Manfred Bieschke-Behm

Scheiben (Doppeldeutung)


 
Wir stellen uns eine ganz normale Küche in einem ganz normalen Berliner Mietshaus vor. Die Küche, in der wir uns befinden, macht einen aufgeräumten Eindruck bis auf eine Kleinigkeit. Auf dem quadratischen Küchentisch liegt eine sorgfältig ausgebreitete rot-weiß karierte Tischdecke über Eck, auf der ein weißer, mit einem schmalen dunkelblauen Rand versehender Frühstücksteller steht. Auf dem Frühstücksteller liegen eine Scheibe Schwarzbrot und ein paar Krümel drum herum. Ob mit Absicht oder durch Zufall wurde der Teller so abgestellt, dass er den brauen Kaffeefleck auf der Küchentischtischdecke abdeckt. Um den Tisch herum stehen vier weißlackierte Küchenstühle.
Die Tischdecke mit dem Kaffeefleck spielt für diese Geschichte keine Rolle. Sie wird nur erwähnt, um deutlich zu machen, dass das was wir sehen nicht immer dem entspricht, was tatsächlich vorhanden ist. Auch die Brotkrümel sind für die Geschichte ohne Bedeutung, sehr wohl aber die Scheibe Brot und einer von den vier weißlackierten Stühlen. Dazu gleich mehr.
Jedem, der einen Küchenrundblick wagt, bleibt das blankgeputzte Küchenfenster nicht verborgen. Gerade jetzt, wo die Strahlen der Vormittagssonne die Küche in ein mildes Licht taucht. Über die Sonne und ihre Möglichkeiten ließe sich noch einiges sagen, was jetzt aber nicht passiert, denn die Sonne hat auch nichts mit dieser Geschichte zu tun. Sie findet nur Berücksichtigung, weil sie es verdient, erwähnt zu werden. Was wären wir ohne Sonne? Was wäre die Küche ohne Sonne? Sie würde im Halbschatten leben müssen.
Wenn sich, wie gerade jetzt, niemand in der Küche befindet, haben die Gegenstände die Angewohnheit miteinander zu kommunizieren. Oft ziehen sie über die Nutzer her aber manchmal geht es auch an das „Eingemachte“. Was selten möglich ist, passiert jetzt: Wir sind Zeuge eines Streitgespräches zwischen der Scheibe Brot und der Fensterscheibe.
 
Die Fensterscheibe die eigentlich allen Grund hat zufrieden zu sein, scheint nicht unserer Vorstellung zu entsprechen. Als Opfer für ihre nicht zu begründende Unzufriedenheit hat sie sich die Scheibe Brot ausgesucht und fragt herausfordernd: „Warum bist du nicht so durchsichtig wie ich?“, fragt sie für die Scheibe Brot völlig unvorbereitet.
 
Die Brotscheibe, die sich auf dem weißen Frühstücksteller mit dem hellblauen Rand liegend gerade sehr wohl fühlt, fühlt sich in ihrer Zufriedenheit gestört entsprechend fällt die Antwort aus: „Ich bin nicht durchsichtig, weil ich keine Fensterscheibe bin. Das sieht man doch. Oder?“ Ohne Luft zu holen, setzt sie mit einer Frage nach: – Für wie blöd hältst du mich eigentlich?
 
Die Fensterscheibe selbstverliebt erwidert: „Dazu möchte ich mich nicht äußern.“
 
„Sag, was du deckst“, sagt die Scheibe Brot. „Ich kann einiges aushalten.“
 
Die Fensterscheibe merkt, wie viel Spaß es ihr macht, die Scheibe Brot zu provozieren und erklärt bewusst arrogant wirkend: „Na ja, wenn du unbedingt willst. Also, der Volksmund sagt: „Doof wie Stulle.“
 
Die Scheibe Brot merkt es bis in den äußeren Rand die Rinde, dass sie sich unangenehm getroffen fühlt. Das Einzige, was ihr als Reaktion einfällt, ist ein: „Ach!? – Sagt man das?“
„Ja. Habe ich gehört“, gibt die Fensterscheibe zur Antwort und könnte vor Glück zerspringen. Hat sie es wieder einmal geschafft jemanden, bis zur Weißglut zu reizen.
 
Die Scheibe Brot versucht ruhig zu bleiben, was ihr ziemlich schwerfällt. Mit gemäßigtem Ton fragt sie: „Willst du mir also unterstellen, dass ich doof bin?“
 
Die Fensterscheibe merkt, dass sie anfängt, den Bogen zu überspannen und versucht mit dem Satz: „Das habe ich so nicht gemeint“ die Situation zu entschärfen.
 
Die Brotscheibe glaubt nicht das, was sie gerade gehört hat. Für Sekunden hat es ihr die Sprache verschlagen. Wieder zu sich gekommen unterstellt sie: „Aber gedacht.“
 
“Lass uns das Thema wechseln Stulle. Ich habe keine Lust mehr mit dir länger darüber zu debattieren, was ist und was andere meinen.“
 
„Wie du mich soeben genannt?“, erkundigt sich die Scheibe Brot ganz aufgeregt.
 
„Stulle habe ich dich genannt. Du bist doch eine Stulle – oder?“
 
Die Scheibe Brot, das war ihr jetzt klar, hatte sich nicht verhört. Sie ist außer sich vor Empörung. Sie könnte – wenn sie könnte - aus der Rinde springen. ‚Soll ich schweigen oder mich empören’, denkt sie nach. Sie ist unschlüssig. Das Wort Stulle jedenfalls tut ihr weh und sie sagt das der Fensterscheibe ohne den Eindruck zu hinterlassen, dass sie sich geringgeschätzt fühlt.
 
„So sensibel?“, erkundigt sich die Fensterscheibe unschuldig tuend.
 
Die Brotscheibe bedauert es zunehmend das sie sich überhaupt auf die Fensterscheibe eingelassen hat. Sie weiß, dass sie den Schauplatz nicht räumen darf, will sie nicht als Verliererin auf dem Teller liegen bleiben: „Das hat nichts mit Sensibilität zu tun“, sagt sie gut überlegt, „das hat etwas mit Anstand und Respekt zu tun. Zwei Eigenschaften, die dir offensichtlich fremd sind.“
 
Die Fensterscheibe spürt, dass die Scheibe Brot keine einfache Gegnerin ist, und hat ihrerseits natürlich auch kein Interesse ihr Gesicht zu verlieren. Versöhnlich tuend erkundigt sie sich: „Wie möchtest du denn, das ich dich nenne - Stulle?“
 
„Schon wieder sagst du Stulle zu mir – Warum tust du das? Bitte nenne mich nicht so. Ich heiße feine Scheibe Brot.“
 
Jetzt ist es die Fensterscheibe, die unruhig aufhorcht. „Scheibe? Scheibe, das bin ich “, erklärt sie im klirrenden Tonfall.
 
Die Brotscheibe freut sich, dass sie offensichtlich eine empfindliche Stelle getroffen hat, und sagt bestimmend: „Ich bin auch eine Scheibe.“
 
„Es kann nicht sein, dass wir beides Scheiben sind“, empört sich die Fensterscheibe.
 
„Das ist auch meine Meinung. Den Namen Scheibe kann es nur einmal geben“, bestätigt die Scheibe Brot nicht ohne eine innere Befriedigung zu spüren.

„Dann sind wir an dieser Stelle ja ausnahmsweise mal einer Meinung“, stellt die Fensterscheibe fest. „Also eigen wir uns darauf, dass ich eine Scheibe bin und du eine ...“
 
Die Scheibe Brot ahnt, was für ein Wort folgen soll und unterbricht: „... bitte nicht schon wieder das hässliche Wort Stulle.“
 
„Jetzt hast du es ja selbst Stulle gesagt (ha, ha, ha)“ amüsiert sich die Fensterscheibe und könnte vor Freude aus dem Rahmen springen.
 
Könnte die Scheibe Brot, wie sie will, würde sie der Fensterscheibe ihren Rücken zudrehen und damit das Gespräch beenden. Weil das technisch nicht möglich ist, ist sie gezwungen sich weiterhin der Provokation zu stellen und fragt: „Willst du mich provozieren?“
 
„Niemand hier in der Küche will dich provozieren“, erklärt die Fensterscheibe. „Ich möchte nur klarstellen, dass allein mir der Name Scheibe zusteht.“
 
„Du bist ja gar nicht wenig eingebildet“, vermeldet die Scheibe Brot. „Meinst Du, ich habe mir den Namen Scheibe selbst gegeben?“
 
 “Wer weiß?“, stellt die Fensterscheibe in den Raum. „Vielleicht gefällt dir mein Name so gut, dass du ihn auch für dich in Anspruch genommen hast.“
 
 „Ganz bestimmt?“, antwortet die Scheibe Brot jetzt sehr aufgebracht und fügt hinzu: „Wenn du meinst, dann wird es wohl so gewesen sein.“
 
Die Fensterscheibe, sich als Siegerin fühlend erklärt: „Du hättest doch gleich die Wahrheit sagen können, dann hätten du dir und ich mir uns viel Ärger erspart.
 
Die Brotscheibe hat keine Lust mehr sich mit der Fensterscheibe weiter auseinanderzusetzen. Sie denkt, der Klügere gibt nach und hat es vorgezogen fortan, zu schweigen. Auch die Fensterscheibe, sich in ihren Triumph spiegelt, hält inne will sich ihr Glücksgefühl nicht zerstören lassen.
 
Im Moment der Ruhe öffnet sich die Küchentür. Ein etwas unbeholfen wirkender junger Bursche bleibt im Türrahmen stehen und schaut sich um. Zuallererst ist es die Scheibe Brot die er anvisiert, die Begehrlichkeit weckt. Von Hunger geplagt überlegt er, ob er sie nehmen und verspeisen sollte. Er zögert. Gleich darauf nähert er sich dem weißen Teller mit dem dunkelblauen Rand. Er dreht den Teller ganz langsam im Kreis herum, als wolle er die Scheibe Brot von allen sich bietenden Seiten betrachten. ‚So eine Stulle wäre jetzt genau das Richtige um meinen Hunger zu stillen’, denkt der sich linkisch gebende Bursche und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. (Gut, dass er ‚Stulle’ nur gedacht und nicht ausgesprochen hat. Hätte er ‚Stulle’ ausgesprochen, hätte es sein können, dass die Scheibe Brot sich vor Gram noch mehr gekrümmt hätte und damit unappetitlich ausgesehen hätte).
Kurz entschlossen nimmt der Bursche die Scheibe Brot in die Hand und beißt ein ziemlich großes Stück ab. Anschließend legt er den Rest zurück auf den Teller und sieht deutlich vor Augen geführt, dass er Unrechtes getan hat. Schließlich gehört er nicht zur Familie, sondern ist Auszubildender bei der Glaserei Fricke & Co KG. und hat nicht das Recht, deren Lebensmittel zu verspeisen. ‚Der Hunger treibt es hinein, denkt er und kaut genüsslich auf das Stück Brot herum. Auftragsgemäß schaut er hinüber zum Küchenfenster. Er nähert sich dem Fenster und kann nicht erkennen, dass die Scheibe einen Sprung oder ein Loch hat. Vor lauter Ratlosigkeit kratzt er sich mit der rechten Hand das linke Ohr, dabei fällt sein Blick auf den Teller und die Restscheibe Brot. ‚Ob nun einmal abgebissen oder ein zweites Mal, darauf kommt es nun auch nicht mehr an’, überlegt sich der Hungrige, greift sich die Scheibe Brot und beißt genüsslich ein weiteres Stück ab. Die Fensterscheibe, die dem Spektakel mit Freuden zusieht, fängt vor lauter Schadenfreude an zu schwitzen und erzeugt kleine Rinnsale auf ihrer Oberfläche.
Derweil hat der Brotesser Mühe seinen Mundinhalt zu bewältigen. Das Stück, das er abgebissen hatte, war eine Nummer zu groß. Durch ein „Kommst Du“ das von dem Gesellen, der sich auf der Diele aufhält, in die Küche hineingerufen wird erschreckt der Bursche dermaßen, dass er sich am Brot verschluckt. Wiederwillig geht er zum Küchenfenster und hebt den Fensterflügel aus dem Rahmen. Etwas unbeholfen dreht er sich samt Fensterflügel um und peilt die Küchentür an. In dem Moment ruft der Geselle: „Du ich habe mich geirrt“, wir sind in der falschen Wohnung gelandet.“ „Alles klar Chef“, antwortet der Azubi, während er sich über den unnötig geleisteten Arbeitsaufwand ärgert. Auf dem Weg von der Küchentür zum Küchenfenster kommt er zwangsläufig am Küchentisch und den vier abgestellten Stühlen vorbei. Natürlich sieht er auch die um zwei dritte verkleinerte Scheibe Brot und denkt: ‚Wenn ich den Fensterflügel wieder eingesetzt habe, werde ich den Rest der Scheibe auch noch essen. Sozusagen als Lohn für getane Arbeit.’ Dieser Gedanke gefällt dem Schlauberger und beflügelt ihn die Aufgabe schnell zu Ende zu bringen. Dass einer der vier Stühle etwas unglücklich steht, war ein großer Fehler. Ungewollt stößt der Azubi mit dem Fensterflügel gegen die Stuhllehne. Was nicht passieren sollte, passiert. Die Fensterscheibe bekommt zunächst einen Sprung, der sich quer über die ganze Scheibe erstreckt. Anschließend, kaum dass es zeitlich messbar ist, verzweigt sich der Sprung spinnennetzartig. Klirrend fallen Einzelteile der Scheibe auf den gefliesten Küchenboden. Nur noch den Rahmen in beiden Händen haltend stiert der Unglückliche auf den Rest der Scheibe Brot. Ihm ist der Appetit vergangen.
Die Restscheibe triumphiert. Ist es doch ihr gelungen die arrogante Fensterscheibe, zu überleben. Wenngleich sie nicht weiß, wie lange ihr Restbestand noch auf dem Frühstücksteller mit dem schmalen dunkelblauen Rand liegen bleibt, ist sie glücklich. 
 

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