Iris Kölbl

Erwartungsvolles Entsetzen

Es ist drei Uhr morgens und es hat sechs Grad. Wir haben Mitte April, dennoch wird es heute vielleicht sonnig. Ich stehe en einem Geländer, welches als Schutz vor einem Fall bewaren soll. Es geht dreißig Meter hinunter, bis der asphaltierte Parkplatz beginnt.

Der Turm, auf welchem ich stehe, gehört zum Parkplatz dazu. Er befindet sich gegenüber von einem alten Einkaufszentrum. Schon seit fast vier Jahren steht es leer. Viele Leute haben ihren Job verloren, als es geschlossen wurde. Darauf folgten fünf Selbstmorde. Aber aus diesem Grund stehe ich nicht hier. Ich warte einfach nur.

Der Wind weht durch das Parkhaus und es hört sich an, als ob jemand flüstert. Das Flüstern versteht man aber nicht. Es könnte aber klingen wie ein Hilferuf. Ein Hilferuf den keiner wirklich war nimmt, da er nicht echt ist. Es ist nur der Wind.

Der Wind wird stärker, die Luft kälter. Ich ziehe den Zipp meiner Jacke bis ganz nach oben, sodass mein Mund verdeckt ist. Das Band, welches am Zipp befestigt ist, nehme ich in den Mund. Das ist eine Angewohnheit, die ich schon habe, seit ich klein war. Die anderen Kinder lachten mich deswegen immer aus, das war mir aber egal. Damals, sowie auch heute, hatte ich nie Freunde, denn ich wurde wegen meiner Art als verrückt abgestempelt. Ich bin aber nicht verrückt, höchstens ein bisschen eigenartig, aber nicht verrückt. Nein.

Da fällt mir ein, dass irgendein Mensch mal gesagt hat „Ich weiß nicht ob ich verrückt bin, oder es alle anderen sind." Dieses Zitat gefällt mir. Es klingt auf eine seltsame Weise elegant.

Mittlerweile ist es sechs Uhr und die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die vielen Wolken am Horizont. Es ist auch nicht mehr so kalt wie vorher. Ich mache meine Jacke auf und ziehe sie schließlich ganz aus. Dann lege ich sie auf den Boden und setze mich darauf. Der Boden ist kalt. So kalt, dass ich am liebsten wieder aufstehen möchte, wenn mir meine Beine nur nicht so wehtun würden. Den ganzen Weg von zu Hause bis hier bin ich zu Fuß gegangen. Das sind knapp acht Kilometer. Also bleibe ich sitzen und betrachte den schönen Sonnenaufgang.

Ganz weit hinten, sehe ich ein paar Autos auf der Landstraße vorbei sausen. Ich wäre auch gern mit dem Auto unterwegs, aber mein Bruder hat es vorgestern kaputt gemacht. Also nicht nur ein paar Kratzer, sondern ein Totalschaden.

Mein Bruder hat den Wagen erst vorgestern zu seinem 19. Geburtstag bekommen. Das war aber irgendwie klar, er macht alles kaputt.

Obwohl wir nur zwei Jahre auseinander sind, was das Alter betrifft und wir die gleichen Eltern haben, sehen wir uns kein bisschen ähnlich. Er hat braune Haare, grüne Augen, ist sehr muskulös und sportlich. Ich hingegen habe pechschwarze Haare, blau-graue Augen und bin überhaupt nicht muskulös, obwohl ich jeden Tag joggen gehe. Noch dazu bin ich total blass, was mich wie eine Leiche aussehen lässt.

Er ist auch einer der beliebtesten Jungs an unserer Schule. Jedes Mädchen möchte mit ihm zusammen sein. Nicht nur weil er gut aussieht, sondern weil er auch verdammt nett ist. Aber wirklich so verdammt nett, dass man ihm für sein verdammt nettes Lächeln am liebsten in sein verdammt nettes Gesicht schlagen würde. Eifersüchtig war ich jedoch nie auf ihn.

Unsere Eltern sehen ihm sehr ähnlich. Mein Bruder hat den Körper unseres Dad's und das Aussehen unserer Mom. Ich dagegen sehe aus wie unser Hund. Der hat schwarzes Fell und blaue Augen.

 

Ich stehe auf und strecke mich. Endlich kann ich wieder meine Beine spüren. Ein tolles Gefühl. Inzwischen ist es acht Uhr. Die Zeit vergeht wie ihm Flug, obwohl das nicht ganz stimmt. Denn laut Albert Einstein ist Zeit relativ. Also vergeht sie für mich schnell, aber für andere vielleicht in einer anderen Geschwindigkeit.

Ich hebe meine Jacke vom Boden auf, staube sie ab und ziehe sie mir an. Dann klettere ich über die verrostete Leiter über die ich gekommen bin, wieder hinunter. Unten angekommen stecke ich meine Hände in die Hosentaschen und gehe los. Aber nicht nach Hause. Noch nicht. Denn ich habe noch etwas zu erledigen, also gehe ich in Richtung des verlassenen Einkaufszentrums.

Es ist dreckig und die Wände sind teilweise sogar kahl. Auf anderen Wänden sind Graffitis, aber keine guten, sondern echt schlechte. Selbst ich könnte das besser, obwohl ich kein Händchen für kreatives habe. Ich gehe weiter in den zweiten Stock. Rechts ist der Eingang in ein Geschäft was einmal „Books for you" hieß. Ich betrete den Laden. Fast alle Bücher sind weg, außer ein paar, die auf den Boden liegen. Auf ein Regal in dem noch ein Buch liegt gehe ich zu. Ich nehme es in die Hand. Das ist es. Das Buch, welches meinem Bruder gehört.

Es gehört ihm nicht wirklich, aber als wir noch kleiner waren und das Einkaufszentrum noch belebt war, sind wir hier oft mit unseren Eltern hingegangen um Kinderbücher zu kaufen. Ein Buch hat mein Bruder immer gelesen. Er sagte mir erst vorgestern, dass ich nach sehen soll, ob es noch da ist und es dann mitnehmen soll. Er sagte auch, dass ich es an einem Ort lesen soll, an dem ich mich frei fühle. So wie ich, weiß auch er, dass dieser Ort auf dem Turm des Parkhauses ist, also mache ich mich wieder auf den Weg zurück zum Turm.

Der Wind wird wieder etwas stärker und kälter, aber ich werde das Buch nur auf dem Turm lesen und sonst nirgends. Also steige ich die Leiter hinauf und setze mich oben angekommen auf den kalten Boden. Es ist mir dieses Mal egal wie kalt und unangenehm der Boden ist.

Ich atme tief ein und wieder aus. Das wiederhole ich drei Mal ehe ich das Buch aufschlage.

Es fehlt keine einzige Seite, was schon fast unheimlich ist, wenn man bedenkt, wie lange das Buch schon dort liegen muss. Ich blättre das alte Kinderbuch durch und sehe mir an, was die Bilder für eine Geschichte erzählen.

Es geht um einen kleinen Affen der von seiner Familie ausgeschlossen wird, weil er im Gegensatz zu ihnen weiß ist und nicht braun. Also verlässt der kleine Affe die Familie und wandert durch den Dschungel. Auf seiner Reise findet er viele Freunde, die so wie er ausgeschlossen wurden. Ein Elefant der nur einen Stoßzahn hat, ein Panther mit einer weißen Schwanzspitze und ein Papagei der nicht fliegen kann. Zusammen erleben die vier tolle Abenteuer und kommen letztendlich an einem Ort an der für sie wie das Paradies erscheint. Sie leben von nun an dort und sind glücklich, dass sie so sind wie sie sind, denn das macht sie aus.

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass diese Geschichte extrem süß ist, obwohl sie für mein alter zu kindisch sein sollte.

 

Als ich die letzte Seite aufschlage, stehen dort die Worte:

„Hallo Tobi,

ich danke dir, dass du das Buch genommen hast. Es war mein größter Wunsch, dass du es an dich nimmst. Wahrscheinlich fragst du dich, wieso ich dich gebeten habe, dass du es bekommst, ganz einfach, weil du mein geliebter Bruder bist. Ich weiß, dass du das Buch jetzt brauchst in der schweren Zeit die dir bevorsteht. Als ich traurig war, habe ich es immer gelesen. Nun gehört es dir und du kannst es wann immer du willst lesen, wenn es dir schlecht geht, oder du dich alleine fühlst.

Es tut mir leid, dass ich es dir nicht persönlich geben konnte, aber ich hoffe du bist mir deswegen nicht allzu böse.

Als mein 19. Geburtstag war, habe ich dir in die Augen geschaut und gewusst, dass du merkst, dass etwas nicht stimmt. Tut mir leid, dass ich es dir nicht erzählt habe, aber ich wollte es so. Der Autounfall war beabsichtigt, wie dir die Polizei wahrscheinlich gesagt hat. Ich war weder alkoholisiert noch war es das Glatteis. Ich war es. Ich habe da Auto von der Brücke gelenkt.

Es tut mir so leid, dass ich dich dort unten, auf dieser verkorksten Welt zurück lasse, aber ich wusste keinen Ausweg. Das was mich dazu verleitet hat, so etwas zu tun, waren die Stimmen in meinem Kopf. Manchmal sind sie laut und manchmal sind sie leise, aber sie waren schon immer da. Ich konnte es weder dir noch Mom oder Dad erzählen, weil ich wusste, dass sie mich wegschicken werden und ich konnte dich einfach nicht alleine lassen. Immerhin bist du mein kleines Brüderchen.

Also war mein einziger Ausweg, etwas zu tun, das mich in den Himmel schickt. Dich dafür zurück zu lassen war der große Preis den ich dafür bezahlen musste. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten und ich weiß, dass du es verstehst.

Vergil sagte einst „Jedem ist seine Zeit zugewiesen." Meine war einfach schon zu Ende.

Bruderherz, ich liebe dich mehr als alle anderen Menschen auf dem ganzen scheiß Planeten. Du bist das wichtigste für mich und ich will, dass du mich nie vergisst.

Wir werden uns irgendwann wieder sehen, aber wehe du kommst früher, dann werde ich dich sowas von zusammen schlagen! Also lass dir Zeit, genieße dein Leben. Ich werde von oben auf dich achtgeben.

Hab' dich lieb Brüderchen.

Dein Charlie

In Tränen sitze ich vor dem Buch, dennoch muss ich lächeln. Ich stehe auf und schaue in den Himmel.

Und so laut ich nur kann, schreie ich mit meiner ganzen Kraft:

„Ich werde nachkommen! Wird zwar etwas dauern, aber ich komme du Pisser! Und ich freue mich jetzt schon wenn ich dein verdammt nettes Lächeln in deinem verdammt netten Gesicht wieder sehen kann! Warte nur ab Bruder! Warte nur ab Charlie!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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