Manfred Bieschke-Behm

Weiß


In der verwinkelten Kupfergasse steht das Haus mit der Nummer 21. Was das Haus von den anderen abhebt, ist die barockverzierte weiße zweiflüglige Eingangstür. Sie ist es, die es mir verbietet an dem Haus achtlos, vorüberzugehen. Selbst wenn ich es mir verbiete, bleibe ich vor dem Haus stehen und bewundere die Eingangspforte. So oft, wie ich diese Tür betrachtet habe, fällt es mir nicht schwer sie zu beschreiben: Im Halbbogen über den beiden Türflügeln befindet sich ein Glaseinsatz der durch weiß lackierte Holzverstrebungen geschickt unterteilt ist. Durch die Unterteilung entsteht die Illusion einer über alles strahlenden Sonne. Gleich unterhalb ist wellenbogenartig eine gedrechselte Holzapplikation in den Farben rot und blau angebracht. Geschnitzte filigran gestaltete Blumen und Knospen, gepaart mit grünem Rankwerk, veredeln das dekorative Teil. Weitere Blumen und Blattornamente sind wie aus einem Füllhorn geschüttet über die ganze Tür verteilt. Zu meiner Freude hat der Künstler die Tür geadelt, indem er beide Türflügel mit zwei unterschiedlich großen in sich gebogenen ornamentartigen Türkassetten versehen hat. Je nach Lichteinfall ergeben sich Schattenwürfe die den Eindruck von wechselnder Tiefe zulassen. Alles an der Tür passt sich harmonisch an. Der eher bescheiden ausgefallene Türbeschlag mit seiner nach unten gebogenen Türklinke nimmt der Tür der Übertreibung.
Schon oft hatte ich versucht, die Tür zu öffnen. Alle Versuche schlugen bisher fehl. Außer einem verächtlichen, ablehnenden, mir mittlerweile vertrauten, knarrenden und sperrigen Türschlossgeräusch blieb es dabei: Die Tür verweigerte mir den Zugang.
Das eine oder andere Mal hatte ich vorbei laufende Passanten angesprochen und mich erkundigt, ob sie mir sagen könnten, was sich hinter der Tür befindet. Mehr als ein Achselzucken oder Kopfschütteln war aus ihnen nicht herauszuholen. Keiner wollte oder konnte mir sagen, welche Geheimnisse sich hinter dieser Tür verborgen halten.
Gestern nun sollte sich mein Wunsch erfüllen. Zum vielleicht dreihundertsten Mal drücke ich die Türklinke herunter. Was diesmal ausblieb, waren die mir wohlbekannten begleitenden Verweigerungsgeräusche. Vielmehr vernahm ich ein leichtes fast einladend klingendes Schnarren. Ich glaubte meinen Augen und Ohren nicht trauen, zu können. Die Tür ließ sich öffnen. Zunächst wagte ich sie nur einen Spaltbreit, aufzumachen. Um hineinzusehen, reichte der Zwischenraum nicht aus. Also wagte ich es die Tür ein weiteres Stück, zu öffnen. Gespenstige Dunkelheit und ein Duft, den ich nicht einzuordnen wusste, nahmen mir den Bezug zur Gegenwart. Ich war mir nicht schlüssig, ob ich die Tür vollends öffne und hinein gehen oder lieber wieder schließen und das Geheimnis dahinter Geheimnis bleiben lassen sollte. Meine Neugierde besiegte meine Unschlüssigkeit. Mutig schob ich die Tür ganz auf. Mit stark klopfendem Herzen wagte ich einen Schritt hinein in das mir Unbekannte. Mit einem knarrenden Geräusch fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Wie erstarrt blieb ich stehen. Ich hielt die Luft an. Horchte in die Finsternis hinein. Gerade als ich anfing meine Neugierde zu verfluchen, ertönte eine mir fremde, aber durchaus beruhigende Musik. Gleichzeitig gingen bestimmt tausend Lichter an. In Sekundenschnelle war ich von einer Helligkeit umgeben, die nicht zu beschreiben ist. Ich kniff die Augen zu, weil ich mich geblendet fühlte. Die beruhigende Musik und der Duft von Lavendel und Orange gaben mir Kraft die Augen zu öffnen und den Blick frei auf bisher noch nie Geschehenem. Ich blickte auf ein Sammelsurium weißer Gegenstände, die im ganzen Raum verteilt waren. Kleine und große Spiegelwürfel dienten den Ausstellungsstücken als Unterlagen. Durch die vielen Spiegelreflexionen entstand der Glaube, jeder Gegenstände würden mehr als einmal vorhanden war. Tatsächlich gab es jeden Gegenstand nur einmal.
Als Erstes fiel mir ein halb geöffneter Fächer auf, auf dessen weißer Spitzenbespannung ein Schriftzug aufgebracht war, der nur Bruchstückhaft lesbar war. Ich war versucht den Fächer ganz zu öffnen, verbot es mir. Ich wollte nichts Unrechtes tun. Das Ansehen muss genügen, gestand ich mir und blickte nach links. Vor mir ausgebreitet lag geöffnet eine wunderschöne doppelreihige Kette, deren weiße Perlen sich jeweils zur Mitte hin verdickten. Der Verschluss deutete eine silberne offene Blüte an, deren Zentrum eine kleine Perle zierte. Allzu gerne hätte ich gewusst, wer sie tragen durfte und weshalb sie jetzt hier ausgestellt wird. Bestimmt könnte jede einzelne Perle eine Geschichte erzählen, wenn sie erzählen könnte. Hinter der Perlenkette stand ein einzelner weißer Turnschuh mit einer sorgfältig gebundenen Schleife. Vergeblich suchte ich den Raum nach dem zweiten Schuh ab. ‚Ging er verloren?’, überlegte ich. ‚Wie muss sich ein Schuh fühlen, dessen Partnerschuh fehlt? Wurde das Schuhpaar gewollt oder ungewollt getrennt? Werden die weißen Turnschuhe jemals wieder als Paar zusammen kommen?’ Während mir tausend Fragen durch den Kopf gingen, konzentrierte ich mich lieber auf eine weiße Pierrot-Maske mit schwarzer Kappe die um den Hals einen durchsichtigen Spitzenkragen trug. Ihr Mund war auffällig rot geschminkt. Die Lippen zugespitzt, als hätten sie verlangen zu küssen oder geküsst zu werden. Aus dem rechten schwarz geschminkten Auge floss eine Träne. Abschiedsträne? Sehnsuchtsträne? Die Träne rührte mich an. Um nicht selbst Tränen zu vergießen, wendete ich mich ab. Durch meine feucht gewordenen Augen erblickte ich schemenhaft zwei schlanke weiße Kerzen. Ich erinnerte mich daran, das mein damaliger Partner mich fragte‚ ob Kerzen ihr Schicksal bekannt ist, dass, sind sie erst einmal angezündet, ihr Leben von nur kurzer Dauer ist. Während ich mir mit der linken Hand meine Augen klar wischte erblickte ich ein Sahnebaiser, das gleich neben einem kleinen Perlmuttherz lag. Ich stellte mir die Frage: „Liegen das Herz und das Baiser zufällig so dicht beieinander?“ Ich erinnerte mich gelesen zu haben, das Baiser übersetzt Kuss, aber auch Spanischer Wind heißt. Ich glaube an keine Zufälle. Nur einen knappen Meter entfernt von dem Baiser und dem Perlmuttherz lagen zwei weiße Würfel, auf deren Oberflächen die Zahlen „3“ und „5“ erkennbar waren. Standen die Zahlen für sich oder hatten sie erst durch das Zusammenzählen eine Bedeutung?’ Ich konnte mir die Frage nicht beantworten. Ich erinnerte mich gelesen zu haben, dass die „3“ für Zuhause und Familie und dem Bedürfnis nach Ruhe und Harmonie steht. Die „5“ dagegen für Zeit sowie Kommen und Gehen, aber auch für das Erkennen von großen Zusammenhängen. Die Additionszahl „8“ steht für Nachsicht und Güte, aber auch für Sehnsucht. Ein seltsames Gefühl umgab mich bei dem Betrachten der offenliegenden Würfelzahlen. Warum gerade diese zwei Zahlen? Warum nicht vier und fünf oder eins und drei? Ein großes rundherum goldverziertes „H“, das aufrecht auf einen rechteckigen Spiegelquader stand, lenkt mich von den Würfeln ab. Auf die Idee, dass auch der ausgestellte Buchstabe nicht zufällig gewählt wurde, sondern bewusst, kam mir nicht in den Sinn. Für mich stand der Buchstabe „H“ für Herrscher oder Heirat. Vielleicht war es auch der Anfangsbuchstabe eines Vornamens? Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! „H“ das ist doch der Anfangsbuchstabe von meinem Vornamen. Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr wohl in meiner Haut. Fing an zu frieren. Nahm mich selbst in die Arme, weil ich glaubte so vor Kälte geschützt zu sein. Mich beschäftigte nur ein Gedanke: wie schaffe ich es, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Verwirrt schaute ich um mich und entdeckte eine großen weißen Porzellanschwan der einen silbernen Schnabel besaß. Der Vogel stand auf einem besonders hohen Spiegelwürfel. Seine Schönheit und Anmut konnte wahrscheinlich niemand widerstehen. Die Reinheit seines Gefieders und die Grazie, die durch seinen gestreckten Hals besonders zum Ausdruck kam ließen mich alles soeben Empfundene vergessen. Ich erinnerte mich an ein Märchen das mir Gerald im letzten Urlaub den wir im heißen Spanien verbracht hatten, erzählte: Es war einmal ein Schwan, der über einen See schwamm und dabei die Wasseroberfläche in leichte Schwingungen versetzte. Der Tag, längst müde geworden war dabei sich still und leise zu verabschieden. In der Mitte des Sees angekommen streckte das anmutige Tier seinen Hals zum Himmel und sah den Silber schimmernden Mond von matt weißen Wolken umhüllt. Zufrieden senkte er den Hals und tauchte seinen Kopf genau in die Stelle tief in das Wasser, in der sich die Mondscheibe widerspiegelte. Nachdem der Schwan seinen Kopf wieder aus dem Wasser gezogen hatte, besaß er einen silbernen Schnabel. Der Schwan, der Begleiter der Seele der Anderswelt, hatte für diese Nacht seine Aufgabe erfüllt. Er hatte eine Seele gerettet und konnte nun seinen, für Menschen nicht hörbaren, Schwanengesang anstimmen. Die Geschichte hatte mich damals sehr berührt und tat es jetzt wieder. Seltsam. Wieso kam mir gerade jetzt Gerald in den Sinn, den ich dachte, längst vergessen zu haben? Die bisher als angenehm empfundene Musik war mir auf einmal zu laut. Den Lavendel- und Orangengeruch empfand ich als widerlich und aufdringlich. In meiner Aufgeregtheit wäre ich beinahe an einen Spiegelsockel gestoßen, auf dem zwei Margeritenblüten lagen. Reflexartig hätte ich mir gerne eine der Blüten gegriffen und Blütenblatt für Blütenblatt abgezupft und dabei gezählt: „Er liebt mich noch, er liebt mich nicht mehr. Das letzte Blatt hätte die Entscheidung gebracht. Aber wollte ich die Wahrheit wirklich wissen? Wollte ich wissen, ob er mich noch liebt? Plötzlich kam mir ein Gedanke, der mir unheimlich war. Der halbgeöffnete Fächer, die doppelreihige Perlenkette, der weiße Turnschuh, die Pierrot-Maske mit der Träne im Auge, Baiser und Perlmuttherz, die zwei Kerzen, die Würfel, der Buchstabe und der Schwan waren nicht zufällig in diesen Raum ausgestellt. Auch ich war nicht zufällig hier. Alle diese Gegenstände hatten mit mir und Gerald zu tun. Einen Fächer, auf dem ‚Ich liebe dich’ stand, schenkte mir Gerald, als wir frisch verliebt waren und einen heißen Sommer verbrachten. Eine Perlenkette legte er mir um, als wir davon sprachen für immer zusammen zu bleiben. Der weiße Turnschuh erinnert an die Zeit die wir auf dem Tennisplatz verbrachten. An dem Tag, an dem ich umgeknickt war und fortan nicht mehr Tennis spielen konnte. Gerold war es, der mich tröstete und Tränen aus dem Gesicht wischte. Er mochte es nicht, wenn ich traurig war und schon gar nicht, wenn ich weinte und daran erinnert die Pierrot-Maske mit der Träne im Auge. Ich erinnerte mich an einen warmen Sommerabend am Strand von Málaga. Gerald und ich saßen gemütlich bei einem Glas Wein als der Ober mir auf einem Tablett zwei übereinandergelegte Baiser servierte. Ich schaute Gerald verdutzt an, er lächelte und forderte mich auf, das obere Baiser anzuheben. Darunter befand sich ein Herz aus Perlmutt. An dieser Stelle wurde ich aus meinen Erinnerungen gerissen. Ich hörte eine wundersame Stimme, die zu mir sprach: „Du warst jetzt lange genug hier. Du musst dich langsam von allem hier verabschieden. Die Zeit für Erinnerungen ist abgelaufen. Was du mit dem erlebten machst, ist dir überlassen“. Ich wollte die unbekannte Stimme noch fragen, ob ich eine Chance habe Gerald wieder zu treffen und ob ich wieder kommen dürfe. Doch bevor ich diese Fragen stellen konnte, ging vor mir eine doppelflügelige Tür lautlos auf. Die Lichter hinter mir erloschen, die Musik verstummte, der Duft von Lavendel und Orangen war nicht mehr wahrzunehmen. Die Wirklichkeit hatte mich wieder. Ich stand vor der barockverzierten weißen zweiflügligen Eingangstür und stellte mir die Frage: „Was befindet sich wohl hinter der Tür?“ 
 

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Seinen wohlverdienten Urlaub hat sich Kommissar Heinz Kelchbrunner anders vorgestellt: Erst stößt er beim Graben in seinem Garten auf menschliche Gebeine, dann beschäftigt ihn ein weitaus aktuellerer Todesfall in seiner freien Zeit: Anna Einarsdóttír wird beim Spaziergang von einem Ast erschlagen – und das ist, wie sich herausstellt, nicht dem stürmischen Wetter geschuldet. Kelchbrunner und seine Kollegin Katharina Juvanic nehmen die Ermittlungen auf. Die Spur führt schließlich nach Island, die Heimat der Toten, und zum geplanten Bau eines Staudammes, der eine wertvolle Naturfläche akut gefährdet. Dass Kelchbrunner von oberster Stelle dorthin beordert wird, um weitere Nachforschungen anzustellen, kommt dem umweltbewussten Kommissar gerade recht. Vielleicht gelingt es ihm, nicht nur Licht ins Dunkel zu bringen, sondern gleichzeitig seine eigenen Schlafstörungen und einen schmerzhaften Verlust zu überwinden. Kaum in Island angekommen, muss er sich jedoch gleich mit störrischen Behörden und verstockten bis feindseligen Einheimischen auseinandersetzen. Es scheint, als sei niemandem hier an der Auflösung des Falles gelegen …

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