Annelie Kelch

Kleine Fische

„Auf dieser Fähre gilt absolutes Rauchverbot, meine Dame. Und unterstehen Sie sich, die Kippe durch die Gegend oder gar ins Wasser zu schnipsen; das Meer ist kein Abflussrohr und eh schon zu­gemüllt bis zum Horizont“, dröhnte eine wütende Stimme über das Oberdeck. Ich saß unweit des Ge­schehens auf einer Bank und betrachtete die Wellen der Nordsee. Als ich meinen Kopf zur Seite wandte, um den aufgebrachten Mann in Augenschein zu nehmen, erkannte ich meinen alten Freund Lasse, der sich vor einer brünetten Frau mittleren Alters aufgebaut hatte und missbilligend auf den Glimmstängel starrte, den sie, zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand haltend, loswer­den wollte, aber auf die Schnelle nicht zu wissen schien, wohin damit.

„Geben Sie schon her“, motzte Lasse sie an und nahm ihr die Zigarette ab, wobei er angewidert sein Gesicht verzog, als habe er den Kadaver einer vor zig Tagen verendeten Ratte berührt. Ich hatte Lasse seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen, und es war ein Wunder, dass ich ihn auf Anhieb wiedererkannte. Als wir Teenager waren, verlebten wir den größten Teil der schulfreien Wochen gemeinsam auf Föhr, und ich erinnerte mich lebhaft an die letzten Ferien, die wir miteinander verbrachten, obgleich ein Schatten auf die wenigen Tage gefallen war. Damals wäre ich viel lieber gleich zu Tante Hetty ans Meer gefahren, und dieser Wunsch wäre mir gewiss auch erfüllt worden, hätte meine Mathe- und Physiklehrerin mir nicht kurz vor Ostern einen Strich durch die Rechnung gemacht, mit einem Blauen Brief, der meine Versetzung in Frage stellte. Deshalb fuhren wir in die Berge, Mutter und ich. Es war Frühling, ein herrlich warmer Frühling, und nach unserer Rückkehr blieben mir noch ganze vierzehn Tage, ehe die Schule wieder begann. Mutter fiel mir gewaltig auf den Wecker, weil sie bei jeder passenden Gelegenheit das Wörtchen „Gnadenfrist“ in ihre Predigten einflocht, die einzig und allein mir galten. Die Vokabel hörte sich aus ihrem Mund verdammt nach „Lebensende“ an, nach einem letzten Herbst, bevor es in die Kiste ging.
„Gnadenfrist“, lamentierte sie, und ich dachte dabei jedes Mal an „Gnadenbrot“, das man altgedienten Tieren auf einem Bauernhof gewährt. Dabei war ich gerade mal fünfzehn, also keineswegs in einem Alter, das eine baldige Verwesung ins Auge fasst.
Just in dem Moment, als der Brief auf unserem Küchentisch landete, wollte Vater sich eine Zigarette drehen. Er befahl mir, den Brieföffner zu holen, und nachdem er das verhängnisvolle Schreiben aus dem taubenblauen Kuvert befreit und den Text überflogen hatte, ließ er sein vor Zorn und Enttäuschung funkelndes Aug’ sekundenlang auf mir ruhen, als gingen ihm die bewegenden Worte: „Auch du, mein Sohn Brutus?“ durch den Kopf. Dabei war ich doch Tochter, seine Tochter, und ganz gewiss nicht aufsässig, fürchtete ich ihn doch ungleich mehr, als dass ich ihn liebte. Seine Wutausbrüche waren mir unheimlich; man wusste nie, welches Ende sie nahmen, und es war das Beste, man ließ sie widerspruchslos an sich vorrüberrauschen. Und weil „Wahrheit“ sein Lieblingsthema war, über das er sich stundenlang auslassen konnte, nachdem er meinem Bruder Alec und mir unterstellt hatte, wir würden ihn anlügen, gab ich unumwunden zu, während der vorangegangenen Jahre nicht das Geringste unternommen zu haben, um meine Zensuren in Physik und Mathematik auf ein akzeptables Niveau zu bringen.
Da Vater es offenbar bei wütenden Blicken belassen wollte, erlaubte ich mir, die Hiobsbotschaft herunterzuspielen und verkündeter mit fester Stimme: „Ich schaffe es, ganz bestimmt. Du kannst dich darauf verlassen.“ Ich brachte diese beiden kleinen Sätze mit einer für mich untypischen Vehemenz über die Lippen, über die ich fast selber erschrak; aber ich war felsenfest davon überzeugt, bis zum Som­mer die Kurve zu kriegen, ungeachtet dessen, dass Alec ein Jahr zuvor beschlossen hatte, sich den Prinzipien eines Innenpolgenerators, der elektromagnetischen Induktion und nicht zuletzt der Scho­lastik zu verweigern und von der Schule abzugehen. Ich hingegen beschloss, mich der Herausforde­rung zu stellen und verschob vage Pläne, die sich vornehmlich in Träumen manifestierten, Träume von „die nötigsten Sachen packen und über alle Berge“. Bereit, den Kampf auszutragen, mochte da kommen, was wollte, legte ich Vater gedanklich die wehmutsvollen Worte: „Et tu, mea filia Bruta?“ in den grimmig verzogenen Mund und vernahm wie durch eine Nebelwand den schicksalsschweren Vorschlag: „Wir könnten Ira zu Hetty auf die Insel schicken; dort hat sie Ruhe zum Lernen; anderen­falls verpasst sie womöglich den Anschluss und versteht nicht einmal die Hälfte des Pensums, das in Physik und Mathematik durchgenommen wird.“ Mutter hatte sich eingemischt und eine ihrer tugend­haften Ideen in den Raum geworfen, die erörtern zu wollen zwecklos war. - Verbannung à la Bonaparte, dachte ich und hätte beinahe gekichert.

Wir saßen am Esstisch und mampften Feldsalat mit Joghurt.
„In der Wyker Stadtbibliothek finde ich gewiss nicht die Bücher, die ich zum Büffeln brauche“, wandte ich ein und verlieh meiner Stimme vorsichtshalber einen Hauch von Demut.
„Ich benötige spezielle Literatur zur Verdeutlichung von Einzelheiten, die mir sonst ein Lehrer erklären würde.“
„Hättest du dich intensiv auf jene Fächer konzentriert, die dir offenbar nicht liegen, wäre das jetzt alles nicht nö­tig“, nörgelte Mutter.
„Wir gehen gleich morgen früh in die Bücherei und leihen dort aus, was dir an Lehrwerken fehlt. Ich möchte, dass du bis dahin eine Liste anfertigst“, sagte Vater, der sich überra­schend schnell mit meiner Niederlage abgefunden hatte. Ich nickte ‑ halbherzig, zerstreut; denn ich musste die ganze Zeit an Lasse, den Sohn von Tante Hettys Nachbarn, denken und an die Wattwan­derungen, die wir während der letzten Sommerferien fast täglich unternommen hatten, auf eigene Faust, was nicht ungefährlich war; aber Lasse kannte sich in der Schlickwelt besser aus als in seinen Hosentaschen, weil sein Onkel Harm der beste Wattführer auf der Insel war. Lasse und ich hatten nicht nur eine Menge Spaß miteinander; ich habe auch viel von ihm gelernt – über die Tiere, die im Watt leben, und über die artenreiche Vegetation dieses faszinierenden Lebensraums.
Die kleine Insel Föhr, wohin man mich damals verbannt hatte und auf der ich nun, nach fast dreißig Jah­ren, Urlaub machen wollte, liegt zwischen Sylt und Langeneß und gehört zu den Nordfriesischen In­seln. Tante Hetty, Vaters älteste Schwester, bewohnte dort ein Friesenhäuschen, das in Groß-Dun­sum, einem kleinen Dorf unweit der Küste, stand.

Föhr war wirklich schön, viel zu schön, um pausenlos zu lernen, und ich hegte die Absicht, mir Frei­räume zu schaffen, das war lebenswichtig; Tante Hetty missfiel es eh, wenn man pausenlos über Bü­chern hockte; aber das blieb unser Geheimnis.
Am folgenden Tag fuhren wir los. Kaum dass wir unsere Füße auf die Fähre gesetzt hatten, kletterte ich aufs Oberdeck, während Mutter, Vater und Alec das Bordrestaurant aufsuchten, um einen Imbiss zu nehmen. Es war windstill an jenem Tag, und die vom Himmel herabstrahlende Sonne verlieh dem Wasser einen feinen Goldschimmer. Ich wollte mich gerade in einen der Deckstühle fallen lassen, als ich Lasse entdeckte. Er lehnte an der Reling und starrte ins Wasser. Ich lief freudig auf ihn zu und wollte ihn begrüßen, aber Lasse hob seinen Kopf, als erwache er aus einer tiefen Bewusstlosigkeit, und ich erschrak vor der Düsterheit seines Blicks, der an mir vorbei übers Meer glitt.
„Freust du dich denn nicht, Lasse?“, fragte ich aufgeregt. „Ich bleibe fast zwei Wochen auf der Insel. Wir könnten wieder übers Watt ...“ Ich packte seinen Arm, und diese Berührung schreckte ihn auf.
„Ira?“, fragte er mit abwesender Miene. „Was tust du hier?“
„Sie schicken mich zu Tante Hetty ‑ zum Lernen. Ich habe einen Blauen Brief bekommen“, hauchte ich mit kleinlauter Stimme.
„Ach so“, brummte Lasse. Er schien sich nicht im mindesten über meine Gegenwart zu freuen, und ich drehte mich brüsk um, wollte das Deck verlassen; wollte ihn nie mehr wiedersehen, als mich kurz vor der Treppe seine Stimme erreichte: „Warte, Ira. Es ist nur ... also, ich hab ihn gesehen, zwei Mal schon. Und dann diese, diese ...“ Er stockte, seine Worte klangen dunkel und geheimnisvoll; aber ich fiel ihm, über alle Maßen erleichtert, dass er seine Sprache wiedergefunden hatte, ungeduldig ins Wort: „Wen hast du gesehen, Lasse? Den Schimmelreiter? Dann bist du in bester Gesellschaft. Das ist schon vielen Leu­ten passiert.“
„Unsinn, Ira.“ Lasse schüttelte verärgert den Kopf. „Meinen richtigen Vater, den ollen Seebären, habe ich auf dem Meer gesehen, nicht Mutters Mann, den du für meinen Vater hältst.“
„Na, das ist doch prima, Lasse“, rief ich erleichtert aus.
„Nee“, gab Lasse grimmig zur Ant­wort. „Das wäre es noch nicht mal, wenn der Alte nicht bereits seit zwei Jahren auf dem Kirchhof läge.“
„Aber wie kannst du ihn dann ...“ Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Mutter rief uns vom Niedergang zu, die Fähre lege jeden Moment an, ich solle mich schon mal ins Auto setzen. Lasse könne mitfahren.

Während der Fahrt nach Groß-Dunsum taute Lasse auf, und ich war erleichtert darüber, dass er von anderen Dingen sprach, als über seinen verstorbenen Vater, den er auf dem Meer gesehen haben wollte.
„Fährst du mit deinen Eltern noch irgendwo hin, solange Ferien sind, Lasse?“, erkundigte sich Mutter scheinheilig.
„Nö“, gab Lasse unbefangen zur Antwort. „Wir bleiben zu Hause. Es gibt jede Menge Arbeit auf dem Hof; wir haben gestern zwei Dutzend Lämmer bekommen.“
„Ach, wie schön“, zeigte sich Mutter erleichtert. „Ira muss nämlich lernen. Sie hat einen Blauen Brief bekom­men.“ Alec sah von seinem Comicheft auf und kicherte verlegen.
„Ich staune, wie freigiebig du ver­trauliche Informationen über mich erteilst“, wandte ich mich an Mutter. Ihre Gefühllosigkeit war un­fassbar. Daran änderte auch nichts, dass Lasse über meinen Schiffbruch längst Bescheid wusste.
„Entschuldige, Ira“, säuselte Mutter, als habe sie unabsichtlich Verrat begangen, „aber ich wusste nicht, dass du vor Lasse Geheimnisse hast. Ihr seid doch wie Bruder und Schwester.“
„Hah, hah!“, machte ich, worauf Vater meinte, dass es allmählich reiche.

Wir saßen am Strand, Lasse und ich, und betrachteten den Plastikmüll, der mit der letzten Flut ange­schwemmt war. Ich hatte bis Mittag gelernt und wollte Tante Hetty in der Küche helfen; aber sie scheuchte mich hinaus, in den herrlichen Frühlingstag, zu Lasse, der draußen auf mich wartete.
„Hier haben sie gelegen“, sagte Lasse plötzlich, nachdem wir lange Zeit geschwiegen hatten.
„Wer?“, fragte ich erstaunt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.
„Die toten Seevögel“, stieß Lasse hervor. „Silbermöwen, Lachmöwen, Eiderenten ... Brar Ocken, unser Tierarzt, hat festgestellt, dass ihre Mä­gen mit Plastikresten vollgestopft waren. Sie haben zuviel von dem Zeug gefressen und sind elend verhungert.“
„Entsetzlich“, sagte ich. „Wie muss es da erst den Fischen ergehen.“
„Das kannst du laut sagen, Ira“, sagte Lasse und zog ein grimmiges Gesicht, bevor er weitersprach: „Einen Tag zuvor habe ich Strandgut gesammelt, und als ich meine Augen übers Meer schweifen ließ, entdeckte ich in einiger Entfernung ein Boot auf dem Wasser, worin mein Alter stand und mich hasserfüllt anstarrte. Ich habe mich fast zu Tode erschrocken. Und am nächsten Morgen dann plötzlich diese toten Vögel überall am Strand.“
„Das muss in keinem Zusammenhang stehen, Lasse“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Ach, Ira, wenn du wüsstest“, seufzte er. „Als ich fünf war, hat der Alte meinen Hund Tuffi in einen Sack gesteckt und im Meer ertränkt. Mutter und ich hingen sehr an dem drolligen Tier, das konnte er nicht ertragen. Er war auf jeden eifersüchtig, der in Mutters Nähe kam; mich hasste er am meisten. Am liebsten hätte er mich zu Tuffi in den Sack gesteckt und auch im Meer versenkt. Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als Mutter sich endlich von ihm getrennt hat.“
„Woran ist dein Vater denn gestorben?“, fragte ich betroffen. „Du sagtest, er liege auf dem Kirchhof.“
„Am Hass“, erwiderte Lasse. „Der ist am Hass zugrunde gegangen. Kurz vor seinem Tod verfolgte er sogar Mutter mit seiner öden Feindseligkeit, weil sie wieder heiraten wollte. Tagein, tagaus saß er betrunken im Wirtshaus, und wann immer ich ihm über den Weg lief, beschimpfte er mich auf übelste Art und Weise. Deshalb achtete Mutter in jener Zeit peinlich darauf, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit daheim war. Sie hatte wahnsinnige Angst, er könne mir Schlimmeres antun. Aber das ist lange her. ‑ Als ich eine Woche später mit Sören Hinrich auf dem Uferweg zum Kurgartensaal der Schutzstation "Wattenmeer“ entlangfuhr, tauchte das schedderige Boot zum zweiten Mal auf. Mein Alter stand breitbeinig auf den Planken, seine boshaf­ten Augen glühten wie schwelende Kohlen zu mir herüber; er hatte seinen rechten Arm erhoben und drohte mir mit der Faust.
„Siehst du den alten Kahn dort drüben?“, fragte ich Sören aufgeregt.
„Wel­chen Kahn, Lasse?“ Sören suchte mit aufgerissenen Augen das Wasser ab. „Ich sehe nichts. Du träumst, Kumpel. Oder leidest du unter Halluzinationen? Zuviel Weinbrand getrunken oder eine nach der an­deren gepafft?“
Wir waren von unseren Rädern gestiegen und schauten aufs Meer hinaus.
„Es düm­pelt parallel zum Uferweg auf dem Wasser, keine zwanzig Meter von uns entfernt“, stammelte ich. Ich gab mir keine Mühe, die Verzweiflung in meiner Stimme zu verbergen.
„Nein, wirklich nicht, Lasse, dort schwimmt weit und breit kein einziger Kahn. Die See ist leergefegt wie die Straßen auf Föhr zwei Stunden vor der Sonntagsmesse. Lass uns weiterfahren, sonst versäumen wir den Anfang des Vortrags.“
„Welcher Vortrag?“, fragte ich, und Lasse sagte: „Ein Meeresbiologe wollte sich zum Thema „Nordsee in Gefahr“ äußern. Und nachdem die Sache mit den toten Seevögeln passiert war, mussten wir da unbedingt hin“
„Klar“, sagte ich. „Und wie hat dir das Referat gefallen?“
„Es war aufschlussreich.“ Lasse nahm seine Sonnenbrille ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ex­perten haben bewiesen, dass selbst stark verdünnte Säureabfälle, die in der Nordsee verklappt wer­den, bei einigen Fischarten Krankheiten verursachen. Mir will einfach nicht in den Kopf, Ira, dass man Schadstoffe im Meer versenkt und gleichzeitig Nahrung daraus gewinnen will.“
„Wer weiß, was sonst noch alles im Meer landet, Lasse; dagegen sind Säureabfälle womöglich kleine Fische“, unkte ich. Wir trennten uns an jenem Abend später als üblich, nachdem wir beschlossen hatten, am über­nächsten Tag, einem Mittwoch, übers Watt nach Amrum zu wandern. Tante Hetty wollte mit mir den Dienstag in Wyk verbringen, und Lasse hatte seinem Vater versprochen, ihm bei der Schafschur be­hilflich zu sein.
Nachdem Lasse sich am Donnerstag nicht blicken ließ, obwohl wir verabredet waren, machte ich mich am nächsten Tag auf den Weg zum Hof seiner Eltern, der keine hundert Meter von Tante Hettys Häuschen entfernt lag. Als ich mich dem Gehöft näherte, lief mir Sören über den Weg.
„Du kommst zu spät, Ira. Lasse liegt im Krankenhaus“, sagte er.
„Seit wann?“, fragte ich entgeistert.
„Seit gestern“, erwiderte Sören mit ernster Miene. „Seine Mutter sagt, er sei am Mittwochabend zum Strand aufgebrochen, um dort auf dich zu warten. Als er um Mitternacht immer noch nicht zu Hause war, habe sie das Haus deiner Tante aufgesucht. Dort sei alles dunkel gewesen. Ihr hättet wohl schon geschlafen. Nachdem sie und ihr Mann stundenlang in den Dünen nach Lasse gesucht haben, fanden sie ihn endlich am Strand; er lag bewusstlos hinter der alten Seetonne und blutete aus einer tiefen Kopfwunde. Vermutlich wurde er zusammengeschlagen.“
Ich ließ mich wie betäubt auf den Gras­streifen neben dem Rapsfeld fallen.
„Sein Vater kann das nicht gewesen sein. Der ist längst tot“, murmelte ich.
„Das Boot, das er gesehen haben will ... hat er dir davon erzählt?“, fragte Sören aufge­regt.
„Ja“, sagte ich tonlos. „Aber das kann höchstens ein Omen gewesen sein, ein schlechtes freilich. Dürfen wir ihn besuchen?“ Meine Stimme flehte um Zustimmung, aber Sören schüttelte heftig seinen Kopf.
„Auf gar keinen Fall. Seine Mutter sagt, er müsse starke Medikamente schlucken. Lasse sei von einer furchtbaren Angst besessen und wisse nicht, was am Strand geschehen sei. Besuche würden ihn zu sehr aufregen.“
„Wer auf dieser Insel könnte Interesse daran haben, Lasse zu schaden, Sören?“, fragte ich fassungslos.
„Ich wüsste jemanden, aber der liegt seit zwei Jahren auf dem Kirch­hof“, gab er trocken zur Antwort und strich sein kinnlanges Haar hinters Ohr. „Gestern kam ein Kommissar vom Festland herüber, der den Fall untersuchen soll; aber unser Dorfsheriff hat meinem Vater erzählt, es gebe keine einzige Spur. Es sei wie verhext.“

Ich sah Lasse in jenen Ferien nicht wieder. Tante Hetty schrieb ein Jahr später, Lasse sei in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Es wäre fraglich, ob er jemals wieder gesund werde. Seit­her hatte ich nichts mehr von Lasse gehört, und oft war mir zumute, als hätte es ihn und unsere gemeinsame Zeit am Meer niemals gegeben, als hätte ich alles nur geträumt.

Die Frau war längst verschwunden; aber Lasse stand immer noch auf demselben Fleck und fixierte die Zigarette in seiner Hand. Ich war von der Bank aufgestanden und auf ihn zugegangen.
„Seit wann rauchst du, Lasse?“, erkundigte ich mich vergnügt.
Lasse sah mich an und fragte nach einer Weile: „Was tust du hier, Ira?“
„Das hast du mich schon mal gefragt, vor dreißig Jahren.“ Ich war plötzlich aufgeregt und hatte feuchte Hände.
„Stimmt“, grinste Lasse. „Damals führte dich ein Blauer Brief auf die Insel – und heute?“
„Weiß ich selber nicht“, gab ich zu. „Möglich, dass ich alte Erinnerungen auf­frischen will.“

„Was ist an jenem Abend passiert, Lasse? Wer hat dir die Kopfwunde zugefügt?“, fragte ich, als wir wenig später am Meer saßen.
„Keine Ahnung“, sagte er, „... ist mir mittlerweile auch egal. Ich saß noch eine Weile am Strand, nachdem du fort warst, als plötzlich mein Alter in der Ferne auftauchte. Er hatte das Boot an Land gezogen und wollte es vertäuen. Als er mich erspähte, hielt er inne, richtete sich auf und rannte auf mich zu. Es dämmerte schon, und mich packte eine Heidenangst; ich sprang auf, schnappte mir eine Planke, die im Sand lag, und erwartete ihn. Mehr weiß ich nicht, bin wohl ohnmächtig geworden. Das könne jedem passieren, sagten die Klinikärzte, ich meine, dass man Wahnvorstellungen bekommt. Das Schicksal könne jedem Menschen Wunden zufügen, die tiefe Ängste erzeugen. Bei Kindern und Jugendlichen würden innere und äußere Verletzungen doppelt schwer wiegen. Aber ich bin längst davon geheilt.“
„Das ist gut“, seufzte ich. „„Irgendwann wird alles wieder wie früher.“
Lasse sah mich fragend an. „Unser Meer, Lasse, ich meine unser Meer“, stammelte ich.
„Klar doch,“, griente er. „Wenn niemand mehr Industrieabfälle und Schwermetalle in die Nordsee kippt, von Ölrückständen und dem ganzen Plastikmüll mal ganz zu schweigen. Wollte ich jetzt alle Schadstoffe, die im Meer landen, aufzählen, Ira, wäre ich morgen noch nicht fertig. Und dann die vielen Geisternetze, die munter weiterfischen.“
„Welche Netze?“, fragte ich.
„Herrenlose Fischer­netze, die Meeressäuger und Fische zur Strecke bringen“, erwiderte Lasse.
„Aber das Wasser sieht heute richtig romantisch aus, mit der roten Abendsonne, die langsam darin versinkt. Das täte sie ge­wiss nicht, wären Hopfen und Malz bereits verloren“, wandte ich ein. Lasse wollte sich ausschütten vor Lachen.
„Wahrscheinlich hast du Recht, Ira“, sagte er, nachdem er sich endlich beruhigt hatte. „Das Meer hat einen längeren Atem als wir Menschen. Aber glaube ja nicht, das es unsterblich ist. Wenn der Abfall nicht bald beseitigt wird, versinken unsere Ozeane und Meere im Plastikmüll. Aber was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte: Bist du in jenem Sommer eigentlich versetzt wor­den?“
„Klar“, sagte ich, „kleine Fische“, und lehnte meinen Kopf an seine Schulter, „aber ich habe dich die ganze Zeit über schrecklich vermisst.“

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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