sich entschieden allein zu gehen und nicht mit mir.
Ihre Entscheidung musste ich akzeptieren, ob ich wollte oder nicht. Sorgen machte ich mir trotzdem. Denn es war nach wie vor nicht leicht, vorwärts zu kommen. Manchmal fiel ich hin oder stolperte über Wurzeln die ich vorher nicht gesehen hatte.
Wie lange sollte es so noch weitergehen? Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und ruhte aus. Zum Glück hatte ich mir genügend Proviant eingesteckt. Ich trank einen Schluck Kaffee und aß mein letztes Brot auf.
Es wurde langsam kühl, ich konnte hier nicht sitzen bleiben. Meine Kräfte wollte ich nicht zu sehr in Anspruch nehmen, sondern sie einteilen, dass ich nicht mehr so oft stolpern würde. Ich gab Obacht, wo es günstiger zu gehen war und ich spürte, wie ich weitaus schneller vorankam. Nach einem weiteren Schritt sah ich vor mir eine Hütte und wer saß auf der Bank? Meine Weggefährtin, die mich kurz zuvor verlassen hatte.
Sie lächelte mir zu und von neuer Hoffnung erfüllt ging ich weiter. Wir hatten uns wieder gefunden, obwohl sie einen anderen Weg gewählt hatte, als ich. Das Ziel hatten wir aber gemeinsam erreicht. Dankbar setzte ich mich zu ihr und erzählte von meinen Schwierigkeiten und wie ich es dann endlich geschafft hatte, nicht mehr so oft zu straucheln und zu fallen. Bei aller Schwierigkeit hatte ich es nicht aufgegeben, sondern versucht so zu gehen, damit ich nicht mehr abrutschte noch hinfiel.
Auch sie war froh, dass wir uns trotz verschiedener Wege uns wieder gefunden hatten. Es wäre vielleicht leichter gewesen, wenn wir gemeinsam weiter gegangen wären. Sie hatte aber die Hoffnung nicht aufgegeben, richtig gewählt zu haben. Sie wollte alles daransetzen, nicht mehr an den hinter ihr liegende Zeit zu denken. Sicher würden noch manche Enttäuschungen kommen, vielleicht sogar Tränen und Leid. Sie wussten aber beide, mit der Hilfe des anderen würden sie es gewiss schaffen!
Es hat uns eine Erfahrung reicher gemacht: trotz getrennter Wege, gemeinsam zum Ziel zu gelangen!

[c] Brian Channing


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Brian Channing).
Der Beitrag wurde von Brian Channing auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Brian Channing als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Geschnitzt, bemalt, bewegt: Mechanische Wunderwerke des sächsischen Universalgenies Elias Augst von Bernd Herrde



Eine in musealer Recherche und volkskundlicher Feldarbeit vom Autor erstellte und geschilderte Entdeckungsgeschichte eines sächsischen Universalgenies. Elias Augst (1775 - 1849) ein "Landbauer in Steinigtwolmsdorf", wie er sich selbst nannte, fertigte nicht nur ein mechanisches Figurentheater, "Das Leiden Christi" in sieben Abteilungen (Heute noch zu sehen im Museum für Sächsische Volkskunst in Dresden), sondern noch weitere mechanische biblischen Szenen, aber auch ein Planetarium, für welches er auf der Dresdner Industrie-Ausstellung 1825 vom König Friedrich August I. eine silberne Medaille zugesprochen bekam, versuchte sich mit Ölgemälden, baute Draisinen und machte Flugversuche...!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Romantisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Brian Channing

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der leer Vogelkäfig von Brian Channing (Sonstige)
Ein bisschen Liebe von Klaus-D. Heid (Romantisches)
eine platonische Liebe für die Ewigkeit... von Rüdiger Nazar (Freundschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen