Christiane Mielck-Retzdorff

Ein märchenhaftes Weihnachtsgeschenk



 
Luca war an seinem letzten Schultag vor den Weihnachtsferien auf dem Heimweg. Immer wenn ein Fahrradfahrer ihn überholte, dachte er daran, dass er nun in der vierten Klasse der Grundschule auch ohne Begleitung der Eltern zur Schule radeln durfte. Deswegen wünschte er sich auch nichts sehnlicher zu Weihnachten als ein eigenes Fahrrad.
 
vier tristen Hochhaustürme tauchten vor ihm auf. Dort wohnte er mit seinen Eltern und der zweijährigen Schwester, mit der er sich ein Zimmer teilen musste. Diese Blöcke waren sozialer Wohnungsbau und ausschließlich von Leuten besiedelt, die ein geringes Einkommen hatten. So reichte auch in seiner Familie das Geld hinten und vorne nicht. Lucas Vater war Gabelstapler-Fahrer in einem Lager und die Mutter putzte nachts zwei Arztpraxen, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Dieses war mit der Geburt seiner Schwester noch knapper geworden.
 
Voller Neid blickte er seit Monaten auf die Fahrräder seiner Klassenkameraden. Etliche fuhren schon moderne Mountainbikes, mit denen sie sogar einige Kunststücke vorführten. Auch trafen sie sich in einem nahen Wäldchen und probieren ihre Fähigkeiten bei rasanten Fahrten zwischen den Bäumen. Gern hätte Luca dieses Vergnügen mit ihnen geteilt, aber er war bereits als armer Looser abgestempelt.
 
Vermutlich erfüllten die Eltern seinen Weihnachtswunsch, doch würden wohl ein irgendwann einfach weggeworfenes Fahrrad im Fundbüro ersteigern. Und da sie kein Geld hatten, erwartete er nur eine alte Krücke. Dann würde er zwar endlich zur Schule radeln können, aber das Gespött seiner Schulkameraden ertragen müssen.
 
Gerade vor der Haustür angekommen, sah er, wie ein kleiner Vogel gegen die Scheibe eines Küchenfensters im Erdgeschoss flog. Er prallte ab und landete auf einer mit Raureif überzogenen Rasenfläche. Dort hockte er mit leicht offenem Schnabel und etwas  gespreizten Flügeln. Zwar gab der Kleine noch Lebenszeichen von sich, aber wenn er sich nicht bald in die Lüfte erhob, wurde er auf dem gefrorenen Boden erfrieren.
 
Luca hob ihn ganz vorsichtig auf und versuchte ihn mit seinen Händen zu wärmen. Der Vogel zeigte keine Reaktionen, aber seine Augen waren geöffnet. Der Junge stand da und wusste nicht, was er machen sollte. Vielleicht sollte er das Tierchen mit hinauf in die warme Wohnung nehmen. Doch was würde passieren, wenn er begann, dort herumzufliegen, vielleicht versuchte, durch eine geschlossene Scheibe in die Freiheit zu gelangen und sich endgültig das Genick brach. Hilflos schaute Luca sich um.
 
Da sah er eine alte Frau auf sich zukommen, von der er wusste, dass sie auch in einem der Hochhäuser wohnte. Sie ging gebückt auf einen Stock gestützt. Ihr weißes langes Haar war zu einem Zopf geflochten, der am Hinterkopf zu einer Schnecke zusammengesteckt war. Sie trug einen knöchellangen, schäbigen Woll-Rock und eine nicht ganz saubere Jacke. Luca erschien diese Frau schon immer wie die böse Hexe, die er einst im Weihnachtsmärchen „Hänsel und Gretel“ gesehen hatte. Ihre Erscheinung gruselte ihn. Am liebsten wäre er ins Haus gerannt, aber dazu müsste er den Schlüssel bedienen und in seinen Händen ruhte noch immer der kleine Vogel.
 
„Wie lieb von Dir, den kleinen Vogel aufzuheben und mit deinen Händen zu wärmen.“, sprach die Frau ihn an. „Es ist ein Wintergoldhähnchen. Das erkennt man an dem gelben Strich auf dem Kopf. Magst Du ihn mir geben?“
 
Da der Junge nicht wusste, was er mit dem Kleinen anfangen sollte, war er froh über dieses Angebot. Zaghaft streckte er seine Hände nach vorn und die Alte nahm vorsichtig den Vogel. Dabei sah Luca ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Diese waren von einem beinahe unwirklichen Stahlblau und strahlten in einer Klarheit, die er nicht erwartet hatte. Trotzdem blieb die Frau ihm unheimlich. Schnell öffnete er die Haustür und huschte hinein. Aber die Neugierde trieb ihn, sich umzuschauen. Durch die Scheibe der Tür konnte er sehen, wie die Alte den Vogel leicht in die Höhe hielt und ihn zärtlich anpustete. Wenige Sekunden später flatterte dieser davon.
 
 
Es war Heiligabend und die Familie versammelte sich wie immer um den sorgfältig geschmückten und mit elektrischen Kerzen erleuchteten Weihnachtsbaum aus Plastik, worunter drei Pakete ruhten. Doch Luka hatte sofort etwas neben dem Baum bemerkt, das mit einer roten Wolldecke verhüllt war und die Umrisse eines Fahrrads zeigte. Zuerst durfte seine kleine Schwester das Papier zerreißen und freute sich über eine neue Puppe. Dann heuchelte die Mutter Überraschung über ein Fläschchen von ihrem Lieblingsparfüm.
 
Nun war Luka an der Reihe. Die Eltern stellten sich rechts und links hinter das verhüllte Objekt. Ihre Mienen wirkten etwas unsicher. Dann griffen sie gleichzeitig nach der Wolldecke, zogen sie hoch und warfen sie in eine Ecke. Der Junge konnte nicht glauben, was er dort sah. Es war ein funkelnagelneues Mountainbike mit allem, was die Verkehrssicherheit forderte. Sogar eine Gangschaltung konnte er am Lenker erspähen. Es musste ein Vermögen gekostet haben. Sein Gesicht strahlte vor Freude.
 
Erleichtert warfen auch die Eltern einen Blick auf ihr Geschenk und erstarrten in fassungslosem  Erstaunen, was ihr Sohn aber nicht bemerkte, da er vollkommen in das Bild seines Fahrrads versunken war. Fragende Blicke glitten zwischen beiden hin und her, die jeweils nur mit einem Achselzucken beantwortet wurden.
 
 
Da Luka sein Mountainbike in der engen Wohnung nicht ausprobieren durfte, musste er sich bis zum nächsten Tag gedulden. Schon sehr früh morgens schleppte er sein neues Fahrrad die Treppen hinunter. Auf dem Parkplatz vor den Hochhäusern drehte er seine ersten Runden. Schon der Lenker und der Sattel waren genau auf seine Größe eingestellt. Er fühlte sich frei wie ein Vogel und richtig erwachsen.
 
Obwohl es seine Eltern verboten hatte, radelte Luka am Nachmittag des ersten Weihnachtstags zu dem nahen Wald. Kurz vor den ersten Bäumen traf er die alte Frau, die ihn sogleich ansprach, weswegen er höflich anhielt.
 
„Frohe Weihnachten, Luka.“, grüßte sie ihn. „Da hat der Weihnachtsmann Dir aber ein schönes Fahrrad geschenkt.“
 
„Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann!“, empörte sich der Junge. „Das ist doch ein Märchen für kleine Kinder.“
 
Die Alte lächelte milde und ging auf ihren Stock gestützt davon. Das eisig kalte, trübe Wetter lud nicht zu Spaziergängen ein, weswegen Luka allein im Wald war. Übermütig testete er die Geländetauglichkeit seines Mountainbikes und war mehr als zufrieden. Nun konnte er mit seinen Klassenkameraden mithalten. Dabei betätigte er immer wieder die Fahrradklingel, deren Töne wie ein Windspiel zwischen den Bäumen tanzten.
 
 
Am zweiten Weihnachtstag erlaubte die Mutter nicht mehr, dass das Mountainbike weiter Platz in der kleinen Wohnung einnahm und forderte Luka auf, dieses nach seiner Tour im Fahrradkeller unterzubringen. Den Bedenken des Jungen, dort könnte es trotz des modernen Fahrradschlosses gestohlen werden, begegnete sie mit Unverständnis.
 
Als sich Luka gerade anschickte, sein Kleinod die Treppe hinunter in den Keller zu schleppen, stand plötzlich die alte Frau neben ihm.
 
„Mach Dir keine Sorgen. Niemand kann Dir jemals dieses Fahrrad wegnehmen.“
 
Dann war sie wie durch einen Zauber wieder verschwunden. Verwirrt schaute der Junge durch die Scheibe der Haustür nach draußen. Kein Mensch war zu sehen. Aber flog dort nicht gerade ein Wintergoldhähnchen vorbei?
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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