Christiane Mielck-Retzdorff

Der Klang der Seefahrt



 
Myriaden von Sternen blitzten am wolkenlosen Nachthimmel, während der laue Wind genügend Kraft zeigte, um die Segel zu blähen, und das Schiff stetig vorwärtstrieb. Die See war ruhig. Dem wachhabenden Matrosen drang diese Idylle nicht ins Bewusstsein. Er wartete ungeduldig auf das Zeichen, das ihm erlaubte, sich endlich schlafenzulegen. Dann erklangen die acht Glockenschläge, die den Wachwechsel einläuteten.
 
Lena erwachte in ihrem durch die zugezogenen Vorhänge stockfinsteren Zimmer. Sie wusste nicht, wie spät es war. Lohnte es sich noch, wieder in Morpheus Arme zu sinken oder würde der Wecker gleich klingeln. Dann hörte sie die Glasen-Uhr. Diese gab aus der Ferne drei kurze und drei längere Töne von sich. Der Teenager überlegte kurz. Es musste 3 Uhr nachts sein, also durfte sie sich noch ihren Träumen hingeben.
Ihrem Vater, der bereits verstorben war, hatte die Familie diesen besonderen Zeitmesser zu verdanken. Zwar war er nie zur See gefahren, doch fühle sich irgendwie verbunden mit jenen mutigen Männern, die einst über die Meere zu neuen Ufern aufgebrochen waren. Und er hatte seiner Tochter erklärt, welchen Regeln eine Glasen-Uhr folgte.
Auf dieser konnte jeder die Zeit ablesen, wie auf anderen Uhren auch. Der Unterschied bestand darin, dass ihr Läuten selten die Stunde wiedergab, sondern jene Leute ersetzte, die einst per Hand die Schiffsglocke im Takt schlugen, um die Zeit bis zum Wachwechsel kundzutun. Dieser erfolgte jeweils nach vier Stunden. Das Zählen begann um Mitternacht. Eine halbe Stunde später erklang der erste kurze Ton. Zur vollen Stunde wurde der Klöppel kurz an die eine Seite der Glocke geschlagen und dann lauter an die andere. Nach vier Stunden erfolgten also stets acht Schläge, auch um 12 Uhr mittags.
 
Mittlerweile war Lena erwachsen und hatte selbst Kinder. Nach dem Tod ihrer Mutter erbte sie die besondere Uhr, weil ihr Bruder kein Interesse an dem unzeitgemäßen Zeitmesser  hatte. Zwar konnte auch ihre Familie wenig mit der Glasen-Uhr anfangen, doch respektierten diese als Vermächtnis des Vaters.
Wenn Lena nun nachts erwachte, erinnerte sie das Warten auf die Klänge der Uhr stets an ihre Jugend. Um dann die Uhrzeit zu erkennen, musste sie nicht nur lauschen und rechnen, sondern auch auf die, durch das offene Fenster dringenden Geräusche in der Umgebung achten, denn das achtmalige Schlagen der Uhr konnte bedeuten, dass es Mitternacht oder 4 Uhr morgens ist. Zwitscherten schon die ersten Vögel? Wie viele vorbeifahrende Autos waren zu hören? Meistens schlief sie bei diesen Überlegungen wieder ein, bis schließlich der Wecker klingelte.
Doch manchmal schweiften ihre Gedanken zu den Seefahrern, die in der Einsamkeit der Ozeane ihre Arbeit verrichteten. Harte Kerle, die oft ihr Leben aufs Spiel setzten, um durch die Welt zu streifen. Ihnen waren die Freiheit, das Abenteuer und das stets Neue wichtiger als ein gemütliches Heim. Dann führte das Glasen der Uhr Lena in eine fremde Welt, die in Zeiten der Digitalisierung Geschichte war. Sie meinte, das Plätschern der Wellen am Schiffsrumpf zu hören, spürte die landlose Weite, roch die würzige Seeluft. Und sie fühlte sich ihrem Vater nah, der schon lange in der Unendlichkeit des Universums segelte.  
 

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