Christiane Mielck-Retzdorff

Mut zur Lücke



 
Es war Heiligabend. Wie jedes Jahr wurde dieses Ereignis bei Danas Eltern im Kreise der Familie mit einem opulenten Mahl gefeiert. Der Lebensgefährte der 20jährigen Frau war ebenfalls eingeladen. Außerdem sah sie ihre Schwester und ihren Bruder wieder, zu denen sie sonst wenig Kontakt hatte, denn Dana war viel auf Reisen.

Schon als Teenager wurde sie in einer Disco von einem Fotografen entdeckt und arbeitete bald als international erfolgreiches Fotomodell. Ihr Partner Peter war nur wenige Jahre älter als sie und verdiente viel Geld als Anlageberater. Danas Eltern waren froh, dass wenigstens ihre Jüngste einen angemessenen Mann gefunden hatte.

Die Villa war festlich geschmückt und die Gäste fanden sich im Esszimmer ein. Danas Schwester war anzusehen, dass sie bald einem Kind das Leben schenken würde. Wer der Vater war, wusste sie allerdings nicht. So hatten die Eltern auch dringend zu einer Abtreibung geraten, doch die Diskussion darüber dauerte so lange, bis der letzte Termin für den Eingriff verstrichen war. Nun musste die werdende Mutter mitleidige bis abfällige Blicke ertragen.

Danas Bruder kam wie immer zu spät und war schon reichlich angetrunken. Aber alle bemühten sich die Alkoholfahne und seine schwankenden Bewegungen zu ignorieren. Zum  Fest der Liebe wollten sie eine glückliche Familie spielen.

Bei Tisch wurden allgemein gehaltene, oberflächliche Gespräche geführt, die niemanden in Verlegenheit brachten. Nur der Sohn streute gelegentlich unflätige Kommentare ein, die geflissentlich überhört wurden. Peter und der Hausherr unterhielten sich angeregt über das ernste Thema der Geldvermehrung.

Das Paar war froh, als sie diese Veranstaltung mit Anstand hinter sich gebracht hatten und den Rest des Tages in ihrer Luxuswohnung mit Blick auf den Hamburger Hafen genießen durften. Pflichtgemäß rief Peter seine Eltern an, die in einem Dorf in Sachsen wohnten. Er sah sie selten, denn er erinnerte sich ungern an seine Jugend in Armut. Diese Menschen passten nicht in das Leben eines auf dem Finanzmarkt äußerst erfolgreichen Mannes.

Beide gingen noch vor Mitternacht ins Bett, denn der 1.Weihnachtstag war angefüllt mit Terminen. Vormittags wurden sie auf einem Empfang in der Handelskammer erwartet. Das Mittagessen wollten sie dann mit Vertretern der Presse einnehmen. Nachmittags folgte eine Veranstaltung eines Modekonzerns und abends waren sie zu einer Opernprämiere geladen.

Nachts um halb Vier erwachte Dana plötzlich, weil sie etwas Hartes in ihrem Mund spürte. Um Peter nicht zu wecken, schlich sie ins Badezimmer und stellte mit Entsetzen fest, dass ihr ein Vorderzahn abgebrochen war. Es klaffte eine große Lücke in ihrem ansonsten makellosen Gebiss. Aber so durfte kein Fotomodell aussehen. Dana fühlte sich unwürdig entstellt.

Mit einer erst heißen, dann kalten Mundspülung fand sie heraus, dass ihr kaum über dem Zahnfleisch sichtbarer Stumpf nicht wehtat. Das ließ die Vermutung zu, dass der Nerv des Zahns tot war. Wenigstens hatte Dana keine Schmerzen. So erleichtert, betrachtete sie erneut ihr Spiegelbild und musste plötzlich lachen, was die Lücke besonders deutlich sichtbar machte. Sie sah aus wie eine Hexe aus den Märchen. Der Anblick amüsierte sie.

Wieder im Bett dachte sie darüber nach, was sie veranlassen musste, um wieder in gewohnter Schönheit zu erstrahlen. Ihr Zahnarzt, dem sie vertraute, war bestimmt im Urlaub, denn es war ja Weihnachten. Also konnte sie sich nur einem Notdienst anvertrauen. Doch dort arbeiteten vermutlich nur unerfahrene Ärzte. Danas Gesicht gehörte zu ihrem Kapital. Da durften sich keine Kurpfuscher dran versuchen.

Sie erwachte schon früh und als sie erneut im Badezimmer ihr Antlitz mit Zahnlücke im Spiegel sah, musste sie wieder lachen. Der Anblick war so ungewohnt. Er stand in krassem Widerspruch zum dem Bild, das sie selbst und die Öffentlichkeit von ihr hatten. Dana schloss den Mund und stellte fest, dass sie nun aussah wie immer. Sie war ohnehin selten lachend auf Fotos zu sehen. Aber ihre innere Heiterkeit machte die Lücke gleich wieder sichtbar. Unbeobachtet kicherte sie fröhlich vor sich hin.

Als Peter die Entstellung seiner Freundin sah, war er entsetzt. Ihr Gebiss musste unbedingt sofort wieder in Ordnung gebracht werden. Hastig suchte er die Telefonnummern von zahnärztlichen Notdiensten heraus. Doch Dana bat ihn, Ruhe zu bewahren. Immerhin hatte sie keine Schmerzen und auch keine lebensbedrohliche, ansteckende Krankheit. Ihr fehlte nur ein Zahn.

Aber so durfte sie sich doch nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Ein Foto in der Presse könnte ihre gesamte Karriere ruinieren. Warum war sie nicht verzweifelt, sondern lachte auch noch dauernd? Auf keinen Fall durfte sie die anstehenden Termine wahrnehmen. Peter würde sie schon irgendwie entschuldigen. Niemand durfte das bekannte Fotomodell so sehen.

Peter musste sich sputen, um pünktlich zu der ersten Veranstaltung zu erscheinen. Er legte Dana die Telefonnummern für die Notdienst auf den Tisch, riet ihr ein Taxi zu beauftragen, sie in der Tiefgarage abzuholen und verbot ihr das Lachen. Flüchtig nahm er sie noch in den Arm, küsste sie auf die Wange und sagte, dass sie sich nicht beunruhigen sollte. Schon bald wäre sie wieder intakt. Dann verließ er beinahe fluchtartig die Wohnung.

Wieder stellte sich Dana vor einen Spiegel und lachte ausgelassen. Ihr war noch gar nicht bewusst gewesen, wie oft sie eigentlich lachte. Nun, da sie es vermeiden sollte, drängte sich der Frohsinn geradezu auf. Erst Mitte Januar hatte sie den nächsten Fototermin. Es war also keine Eile geboten.

Sie frühstückte allein und stellte fest, dass sie auch dabei keine Beeinträchtigung spürte. Sie konnte wie gewohnt in das Brot beißen und selbst härtere Nahrung zerkauen. Wenn sie nicht in den Spiegel schaute, war eigentlich alles wie immer.

Nun hatte sie einen ganzen Tag frei und wusste nicht so recht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Da besann sie sich auf eine alte Schulfreundin, die in Frankfurt/Oder studierte, aber Weihnachten immer bei ihren Eltern in Hamburg verbrachte. Sie hatten sich lange nicht mehr gesprochen oder gesehen, denn ihr Leben verlief zu unterschiedlich. Aber nun wollte Dana versuchen, Sibylle telefonisch zu erreichen.

Das gelang auf Anhieb und schon wenig später klingelte die Freundin an der Tür. Sibylles Äußeres unterschied sich wesentlich von dem des Fotomodells. Sie war pummelig, hatte ein Pfannkuchen Gesicht, dünne Haare, kleine, eng zusammenstehende Augen und schmale Lippen. Doch sie war sehr klug und hatte Dana während der Schulzeit oft geholfen. Und dass sie ihre Herzlichkeit nicht verloren hatte, zeigte sie gleich bei der Begrüßung.

Die Zahnlücke war nur kurz ein Thema, denn die beiden Frauen hatten sich viel zu erzählen. Dabei tranken sie Champagner und lachten viel. Sibylle sprach über Anekdoten aus ihrem Alltag als Studentin, die vergnügten Partys, leidenschaftliche Diskussionen über Politik, gesellschaftliche Themen und Kunst. Dana fand ihr eigenes Leben plötzlich langweilig. Wen interessierten schon die anspruchsvollen Posen bei einem Fotoshooting, die immer gleichen Luxushotels, der Kampf gegen den Jetlag oder die ermüdenden Vorstellungsgespräche?

Schließlich fragte Sibylle ihre Freundin, ob sie sie nicht zu einer Musikveranstaltung begleiten wollte. Sie fand in einer ehemaligen Industriehallte im Hafen statt, wo unbekannte Künstler zwanglos ihre Musik vorstellten. Gut gelaunt stimmte Dana zu. Mit dem altersschwachen Auto ihrer Freundin landeten sie wohlbehalten in einem trostlosen und menschenleeren Teil des Hamburger Hafens. Nur die Anzahl der geparkten Wagen deutete darauf hin, dass noch andere Besucher sich dorthin verirrt hatten.

Dana hatte sich bewusst wenig chic angezogen, um neben Sibylle nicht aufzufallen. Kaum hatten sie die alte Industriehalle erreicht, konnten sie die ersten Klänge der Musik hören. Außer der Bühne war der Raum nur spärlich beleuchtet. Gleich beim Eintritt wurde Sibylle freudig begrüßt und die beiden Frauen wurden Teil einer bunten Gemeinschaft. Dana vergaß ihre Zahnlücke, denn niemand zeigte sich erstaunt bei ihrem Anblick, wenn sie lachte.

Irgendjemand drücke ihr eine Flasche Bier in die Hand. Ein anderer bot ihr eine Zigarette an, die sie dankend annahm, obwohl sie das Rauchen schon lange aufgegeben hatte. Dana fühlte sich wie in einer fremden Welt, in der die Schönheit keine Rolle zu spielen schien. Sie wurde eingehüllt von der guten Laune und dem Rhythmus der Musik.

Plötzlich trat ein außergewöhnlich gut aussehender Mann zu den beiden Frauen, zog Sibylle in seine Arme und küsste sie auf den Mund. Diese stellte ihn als ihren Freund Mark vor. Dana hatte, oft umgeben von männlichen Models, selten jemanden gesehen, der so gut in den Job gepasst hätte. Doch Mark war ein Student der Politikwissenschaften. In Frankfurt an der Oder lebte er in einer Wohngemeinschaft mit Sibylle zusammen.

Dann erschien ein Freund von ihm und bat, Dana fotografieren zu dürfen. Er hatte sie offensichtlich als berühmtes Fotomodell erkannt. Sie erfuhr, dass der Mann namens Lukas  selbständig als Fotograf arbeitete, dabei aber stets um sein finanzielles Überleben kämpfen musste. Dana gewährte ihm die Gunst und zeigte sich ihm lachend mit Zahnlücke. Amüsiert drücke Lukas auf den Auslöser. Doch dann fragte er etwas verschämt, ob er dieses ungewöhnliche Foto auch einer Zeitschrift anbieten dürfte. Mit einem breiten Grinsen stimmte Dana zu.

Die Zeit verging wie im Fluge und Sibylle bot ihrer Freundin an, die Nacht in ihrem Elternhaus zu verbringen. Das war nach Feiern eine alte Gewohnheit aus ihrer Jugendzeit. Dana nahm den Vorschlag freudig an. Schnell schickte sie diese Information per SMS an ihren Lebensgefährten Peter. Der äußerte kein Erstaunen, sondern schien sogar froh zu sein, sich dem Anblick seiner Partnerin nicht stellen zu müssen.
 
Am nächsten Morgen verwöhnte Sibylles Mutter die beiden Frauen mit einem köstlichen Frühstück. Schon bald rief Mark an. Was er zu erzählen hatte, erstaunte und amüsierte seine Freundin gleichermaßen, was Dana in deren Miene lesen konnte. Als das Gespräch beendet war, fragte sie neugierig nach. Lukas, der um jeden Cent kämpfen musste, hatte das Foto mit der Zahnlücke noch in derselben Nacht per Mail an eine Zeitschrift gesendet, mit der er gelegentlich zusammenarbeitete. Der zuständige Redakteur hatte ihn gleich morgens angerufen und auf das Übelste beschimpft. Es wäre ja wohl eine Frechheit, sich Aufmerksamkeit verschaffen zu wollen, in dem man ein Foto so retuschierte, dass eine der schönsten Frauen Deutschlands aufs Widerlichste entstellte wurde.

Der Fotograf erklärte zwar, dass er nichts verändert hatte, fand aber kein Gehör. Stattdessen wurde er angeschrien, dass die Zeitschrift mit so einem hinterhältigen Lügner nicht mehr zusammenarbeiten wollte.

Nun war Dana betroffen und amüsiert zugleich. Natürlich tat ihr Lukas leid. Doch mit der Reaktion des Redakteurs hatte die Welt der Schönheit ihre Verlogenheit bewiesen. Aber sie war ein Teil davon. So heiter sie sich in der ungezwungenen Atmosphäre der Musikveranstaltung gefühlt hatte, so bewusster wurde ihr jetzt, dass es ihre Pflicht war, die Rolle der makellosen Schönen weiter zu spielen. Zu vergänglich war ihr Kapital. Sie musste die Erwartungen der Branche erfüllen, solange man sie noch sehen wollte.

Dana verabschiedete sich, nicht ohne ihrer Freundin für den wunderbaren Abend und ihren Beistand zu danken. Noch im Taxi wählte sie die Telefonnummer des Notdienstes einer renommierten Zahnklinik. Als sie ihren Namen nannte, bekam sie sofort einen Termin.

Als sie durch ein Provisorium notdürftig geflickt wieder ihre Wohnung erreichte, war Peter abwesend. Natürlich hatte sie ihn informiert, dass sie eine Klinik aufsuchte. Darüber war er sehr erfreut, musste aber erst noch einige Termine wahrnehmen. Dann wollten sie einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher verbringen.

Ihr Spiegelbild zeigte Dana, dass sie sich schon unter Leute trauen durfte. In wenigen Tagen würde sie sogar wieder eine perfekte Schönheit sein. Versonnen schaute sie aus dem Fenster auf den Hafen. Dort zogen Schiffe ihre Bahnen. Ihr war bewusst, dass sie zu feige war, ihr nur dem Schein dienendes Leben zu ändern. Das Gewohnte hatte etwas Beruhigendes.
 
  
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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