Christiane Mielck-Retzdorff

Der verlorene Ohrring



 
Seit beinahe 20 Jahren waren Beate und Frank verheiratet und empfanden ihre Beziehung als glücklich. Vertrautheit und Gleichklang gaben ihnen Sicherheit. Aus dem gewohnten  Alltag war eine Zufriedenheit gewachsen, die die Grundlage für ihre Liebe war.
Dass so eine beständige Ehe keine Selbstverständlichkeit war, mussten beide schon als Jugendliche bei den Scheidungen ihrer Eltern erfahren. Auch in ihrem Bekanntenkreis gehörten Trennungen zur Normalität. Die damit verbundenen Probleme und Kümmernisse drangen in ihre Ohren und machten ihnen das eigene Glück bewusst. 
Es war nie heiße Leidenschaft gewesen, durch die sich das Paar zueinander hingezogen fühlte. Einst wurde der gutaussehende junge Mann auf die ebenfalls sehr anziehende, junge  Frau auf einer Party von gemeinsamen Freunden aufmerksam. Beide verstanden sich auf Anhieb gut, doch Beate zeigte sich sehr zurückhaltend, was den Jagdinstinkt von Frank weckte. Seine Hartnäckigkeit in der Werbung führte schließlich dazu, dass sie ein Paar wurden.
Es folgten die Hochzeit, die Geburt einer Tochter und eines Sohnes und der Einzug in das eigene Haus. Beate blieb Hausfrau, bis ihr Nachwuchs begann, selbständig zu werden. Fortan arbeitete sie halbtags in einer Bücherei. Frank verdiente als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens genug, um seiner Familie ein Leben in gediegenem Wohlstand zu ermöglichen.
Alle vier fühlten sich geborgen in der Zuverlässigkeit ihres gewohnten Daseins. Sie gingen freundlich miteinander um, teilten sich die Aufgaben im Haushalt, achteten die Bedürfnisse der anderen und empfanden die Freude der Gemeinsamkeit. Keine dunkle Wolke trübte den Sonnenschein ihres Seins.
Als sie zum Essen mit Freunden in einem Restaurant verabredet waren, entschied sich Beate, ihrem Aussehen eine gewisse Eleganz zu verleihen, in dem sie zu ihrer Jeans eine rote Seidenbluse wählte. Dazu trug sie Ohrringe mit roten Steinen, die meistens unsichtbar in ihrer Schmuckschatulle ruhten. Frank mochte dieses Gehänge, dass seine Frau bereits vor ihrer Ehe besaß, nicht. Der billige Modeschmuck mit Glassteinen, die in unechtem Gold gefasst waren, ließ seine Frau wie eine Kokotte erscheinen. Doch er achtete ihren Wunsch, diesen zu anzulegen.
Der Abend verlief fröhlich. Das Essen war schmackhaft und wurde begleitet von edlem Wein. Die Gespräche drehten sich wie immer um die Zukunft der Kinder und Urlaubserlebnisse. Die Männer wagten sich auch an die große Politik heran, während die Frauen Modetipps austauschten. Bis Mitternacht wurde gescherzt und gelacht.
Auf der Heimfahrt bemerkte Beate, dass ihr ein Ohrring fehlte. Inständig bat sie ihren Mann, zu dem Lokal zurückzufahren, um das Schmuckstück zu suchen. Dabei war sie ungewohnt aufgeregt, was Frank nicht nachempfinden konnte, denn der Verlust war doch wirklich nicht tragisch. Aber er schwieg. Als sie das Restaurant erreichten, war dieses schon geschlossen. Beate war vollkommen aufgelöst, ließ sich von ihrem Mann nicht beruhigen. So verzweifelt kannte er seine Frau gar nicht. Gleich am folgenden Tag wollte Beate zurückkehren und nach dem Ohrring suchen.
Am nächsten Morgen konnte Beate nicht vertuschen, dass der Verbleib des Ohrrings sie  noch immer beschäftigte. Sie täuschte sogar eine Erkältung vor, um nicht in der Bücherei erscheinen zu müssen. Zum ersten Mal in ihrer Ehe verstand Frank seine Frau nicht. Welch eine Bedeutung hatten diese Ohrringe für sie? Danach befragt, antwortete sie nur, es seien Erinnerungsstücke an ihre Jugend.
Frank war kein misstrauischer Mensch, aber die Gemütsverfassung und das Verhalten seiner  Frau wegen des Verlusts des Ohrrings bewegten seine Gedanken während des gesamten  Arbeitstages. Umso erleichterter war er als er Beate am Abend mit gewohnt guter Laune  vorfand. Sie hatte den Ohrring auf der Toilette des Restaurants wiedergefunden. Damit war das Thema beendet. Nun bereitete sie sich auf das Wochenende bei ihrer Freundin Annegret vor. Seit vielen Jahren verbrachten die beiden Frauen, Freundinnen aus der Schulzeit, regelmäßig einige Tage zusammen.
Als Beate abgereist war, saß Frank allein im Wohnzimmer und hing seinen Gedanken nach. Es war Samstag und die Kinder bei verschiedenen Partys. Auch sie wollten die Nacht auswärts verbringen. Anders als sonst, konnte der Mann die Stille, die ihn umgab, nicht genießen. Etwas nagte in ihm und wollte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Wie ein scharfes Messer drängte sich der Ohrring in sein Bewusstsein.
Beate hatte in dem großzügigen Haus ihr eigenes, kleines Zimmer, eingerichtet nur mit einem Schreibtisch, zwei Regalen mit Büchern und einem bequemen Sessel. Dort zog es Frank hin. Zuerst schaltete er den Laptop auf dem Schreibtisch ein, kannte aber dessen Passwort nicht. Seine Frau hatte also tatsächlich Geheimnisse vor ihm. Er schaute sich um. Fast nie zuvor hatte er diesen Raum betreten. Dort wollte Beate ungestört lesen. Nach den Büchern zu urteilen, beschäftigte sie sich mit anspruchsvoller Literatur. Das hatte Frank nicht erwartet.
Gegenseitiges Vertrauen war immer die Basis für ihre Beziehung gewesen, doch nun fühlte sich Frank getrieben, die Schubladen zu durchsuchen. Darin befand sich nichts Verdächtiges. Aber er entdeckte, versteckt unter Briefbögen und Umschlägen, einen kleinen Zettel mit einer Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Das musste das Passwort für Beates Laptop sein.
Ohne zu wissen, wonach er suchte, durchstöberte er die Dateien. Den Ordner mit der Bezeichnung „Annegret“ wollte er eigentlich nicht öffnen, doch schon hatte er ihn angeklickt. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er diese Annegret bis heute nicht kennengelernt hatte. Eine zitternde Unruhe bemächtigte sich seiner. Nur eines Zuckens des Fingers bedurfte es, um eine der Textdateien zu öffnen. Doch durfte er seine Frau so hintergehen? Die Angst vor einer unliebsamen Entdeckung schnürte ihm die Kehle zu.
Dann erlag er seinem inneren Drang nach Wahrheit und las. Dort wurde von lustvollen Nächten geschrieben, von der Berührung durch zarte Hände, von dem lieblichen Geschmack der Lippen, dem Begierden weckenden Duft der Haut. Ein Mann sah seine Geliebte als rosenbekränzte Elfe. Sie berührte voller Ehrfurcht und Lust seine muskulösen Arme. Ihre Körper verschmolzen, bis ein Vulkan der Gefühle explodierte und beide zu den Sternen ins Universum trug.
Frank erstarrte. Er konnte nicht weiter lesen. Diese Zeilen hatte ein Mann an seine Geliebte geschrieben. Sie zeugten von dessen Erinnerung an eine gemeinsame Nacht. War es möglich, dass Beate ihn sein Jahren mit einem anderen betrog? Doch wer war dieser Geheimnisvolle? Lag sie gerade wieder in seinen Armen? Wer fand solche Worte, um seiner Zuneigung Ausdruck zu verleihen?
Erneut drängte sich der Ohrring in seine Gedanken. Hastig suchte er nach Beates Schmuckschatulle. Darin fand er das rote Gehänge nicht. Plötzlich wurde Frank klar, was er für sich stets verleugnet hatte. Bei den roten Steinen handelte es sich um Rubine, die in pures Gold gefasst waren. Ein vermutlich sehr teures Schmuckstück.
Nun erinnerte er sich, was er einst, als er noch um die Gunst von Beate buhlte, gehört hatte. Sie sollte damals eine Beziehung zu einem jungen Mann gehabt haben, der einer sehr reichen Familie entstammte. Da Beate aber nicht standesgemäß war, entschloss er sich, die Ehe mit einer angemesseneren Frau einzugehen. Diesem Klatsch hatte Frank keine Bedeutung beigemessen, aber nun holte diese Geschichte ihn ein.
Konnte es sein, dass zwei Menschen ihre Liebe auf dem Altar aus Standesdünkeln geopfert hatten? Doch so leicht ließen sich Gefühle nicht töten. So blühte im Geheimen weiter, was die Vernunft nicht duldete. Welch eine grausame Erkenntnis!
Frank war am Boden zerstört. Sein fröhliches, so normales und friedliches Leben war ins Wanken geraten. Wie sollte er damit umgehen, dass seine Frau sich einem anderen Mann hingab? War sein ganzes Glück auf einer Lüge aufgebaut?
Als Beate von ihrem Besuch bei Annegret zurückkehrte, war sie so aufgeräumter Stimmung, dass sie von innen leuchtete. Lange war Frank nicht mehr bewusst gewesen, wie schön seine Frau war. Er wollte sie nicht verlieren, doch seine Miene zeugte von Sorgen. Beunruhigt fragte Beate ihn nach dem Grund für sein ernstes Gesicht, doch er war unfähig zu antworten und wiegelte nur ab.
Dann sprudelte es aus Beate heraus. Sie hatte unglaubliche Neuigkeiten. Frank blieb beinahe das Herz stehen. Wie konnte seine Frau das Ende der Ehe so frohsinnig verkünden? Doch dann erzählte sie, dass sie einen Liebesroman geschrieben hatte, der nun durch den Verlag von Annegrets Mann veröffentlicht wurde. Sein Titel war „Die roten Ohrringe“. Auch wenn es nur Modeschmuck war, hatte sie dieser zu der Geschichte inspiriert. Als sie einen davon verloren hatte, meinte sie darin ein himmlisches Zeichen zu sehen, dass niemand ihren Roman lesen wollte. Doch nun durfte sie sich bald Schriftstellerin nennen.
Frank war gefangen in einem Strudel aus Erleichterung, Beschämung und Bewunderung. Er hatte nicht geahnt, dass seine zauberhafte Frau in der Lage war, Gefühle und die Liebe in so poetische Worte zu fassen. Nun erinnerte er sich, dass er es einst gewesen war, der auf einem Gartenfest, zu dem die weiblichen Gäste aufgefordert waren, sich Blumen ins Haar zu stecken, seine Beate eine rosenbekränzte Elfe genannt hatte.
Überschwänglich umarmte er seine Frau voller Liebe, Stolz und Vertrauen. Und gleich Morgen wollte er einen Juwelier aufsuchen, der ein Duplikat der Ohrringe aus echtem Gold und echten Rubinen fertigen sollte. Manchmal verloren die Partner in einer langen Ehe den Blick füreinander, vergaßen, was sie einander bedeuteten, verdrängten Gewohnheit und Alltag das Wunder der Liebe. Nun war in Frank dieses wieder erwacht und er spürte, dass es Beate nie abhandengekommen war.
 
 
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Christiane Mielck-Retzdorff als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

cover

Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christiane Mielck-Retzdorff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eine himmlische Gabe von Christiane Mielck-Retzdorff (Weihnachten)
Sprachlos von Ingrid Drewing (Liebesgeschichten)
als ich geboren wurde, war ich ich – ! von Egbert Schmitt (Mensch kontra Mensch)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen