Manfred Bieschke-Behm

Lilatau kann nicht schlafen


 
Ich werde Euch jetzt eine Geschichte erzählen, von der ich glaube, dass sie ein Märchen ist.

Auf einer waldnahen Wiese, unweit eines kleinen Sees, leben die Elfen Lilatau und Flügelknick umgeben von Schmetterlingen, Glühwürmchen, Libellen, Käfer, vielen Blüten, Gräsern, Blättern und gelegentlichem Sternenstaub. Sie leben hier unbeschwert und freuen sich, dass sie sich so gut verstehen und viel Zeit miteinander verbringen können. Besonders gefällt ihnen, dass sie sich aufeinander verlassen können und ehrlich miteinander umgehen. Gemeinsam verbringen sie die Tage mit gegenseitigem jagen, sich verstecken, suchen und finden. Ausflüge führen sie zu bisher Unbekanntem aber auch zu Vertrautem. Eigentlich leben sie ein unbeschwertes Leben. Nur wenn Menschen sich in ihrem Revier verirren, dann wird es unangenehm. Dann heißt es aufpassen. Menschen mit ihren großen Füßen können schon gefährlich werden. Gerade neulich wurde ein Käfer, der nicht rechtzeitig ausweichen konnte, zertreten. Ihr könnt Euch vorstellen, wie traurig wir alle waren. Und was das für Arbeit macht niedergetretene Gräser und Blumen wieder aufzurichten, könnt ihr euch kaum vorstellen. Besonders ausgebildete Käfer und Schmetterlinge sind tagelang damit beschäftigt Erste Hilfe, zu leisten.
Besonders gerne leben Lilatau und Flügelknick im Frühling und im Sommer. In diesen Jahreszeiten sind die Tage besonders lang und die Nächte mild. Die Meisten von uns schlafen unter dem Sternenzelt manche benötigen einen Unterschlupf, sie brauchen absolute Ruhe und wollen vom Gezirpe der Grillen nicht gestört werden. Die zwei Elfen verbringen ihre Nächte im Unterholz gut belaubter Büsche. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht ein großes Problem, von dem ich Euch erzählen muss. Lilatau hat Angst vor dem schlafen. Könnt ihr Euch vorstellen, warum Lilatau Angst vor dem schlafen hat? Und vielleicht wollt Ihr auch wissen, woher Flügelknick seinen Namen hat. Beides werde ich Euch erzählen aber zuvor erzähle ich Euch wie sich Lilatau und Flügelknick kennengelernt haben:
Es war ein herrlicher Spätfrühlingstag. Ein warmer Wind wehte über die Wiese, weiße Schäfchenwolken zierten den sonst azurblauen Himmel und Vögel flogen zwitschern durch die Lüfte und verkündeten mit ihrem Gezwitscher einen sonnigen Tag. Besser hätte es nicht sein können. Flügelknick beobachtete schon eine ganz Zeit lang eine liebreizende Elfe, die ein traumhaft schönes lilafarbenes Kleid trug und unruhig hin und her flog. ‚Ob sie sie mich sucht?‘, fragte sich Flügelknick. Er kam zu dem Ergebnis, dass das nicht sein kann, denn sie kennen sich nicht.
Lilatau war so mit sich beschäftigt, dass sie nicht mitbekam, dass sie beobachtet wurde. Flügelknick, eine eher schüchterne Elfe, wollte die begehrenswerte Elfe unbedingt näher kennenlernen nur wusste er nicht, wie er es anstellen sollte. Er fasste allen Mut zusammen und flog ihr bis auf wenige Zentimeter entgegen. Sein Flügelschlag verursachte einen Lufthauch, der Lilatau aufschrecken ließ. Ruckartig drehte sie sich um und blickte verschreckt und gleichzeitig entzückt in bernsteinfarbene Augen. Flügelknick wurde ganz rot im Gesicht. Noch nie in seinem Leben war er einer so schöne Elfe so nahe geflogen.
„Ha-Ha-Hallo“, stotterte Flügelknick.
„Hallo“, antwortete Lilatau. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Oh da-da-dass wollte ich nicht.“

„Ist schon gut.“
 
Beide Elfen flatterten jetzt hautnah beieinander. Keine der Elfen wusste, was sie sagen soll.
Flügelknick war es, der den Gesprächsfaden wieder aufnahm und sich nach dem Wohlbefinden erkundigte.
 
„Ach mir geht es ganz gut, wenn da nur nicht …“
 
„Was ist los?“, erkundigte sich Lilatau beunruhigt.
 
„Ach nichts“, antwortet Flügelknick. „Erzähle mir lieber, wie es dir geht.“
 
“Mir geht es auch ganz gut, wenngleich ich sehr müde bin. Wenn da nur nicht …“
 
Auch Lilatau beendete ihren Satz nicht. Sie schaute verlegen an Flügelknick vorbei und ärgerte sich, dass sie eine Andeutung gemacht hatte, zu der sie nichts sagen will.
 
„Wollen wir Freunde sein?“, erkundigte sich Flügelknick und reichte Lilatau seine ausgestreckte rechte Hand entgegen.
 
„Was ist Freundschaft?“, wollte Lilatau wissen und wagte nicht die Hand von Flügelknick entgegen zu nehmen.
 
„Freund-Freundschaft ist“ – Flügelknick überlegte kurz – „Freundschaft ist, für jemand anderen da zu sein. Ihn zu beschützen. Mit ihm lachen und weinen können.“
 
„Das ist Freundschaft?“, fragte die Elfe Lilatau völlig verunsichert.
 
„Ja, das ist Freundschaft“, versicherte Flügelknick und schaute dabei Lilatau in ihre blauen funkelnden Augen.
 
 „Das hört sich ja toll an! Ich hatte bisher noch nie eine Freundschaft. Und du?“
 
„Mir geht es ge-ge-genauso“, antwortete Flügelknick und flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln auf und ab, wobei der linke Flügel sich etwas schwer tat.
 
An diesem Tag, ich glaube, es war ein Mittwoch, wurde eine Freundschaft geboren, die für alle Ewigkeit anhalten sollte.
 
Seit jenem Mittwoch sind Lilatau und Flügelknick unzertrennlich. Sie verbringen unbeschwerte Tage und sind auch des Nachts beieinander. Sie fliegen Seite an Seite herum und erzählen sich was sie sehen, riechen, was sie schmecken. Sie sprechen über alles, bis über den unvollendeten Satz „wenn da nur nicht...“
Vielleicht waren sie siebenunddreißig oder achtunddreißig Tage zusammen als Flügelknick den Mut aufbrachte, seinen angefangenen Satz zu Ende sprechen zu wollen.
„Si-Si-Sicherlich blieb dir nicht verborgen, liebe Lilatau, dass mein lin-linker Flügel einen Knick hat. Seitdem das so ist, habe ich das Gefühl nicht mehr voll- vollkommen zu sein und traue mich nicht auf andere zuzufliegen. Bei dir war das eine Ausnahme, aber darüber möchte ich im Moment nicht sprechen. Viele lieber will ich dir er-erzählen, was pas-passiert ist. Im vergangenen Sommer, es bahnte sich ein sonnenreicher Tag an, hielt ich mich unter freien Himmel auf. Obwohl mir eine erfahrene Elfe empfahl, lieber in den Abendstunden umherzuflattern flog ich sorglos von Blume zu Blume. Es muss passiert sein, als ich mich auf eine frühblühende Margerite niedergelassen hatte, mich mit ihr angeregt unterhielt und nicht merkte, dass mein linker Flügel zu viel Sonne abbekam. Ein zufällig vorbeifliegender Käfer sah das sich anbahnende Unglück, gab mir ein Zeichen wegzufliegen, und hat mir mit dem Signal vermutlich das Leben gerettet. Seit jenem verhängnisvollen Mittwoch habe ich einen Knickflügel und werde seitdem Flügelknick genannt. So, jetzt kennst du meine Ge-Ge-Geschichte, und das ist auch gut so.“
Lilatau, die aufmerksam zugehört hat, wischt sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.
Nachdem sie sich beruhig hat, erklärt sie: „Natürlich war mir dein Knickflügel nicht verborgen geblieben. Natürlich hätte ich schon gerne eher gewusst, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Ich habe bewusst nicht nachgefragt. Ich dachte mir, du wirst mir die Geschichte erzählen, wenn du meinst, dass ich sie kennenlernen sollte. Und heute hast du mir die Unglücksgeschichte erzählt. Ich danke dir dafür. – Übrigens! Dein Knickflügel hat mich von Anfang an nicht gestört. Du bestehst doch mehr als nur aus einem Knickflügel. Ich mag dich, so wie du bist.“
 
Jetzt war es Flügelknick, dem Tränen aus den Augen flossen. Wie Tautropfen fielen sie auf einen breiten Grashalm, perlten ab und verschwanden im Erdboden.
„Aus deinen Tränen werden Blumen wachsen. Sie werden schöner sein, als all die Blumen die um uns herum blühen“, versicherte Lilatau und machte Flügelknick verlegen. - Du sagtest vorhin „Bei dir war das eine Ausnahme, aber darüber möchte ich im Moment nicht sprechen, möchtest du mir jetzt erklären, was du damit meinst?“
 
Mit dieser Frage hatte Flügelknick nicht gerechnet. Es war nicht seine Stärke über Gefühle zu sprechen. Die Angst nicht verstanden zu werden oder gar ausgelacht zu werden, verbot ihm bestimme Dinge, auszusprechen. Lilatau sah ihn mit großen Augen an, als wollte sie sagen: „Nu komm. Erzähle.“
 
„Durch meinen Sprachfehler und neuerdings durch mein Äuß-Äußeres bin ich, im Gegenteil zu meinen Ge-Geschwistern, eher zurückhaltend. Als ich allerdings dich entdeckte, war all meine Scheu wie weggeflogen. Ich musste dich kennenlernen, egal was auch passieren könnte. Mich begeistert alles an dir. Vor allem dein wunderschönes lilafarbenes Kleid, das so wunderbar zu deinen blauen Augen passt. Dich muss man einfach lieb haben.“
 
Gerade der letzte Satz ließ nicht Lilatau aufschrecken, sondern Knickflügel. Aber nun war er raus und auch das ist gut so.
Lilatau fühlt sich geehrt und weiß nicht, was jetzt angebracht wäre zu sagen. Sie schweigt.
 
„‘Woher hast du deinen Namen?“, erkundigt sich Knickflügel.
 
„Ich verdanke meinen Namen meinem lilafarbenen, hauchdünnen, bis zum Boden reichenden Kleidchen. Ich bin sehr stolz auf mein Kleid und möchte nicht, dass es jemals Schaden erleidet, und deshalb …?“
 
„Ja, und deshalb“, wiederholt Knickflügel.
 
„… und deshalb tue ich des Nachts nur so, als würde ich schlafen. Tatsächlich schlafe ich nie, weil ich Angst habe, mein Kleid könnte im Schlaf Knitterfalten bekommen. Und ich befürchte, wenn mein Kleid Knitterfalten hat, will niemand mehr etwas mit mir zu tun haben.“
 
Wieder fließen Tränen. Sie tropfen auf das lilafarbene Kleidchen und hinterlassen winzig kleine Spuren.
 
Knickflügel kann nicht anders, er muss Lilatau in seine Arme nehmen und ihr ins Ohr flüstern: „Aber Lilatau, was für ein dummer Gedanke. Ich würde dich genau lieben, hätte dein Kleidchen Knitterfalten. Du magst mich doch auch, obwohl ich einen Knickflügel habe. Unsere Freundschaft wird doch nicht getrübt nur, weil sich Äußerlichkeiten verändert haben.
 
Es ist, ohne dass es Lilatau und Knickflügel bemerkten, Abend geworden. Schon längst hat die Sonne dem Mond Platz gemacht. Knickflügel hat sich in eine Astverzweigung eines Apfelbaumes gelegt und seine Lilatau ganz fest an sich gedrückt.
„Schlaf gut“, flüstert Flügelknick seiner Freundin ins Ohr.
 
„Gute Nacht“, erwidert Lilatau und schließt seit vielen Jahren das erste Mal sorglos ihre Augen. 



 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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