„Gib es auf. Er kann dich nicht hören.“
Tröstend legte Gelon seine Hand auf die Schulter seiner Tochter, die in der letzten halben Stunde nicht müde geworden war, immer wieder Michaels Namen zu rufen.
„Wenigstens sind wir drei zusammen geblieben. Wenn es das Schicksal will, werden wir Michael finden.“
Aufmunternd drückte er die Schulter seiner Tochter. Glyfara nickte mit bitterem Gesichtsausdruck. Sie dachte an den seltsamen Wind, der sie an diesen Ort katapultiert hatte und fragte sich, warum ausgerechnet Michael wo anders gelandet war. Vielleicht lag es daran, daß er ein Fremder war in dieser Welt und die Magie bei ihm anders wirkte. Was auch immer die Ursache gewesen war, fest stand, daß er verschwunden war, und sie fühlte sich hierfür verantwortlich. Nur durch ihre Schuld war er überhaupt erst in diese Situation geraten. Und jetzt war er irgendwo in diesen unheimlichen Gängen verschollen, von denen noch nicht einmal ihr Vater etwas gehört hatte.
„Und wenn das Schicksal etwas anderes bestimmt ....“
Sie ließ den Satz bewußt unausgesprochen, aber sowohl ihr Vater als auch der Wühler verstanden, was sie sagen wollte. Aber keinem von ihnen fiel ein aufmunterndes Wort ein. Dafür war die Situation einfach zu ernst, zumal niemand von ihnen wußte, wo sie gelandet waren. Der stickigen, abgestandenen Luft nach zu urteilen, die ihnen das Atmen erschwerte, befanden sie sich irgendwo tief unter der Erde. Selbst die Fackel, die Glyfara eisern während ihres Sturzes festgehalten hatte und die auf wundersame Weise nicht verloschen war, brannte nur zögerlich in der dicken Luft.
„Wir müssen weiter“, mahnte Gelon und riß seine Tochter damit aus der Betrachtung einer Abzweigung, die sich abwärts in der Dunkelheit verlor.
Wie bei allen anderen Abzweigungen, an denen sie vorbeigekommen waren, hatte sie auch bei dieser Michaels Namen gerufen.
Wieder mit dem gleichen niederschmetternden Ergebnis.
Schweigen.
Mit einem Seufzen setzte sie sich in Bewegung und folgte ihrem Vater. An der Spitze trabte der Wühler mit hoch erhobenem Kopf, wobei seine Nase unaufhörlich die abgestandene Luft prüfte. Glyfara war es ein Rätsel, wie der Wühler auf diese Weise den Weg zurück an die Oberfläche finden wollte, aber auf eine diesbezügliche Nachfrage hatte er nur geantwortet:
„Frischluft suchen.“
Glyfara hatte zwar ihre Zweifel, daß der Wühler den Weg nur anhand des Geruchs der Luft finden würde. Sie erinnerte sich allerdings, daß ihr Streitaxt bei der Durchquerung der Mine von zehn verschiedenen Begriffen für die Luft in einer Mine erzählt hatte. Er hatte ihr außerdem erklärt, daß jede Höhle atme und man nur dem Hauch des Atems folgen müsse, um zum Ausgang zu gelangen, vorausgesetzt, man besaß den nötigen Spürsinn, um diese feine Luftströmung wahrzunehmen. Vielleicht war der Wühler dazu ja in der Lage. Zumindest hatte dieser keine Zweifel an seinen Fähigkeiten, denn er führte die kleine Gruppe ohne zu zögern stetig aufwärts durch das Labyrinth.
Glyfara begann zum ersten Mal wieder ein wenig Zuversicht zu verspüren, als der Wühler plötzlich abrupt anhielt. Der Gang, dem sie bisher gefolgt waren, mündete an dieser Stelle übergangslos in eine Höhle, die der Größe nach einer kleinen Burganlage gleichkam. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft.
Nervös wandte sich Glyfara an den Wühler, der am Eingang stehen geblieben war und nun mißtrauisch in die tiefen Schatten der Höhle spähte.
„Was ist los?“
Zögernd wandte sich der Wühler Glyfara zu. Seine Augen drücken Besorgnis aus.
„Lebewesen“, brummte er. „Gefahr.“
Glyfara spürte, wie ihr ein Schauder langsam den Rücken hinunter glitt. Routinemäßig nahm sie ihren Bogen ab, wobei sie zugleich den Blick ihres Vaters suchte, doch der konnte auch nur mit den Achseln zucken.
„Gibt es einen anderen Weg?“, fragte er den Wühler, was dieser brummend verneinte.
„Dann müssen wir eben vorsichtig sein. Vielleicht haben wir ja Glück und gelangen unbemerkt hier heraus.“
„Optimist“, knurrte der Wühler. Auf leisen Sohlen betrat er die Höhle, gefolgt von den Gefährten, die sich unwohl umsahen.
Das Licht reichte nicht weit genug, um die dunklen Nischen entlang der Wände zu erhellen, aber Glyfara hätte schwören können, das sich dort mehr in der Dunkelheit verbarg, als bloßer Fels.
Die Höhle war ihr unheimlich.
Sie hatte das Gefühl, als würden sie eine erst kürzlich verlassene Stadt durchqueren.
Das plötzliche Knurren des Wühlers richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Mit gesenktem Kopf und gesträubtem Fell betrachtete er etwas, das vor ihm auf der Erde lag. Gelon und Glyfara gesellten sich zu ihm.
„Exkremente!“
Angewidert und stark beunruhigt betrachtete Glyfara den Fund des Wühlers.
„Scheiße“, bestätigte dieser brummend. „Noch warm.“
Gelon war derweil in die Knie gegangen und hatte den Fund näher in Augenschein genommen. Sein Gesichtsausdruck war besorgt, als er sich wieder aufrichtete und an die Gefährten wandte.
„Kobolde“, sagte er mit düsterer Stimme. Der Abscheu war ihm deutlich anzusehen. Glyfara spürte, wie ihr Nacken bei dieser Information zu prickeln begann. Sie hatte genug über die albtraumhaften Geschöpfe der ewigen Finsternis gehört, um zu wissen, daß es Selbstmord gleichkam, sich in ihr Territorium zu begeben.
„Glaubst du, sie wissen, daß wir hier sind?“
„So, wie du in der letzten halben Stunde gebrüllt hast, müßten sie schon taub sein, wenn sie es nicht wüßten. Wahrscheinlich machen sie bereits Jagd auf uns. Sollten sie uns erwischen, wird von uns nicht viel mehr übrig bleiben, als ein paar sauber abgenagte Knochen. Aber das ist nicht das einzige Problem.“
„Noch eins?“
Der Wühler sah zunehmend besorgter aus. Die Aussicht, demnächst über abgenagte Knochen zu verfügen, war für ihn schon beunruhigend genug. Seine Augen hefteten sich auf Gelon, dessen Gesichtsausdruck noch eine Spur finsterer wurde, als er fortfuhr.
„Kobolde sind ein extrem lichtscheues, hinterhältiges Gesindel, das sich sehr tief unter der Erdoberfläche aufhält und selbst von Zwergen nur selten angetroffen wird. Was das für unsere Lage bedeutet, brauche ich wohl nicht auszuführen.“
„Beeilen“, knurrte der Wühler.
Innerlich angespannt machten sich die Gefährten wieder auf den Weg. Nachdem Glyfara nunmehr Gewißheit hatte, daß die Höhle bewohnt wurde, glaubte sie erst recht, unheimliche Dinge am Rande des Lichtkreises zu entdecken.
Groteske Steingebilde tauchten in den Schatten auf und schienen ihr aus der Dunkelheit heraus zuzuflüstern, daß ihr Schicksal besiegelt war. Unterwegs stießen sie nun immer häufiger auf Exkremte, was ihnen deutlich machte, daß sie geradewegs der Spur der unheimlichen Höhlenbewohner folgten. Hinzu kam ein penetranter Gestank, der mit jedem Schritt schlimmer wurde.
„Die könnten sich ruhig öfter mal waschen!“, fluchte Glyfara, die sich inzwischen ihren linken Ärmel gegen den Gestank vor das Gesicht hielt, ohne daß damit eine spürbare Verbesserung einher ging.
Wenigstens wurden sie auf ihrem Weg nicht behelligt, auch wenn Glyfara manchmal das Gefühl hatte, als würden in den Schatten um sie herum ein paar buckelige Schemen hin und her huschen. Zwar war sie überzeugt davon, daß dies nur eine Ausgeburt ihrer überreizten Fantasie war, gleichwohl hielt sie den Bogen griffbereit. Dankbar atmete sie auf, als sie unbeschadet die andere Seite erreichten. Obwohl nur wenige Minuten vergangen waren, seit sie die Höhle betreten hatten, kam es ihr so vor, als hätten sie eine halbe Ewigkeit für die Durchquerung benötigt. Allerdings tat sich nun ein neues Problem vor ihnen auf.
Gleich drei Gänge gähnten in der lotrecht aufragenden Höhlenwand. Alle drei führten in unergründliche Schwärze.
„Und? Was sagt deine Nase?“, fragte Glyfara den Wühler, der daraufhin, statt einer Antwort zu geben, zögernd in dem mittleren Gang verschwand. Nach ein paar Sekunden tauchte er bereits wieder auf, schüttelte mißbilligend sein pelziges Haupt und betrat auf leisen Pfoten sodann den rechten Gang. Schon nach wenigen Schritten wurde er von der Dunkelheit verschluckt. Anders als bei der Erkundung des ersten Ganges, blieb der Wühler diesmal länger verschwunden. Glyfara begann sich bereits Sorgen zu machen und tastete nervös nach ihrem Bogen, als die Dunkelheit den Wühler wieder ausspuckte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er gerade den Pfad zur ewigen Verdammnis erkundet zu haben. Das war nicht gerade ermutigend. Damit blieb nur noch der linke Gang, dem sich der Wühler nun mit einem verächtlichen Schnauben zuwandte. Zurück blieben die Gefährten, auf deren angespannten Nerven ein virtuoser Musiker ein interessantes Harfenkonzert hätte geben können.
Nervös sah die Elbin sich um, aber der Fackelschein reichte nicht weit. Jenseits des schmalen Lichtkreis herrschte die ewige Finsternis des riesigen Gewölbes, die sie allmählich ankroch. Ihr Nacken prickelte bei dem Gedanken, dass sie womöglich in diesem Moment von geschlitzten Koboldaugen als Beute aus der schützenden Dunkelheit heraus taxiert wurden.
Kobolde.
Allein schon der Gedanke an die gefürchteten Kreaturen, die selbst Zwergen Respekt einflößten und sie davon abhielten, ihre Stollen zu tief in den Schoß der Erde zu bohren, ließ sie frösteln. Entsprechend groß war ihre Erleichterung, als der Wühler endlich wieder auftauchte und mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck auf sie zutrabte.
„Nun sag schon, welchen Gang nehmen wir?“, drängte Glyfara ungeduldig.
„Den, der am meisten stinkt“, knurrte der Wühler frustriert.
„Warum frage ich bloß?“
Mit geschickten Fingern erneuerte Taren den blutdurchtränkten Verband am Arm eines jungen Soldaten, der versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Taren wußte, daß er trotz der tiefen Wunde bei dem nächsten Angriff wieder auf dem Wehrgang stehen und die Festung mit seinem Leben verteidigen würde. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, während ihre Gedanken zurück zu dem Gespräch mit Grimmbart wanderten. Der Zwerg war alles andere als der Mann ihrer Träume, und doch hatte er etwas in ihr berührt, das noch keinem vor ihm gelungen war. Die dunklen Augen, die sie voller Sorge betrachtet hatten und seine Hilflosigkeit, wenn sie ihm näher kam, hatten etwas Anrührendes. Tief in ihrem Herzen wußte sie, daß Grimmbart sie liebte, es aber nicht ausdrücken konnte. Er war eben ein Krieger und kein Poet. Mit einem Nicken entließ sie den jungen Soldaten und wandte sich dem nächsten Patienten zu, der eine üble Kopfwunde davon getragen hatte. Sorgsam machte sie sich daran, den Verband zu erneuern, während sie sich in innerlich fragte, was sie selbst empfand? Vor ihrem geistigen Auge liefen die Bilder ihrer gemeinsamen Reise ab. Mit leichter Wehmut dachte sie an die Abende zurück, an denen sie mit Grimmbart in der Handhabung ihrer Waffen um die Wette geeifert hatte und er ihr vergeblich versucht hatte, das Führen der schweren Streitaxt zu erläutern. Seine schwieligen Hände hatten die ihren völlig unbefangen umschlossen, als er ihr die typischen Angriffs- und Verteidigungstechniken mit der Streitaxt gezeigt hatte. Damals, als zwischen ihnen noch eine Unbefangenheit gewesen war, die sie die drohenden Gefahren des kommenden Krieges hatte vergessen lassen. Aber das war Vergangenheit. Unwiderruflich dahin. Das amüsierte Funkeln in den Augen Grimmbarts, wenn sie ihn einmal wieder im Messerwerfen geschlagen hatten, war einem dauerhaften, düsteren Ausdruck gewichen, der ihr mehr Angst einjagte, als der Angriff der vergangenen Nacht. Ein unterdrückter Schmerzensschrei ihres Patienten riß sie aus ihren Erinnerungen. Sie murmelte ein verlegenes „Entschuldigung“, als sie erkannte, daß sie beim Zuziehen des Knotens ihre Gefühle nicht unter Kontrolle gehabt und ihn bei den Gedanken an ihre fragwürdige Zukunft unbewußt zu fest zu gezogen hatte. Während sie sich daran machte, den nächsten Verletzten, einen älteren Soldaten mit einer oberflächlichen Stichwunde im Oberschenkel zu verarzten, kehrten ihre Gedanken zu Grimmbart zurück. Verwirrt mußte sie sich eingestehen, daß sie sich ein Leben ohne den knurrigen Zwerg, der sie an Länge kaum überragte, nicht mehr vorstellen konnte. Sie waren zwei einsame Seelen, die sich in dieser Welt des Chaos gefunden hatten und nicht wußten, wie sie damit umgehen sollten. In seiner Nähe fühlte sie sich sicher und geborgen, und das war ein Gefühl, das sie nicht mehr missen wollte. Es war, als hätte sich etwas von seiner Stärke auch auf sie übertragen, die ihr nun die Kraft gab, dem Grauen des Krieges ins Gesicht zu sehen. Mit einem müden Lächeln entließ sie den älteren Soldaten und sah ihm nach, wie er durch die Menge zum Ausgang humpelte. Ihr Blick glitt über die Verletzten, die in dem provisorischem Krankenhaus noch auf ihre Behandlung warteten. Vielen war die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, sei es wegen der Schwere ihrer Verletzungen oder sei es wegen der Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Taren bemühte sich nach Leibeskräften, Optimismus auszustrahlen, als sie sich dem nächsten Verletzten zuwandte, einem Jungen, der kaum dem Kindesalter entwachsen war und tapfer einen blutigen Verband gegen seine rechte Seite drückte, wo ein Bolzen seinen Körper in Hüfthöhe glatt durchschlagen hatte.
„Ist nur ein Kratzer, ich werde weiter kämpfen können“, verkündete er mit zitternder Stimme, die seine Worte Lügen strafte. Taren nickte und versuchte, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. Sie sah die Angst in seinen Augen, die in dem vom Blutverlust bleichen Gesicht wie zwei Sterne in der Dunkelheit leuchteten und ihr bestätigten, daß nur seine jugendliche Entschlossenheit ihn noch aufrecht hielt.
Sie bewunderte ihn.
So jung, und schon so tapfer.
Würde sein Körper nach dem nächsten Angriff den Wall der Gefallenen unterhalb der Festungsmauer weiter erhöhen?
Würde überhaupt einer von ihnen den nächsten Morgen erleben? Vermutlich nicht.
Der Feind war ihnen um ein Vielfaches überlegen, grausam, militärisch diszipliniert und besessen von dem Wunsch, sie alle auszurotten.
Und was hatten sie ihm entgegenzusetzen?
Eine unterlegene Anzahl von Soldaten, von denen die meisten noch nie einen Krieg miterlebt hatten, unterstützt von einem Haufen rekrutierter Zivilisten, bewaffneter Kinder und Alten.
Es war aussichtslos.
Die Frage war nicht, ob sie gewinnen konnten, sondern wie und wann sie sterben würden.
Verzweiflung drohte sie zu überfluten, während sie mechanisch den letzten Streifen des Verbands ablöste. Die Wunde sah schlimm aus. Energisch drängte sie die Tränen zurück und biß sich so stark auf die Lippe, bis sie den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund spürte. Sie durfte keine Schwäche zeigen, aber der Junge schien trotzdem zu spüren, was in ihr vorging.
„Hab keine Angst, wir werden sie zurückschlagen.“
„Ja, das werden wir, aber halte dich bitte im Hintergrund und kümmere dich um diejenigen, die zu alt sind, um noch zu kämpfen.“ Tränen glitzerten in Tarens Augen, als sie ihm ins Gesicht sah und flüchtig mit der Hand durch sein zerzaustes Haar fuhr. Ihr Seele schrie vor Kummer bei dem Gedanken, daß auch dieser tapfere Junge wahrscheinlich sein Leben bei dem nächsten Angriff irgendwo auf den Wehrgängen sinnlos aushauchen würde. Es waren einfach schon zu viele Unschuldige gestorben.
„Versprich mir das!“
Zögernd stimmte der Junge zu.
„Versprochen, aber wenn der Feind unsere Mauern überwindet, werde ich helfen, ihn zurückzudrängen.“
Taren nickte nur. Sollten die Mauern genommen werden, würde es nicht mehr darauf ankommen, wo sie sich gerade aufhielten. Sie würden ohnehin alle sterben. Ihre einzige Hoffnung lag nun in den Händen der kleinen Gruppe, die aufgebrochen war, um dem Feind in den Rücken zu fallen und ihn dahin zu verbannen, wo er hergekommen war. Bitte enttäuscht uns nicht, betete sie stumm, dann griff sie zum Tiegel mit reinem Alkohol, um die Wunde zu säubern.
„Hier kommen wir nie wieder heraus!“
Fluchend beförderte Glyfara einen Kieselstein mittels eines markigen Tritts aus dem Weg. Seit einer guten halben Stunde bewegten sie sich nun schon durch den stinkenden, gewundenen Tunnel, ohne auch nur den Hauch von Licht am Horizont zu sehen. Inzwischen hätte es Glyfara nicht verwundert, wenn man ihr mitgeteilt hätte, daß der Schlüssel sie geradewegs ans andere Ende der Welt befördert hatte. Trostloser konnte es dort jedenfalls auch nicht aussehen.
„Was sagt deine Nase?“, wandte sie sich an den Wühler, der noch immer die Gruppe anführt.
„Stinkt“, kam prompt die Antwort, ohne daß der Wühler auch nur den Kopf gewendet hatte. Glyfara seufzte. Das war eine Antwort ganz nach ihrem Geschmack. Wenn sie wenigstens Michael wiedergefunden hätten, aber der blieb verschollen. Sie fröstelte bei dem Gedanken, was Michael wohl ganz auf sich allein gestellt empfinden mußte, vorausgesetzt, er war überhaupt noch in der Lage, etwas zu empfinden. Ohne große Hoffnung spähte sie gleichwohl in jeden Seitengang, den sie passierten, aber Michael blieb verschollen. Tief in Gedanken versunken bemerkte sie daher auch erst im letzten Moment, daß ihr Vater plötzlich stehen geblieben war und warnend die Hand hob. Von einer Sekunde auf die andere war Glyfara wieder hellwach.
„Was ist los?“
Mit kalter Entschlossenheit umklammerte sie den Griff ihres Bogens, während ihr Blick an ihrem Vater vorbei den Tunnel vor ihnen absuchte. Zu ihrer Überraschung konnte sie den Wühler nirgends entdecken.
„Irgend etwas stimmt nicht. Der Wühler ist voraus gelaufen, um die Lage zu sondieren.“
„Glaubst du, die Kobolde lauern uns auf?“
„Ich weiß es nicht. Ihre Spur verlor sich zwar schon vor einiger Zeit in einer der größeren Seitengänge, die wir passiert haben, aber das muß nichts bedeuten. Vielleicht lauern hier unten noch ganz andere Gefahren. Möglicherweise hat der Schlüssel hier unten ein paar Tore geöffnet, die besser verschlossen geblieben wären. Wie auch immer, wir sollten vorsichtig sein und abwarten, was der Wühler uns mitteilen wird.“
Glyfara nickte, auch wenn es ihr schwer fiel, untätig zu bleiben. Schweigend warteten sie und lauschten auf verdächtige Geräusche. Aber außer dem beständigen Prasseln der Fackel war nichts zu hören. Nach ein paar Minuten quälenden Wartens registrierte Glyfara zuerst, daß sich etwas näherte.
„Ich glaube, der Wühler kommt zurück“, informierte sie ihren Vater. Glyfaras Ohren hatten sich nicht getäuscht. Einen Augenblick später tappte der Wühler in den Lichtschein der Fackel und kam gleich zur Sache.
„Michael, Gefahr“, teilte er den Gefährten mit, wobei er sich hingebungsvoll mit der rechten Hinterpfote am Kopf kratzte.
„Du hast ihn gefunden! Nun erzähl schon, wo ist er?“
Aufgeregt drängte Glyfara sich vor und ging vor dem Wühler in die Knie, wobei sie beinahe seinen bepelzten Kopf zwischen ihre Hände genommen und ihn geschüttelt hätte, um schneller Informationen von ihm zu erhalten. Nur die scharfen Zähne des Wühlers, der über eine solche Behandlung sicher nicht erfreut gewesen wäre, hielten sie davon ab.
„Anderer Gang, verfolgt, Kobolde.“
„Worauf warten wir noch, wir müssen ihm helfen.“
Entschlossen richtete sie sich auf und spürte plötzlich die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter.
„Unüberlegtheit ist der frühe Tod des Kriegers“, erinnerte er seine Tochter an eine alte Kriegerweisheit. „Wir sollten uns erst mehr Informationen verschaffen, bevor wir uns zu einer übereilten Handlung hinreißen lassen. Also sehen wir uns das Ganze erst einmal an.“
Der Wühler ließ ein zustimmendes Brummen ertönen, dann drehte er sich um und tappte in den dunklen Tunnel hinein. Die Gefährten folgten dicht auf. Nach ein paar hundert Metern wurde der Wühler langsamer, bis er schließlich ganz anhielt und sich zu den Gefährten herum drehte. „Wegkreuzung, kein Licht!“, brummte er. Als die Gefährten ihn nur unverständlich ansahen, tappte er auf Glyfara zu, die die Fackel entschlossen in der linken Hand hielt, hob den Kopf und stupste ihre Hand mit der Fackel an. Dann senkte er den Kopf zum Boden hin.
„Licht zurücklassen“, knurrte er.
„Ohne Licht bin ich blind“, hielt Glyfara ungehalten entgegen, klemmte die Fackel aber trotzdem sorgfältig zwischen zwei Felsbrocken am Boden fest. „Aber ich werde sie mir wiederholen“, maulte sie. Dann folgte sie dem Wühler, der begleitet von ihrem Vater, bereits voraus in der Dunkelheit verschwunden war. Mit jedem Meter wurde es nun finsterer, bis sie kaum noch die Hand vor Augen sehen konnten. Glyfara wollte sich gerade beklagen, als plötzlich eine leise, körperlose Stimme aus der Dunkelheit an ihr Ohr drang.
„Michael“, wisperte der Wühler. Glyfara kniff die Augen zusammen und entdeckte voraus ihren Vater der gemeinsam mit dem Wühler an einer Wegkreuzung verharrte. Die beiden mußten einen guten Grund haben, warum sie sich nicht zu erkennen gaben. Eilig schloß sie auf und spähte nun ebenfalls vorsichtig in den finsteren Gang, der rechter Hand von ihrem Tunnel abzweigte. Zu ihrer Freude sah sie in der Ferne einen Lichtpunkt tanzen. Michael! Wer sonst sollte hier unten unterwegs sein. Ihre Freude erhielt jedoch einen argen Dämpfer, als ihr Vater seine Einschätzung der Lage von sich gab.
„Das ist schlimmer, als ich befürchtet habe.“
Seine Stimme war heiser vor Entsetzen und vermittelte Glyfara ein flaues Gefühl im Magen. Irgend etwas schien ganz und gar nicht zu stimmen. Angesichts dieser beunruhigenden Worte wandte sie sich Gelon zu.
„Wie meinst du das? Das kann nur Michael sein. Warum machen wir ihn nicht auf uns aufmerksam?“
„Sieh genauer hin?“, forderte Gelon sie ungehalten auf und wies mit der Hand in die Dunkelheit. Erneut kniff die Elbin die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den schwankenden Lichtpunkt. Den hastigen Bewegungen der Flamme nach zu urteilen, hatte ihr Träger es sehr eilig.
Aber warum?
Sie wollte gerade ratlos aufgeben, als ihr gewahr wurde, was sich hinter dem Lichtpunkt in der Dunkelheit verbarg.
Eine brodelnde Masse füllte den gesamten Gang aus.
Sie konnte unmöglich Einzelheiten ausmachen, aber der Anblick erfüllte sie auch so mit einem Grauen, das sie nicht beschreiben konnte.
„Bei Lyras geflügelten Pfeilen, was ist das?“, hauchte sie entsetzt.
„Kobolde“, erklärte ihr Vater mit ungewohnt resignierter Stimme. „Es müssen hunderte sein, und dein Freund führt sie geradewegs auf unsere Spur.“
Grimmbart stand auf dem südlichen Wehrgang und beobachtete besorgt die Aktivitäten des Feindes. Irgend etwas ging jenseits der Hügel im Süden vor sich, seit der Himmel endgültig aufgerissen war und die Sonne wieder ihre wärmenden Strahlen zur Erde entsenden konnte. Vor kurzem hatte er das Brechen von Bäumen vernommen, und gelegentlich drang rhythmisches Klopfen mit dem Wind zu ihnen herüber. Gerne hätte Grimmbart einen Späher entsandt, aber noch immer umschloß die Armee des Feindes die Festung wie ein Ring, so daß dies einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Sein Blick wanderte zu dem befestigten Tor unterhalb des Ganges. Dies war noch immer der Schwachpunkt der Festung, und dem Feind war dies wohl bewußt. Grimmbart konnte sich gut vorstellen, daß ihre Gegner in dieser Minute damit beschäftigt waren, etwas zu bauen, was ihnen helfen würde, dieses Hindernis zu überwinden. Er zumindest hätte das getan. Er fragte sich nur, was er dagegen unternehmen konnte?
Das Pech war in der vergangenen Nacht nahezu aufgebraucht worden, und mit Bolzen und Pfeilen allein würden sie eine zu allem entschlossene Truppe, die vielleicht auch noch eine massive Ramme mit sich führen würde, nicht aufhalten können. Die letzte Hoffnung lag damit in den versteckten Sprengladungen. Sollte die Sonne den Tag über scheinen, bestünde eine gute Chance, daß die Zündschnüre am Abend trocken wären. Dann müßte der Feind nur noch den Weg über die Verstecke nehmen und die Bogenschützen im richtigen Moment ihre Brandpfeile verschicken. Grimmbart seufzte. Für seinen Geschmack lagen in diesem Plan zu viele Unwegsamkeiten. Sie mußten sich dringend eine zusätzliche Strategie überlegen. Sein Blick fiel auf die zerstörte Balliste nahe am Tor. Das Schicksal meinte es einfach nicht gut mit ihnen. Von allen Ballisten war die am Südtor diejenige, die sie am dringendsten gebraucht hätten.
„Ich schätze, unsere Freunde basteln an einer neuen Ramme.“
Erschrocken zuckte Grimmbart zusammen, als er völlig unerwartet Grüneichs Stimme neben sich vernahm. Er hatte den Troll nicht kommen gehört. Die Tatsache, daß sich der massige Troll mitunter lautlos bewegen konnte, machte den Zwerg noch immer nervös. Grüneich, der mitbekommen hatte, wie der Zwerg zusammengezuckt war, grinste breit.
„Bist du nur nervös oder wirst du alt?“, neckte er ihn.
„Beides“, brummte Grimmbart zurück, der mit der Hand auf die bewaldete Fläche jenseits der Hügel wies. „Das gefällt mit gar nicht. Wenn du Recht hast, werden wir beim nächsten Angriff ein ernstes Problem bekommen. Wir sollten uns dringend ein paar wirksame Gegenmaßnahmen überlegen.“
Das Grinsen auf Grüneichs Gesicht erlosch und machte einem finsteren Ausdruck Platz, während der Troll nachdenklich über die Brüstung zu den Hügeln hinüber spähte.
„Ich hätte da eine Idee“, knurrte er schließlich grimmig.
Michael war sich noch nie in seinem Leben so hoffnungslos verloren vorgekommen. Die Angst vor seinen Verfolgern schnürte ihm den Hals zu. Energisch zwang er sich dazu, nicht den Kopf zu wenden, da er befürchtete, daß ihn der Anblick der lichtscheuen Albtraumgeschöpfe, die ihm unüberhörbar in sicherem Abstand folgten, auch noch den letzten Mut nehmen würde. Dem Lärm nach zu urteilen, war ihre Zahl beträchtlich angeschwollen, während seine einzige Waffe in diesem ungleichen Kampf deutlich herunter gebrannt war.
Jetzt blieb ihm nur noch die Hoffnung auf ein Wunder, und an Wunder glaubte er schon lange nicht mehr. Trotzdem war er nicht bereit, so einfach aufzugeben. Dank der Fackel hatte er noch immer die Oberhand. Zumindest für den Augenblick. Er mußte sich nur dringend etwas einfallen lassen, damit das auch so bleiben würde. Immer wieder glitt sein Blick auf der Suche nach einer Schwachstelle über die düsteren Tunnelwände. Wenn er sie zum Einstürzen bringen oder etwas anzünden könnte, hätte er vielleicht eine Chance, vor diesen Kreaturen zu fliehen. Aber die Wände erwiesen sich durchgehend als massiv. Ohne Sprengstoff war da nichts zu machen. Er verfluchte sich dafür, daß er nicht ein paar seiner selbst gebastelten Sprengkörper eingesteckt hatte.
Aber hatte er ahnen können, daß er in eine solche Situation geraten würde?
Ein aggressives Fauchen hinter ihm riß ihn aus seinen Selbstvorwürfen. Es klang deutlich näher als bisher und ließ ihm den Angstschweiß auf die Stirn treten. Unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt. Nun hastete er beinahe im Laufschritt durch den gewundenen Gang, aber die Meute hielt noch immer problemlos mit.
Dieses Wettrennen konnte er nicht gewinnen.
Das Licht der Fackel warf gespenstische Schatten auf die Wände, als er im schnellen Tempo den leicht ansteigenden Gang entlang hastete. Für einen Moment glaubte er schemenhafte Bewegungen weit voraus wahrgenommen zu haben.
Lief er etwa in eine Falle?
Ein schmerzhafter Stich im Fuß bewies ihm, daß es besser war, sich auf die Umgebung zu seinen Füßen in dieser Finsternis zu konzentrieren. Abgelenkt von dem, was er glaubte weit voraus wahrgenommen zu haben, hatte er eine kleine Spalte im Boden übersehen. Nun war er im vollen Schritt mit dem rechten Fuß hineingeraten. Ehe er sich versah, stürzte er schmerzhaft zu Boden. Der harte Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, während die Fackel im hohen Bogen durch den Gang flog und ein paar Meter weiter auf dem Boden liegen blieb, wo sie zu Michaels Erleichterung zischend weiter brannte. Begleitet von dem siegessicheren Kreischen seiner Verfolger, das bei Michaels Sturz eingesetzt hatte, rappelte er sich eilig wieder auf, aber die Vorwitzigsten waren bereits heran, allen voran der Anführer, der Michael bereits bei ihrer ersten Begegnung getrotzt hatte. Ehe Michael sich versah, griff bereits eine Klauenhand nach seinem Fuß und brachte ihn erneut zu Fall, ehe er die Fackel erreichen konnte. In Todespanik trat Michael mit dem zweiten Fuß rückwärts aus und traf seinen Peiniger mitten ins Gesicht. Er spürte wie die Knochen seines Gegners, der nun in höchsten Tönen zu Jaulen begann, unter seinem Fuß zerbrachen. Außer sich vor Wut trat Michael noch ein zweites Mal zu und wurde dafür mit der Freiheit belohnt. Der Klammergriff um seinen Knöchel ließ urplötzlich nach, als der Kobold endgültig zu Boden ging.
Aber schon waren die nächsten Verfolger heran. Ihre Augen glänzten tückisch im Licht der Fackel. Geifer rann von ihren langen Eckzähnen herab, als sie sich ihrem Opfer zögernd näherten. Ihre Augen flogen zwischen dem vor sich hin wimmernden, sich am Boden windenden Anführer und ihrem Opfer hin und her, während sie die Gefahr, die von Michael ausging, abschätzten.
Michael seinerseits war paralysiert. Keine zwei Meter trennten ihn mehr von den Albtraumkreaturen, die den gesamten Gang ausfüllten. Dutzende von Augen glitten gierig über seinen Körper, als würden sie eine schmackhafte Delikatesse auf dem Markt begutachten. Klauen zuckten erwartungsvoll, dann griff auch schon der erste Kobold an und wurde zum allgemeinen Entsetzen der Kobolde mitten im Sprung in die Menge zurückgeschleudert. Ein hölzerner Pfeil steckte tief in seinem Schädel.
Von einer Sekunde auf die andere brach nackte Panik unter den Kobolden aus, als urplötzlich weitere Pfeile aus der Dunkelheit in ihre Reihen schlugen. Während Michael vor Begeisterung jubelte und seinen Verfolgern alle nur denkbaren Verwünschungen hinterher brüllte, zogen sich diese fauchend bis zur nächsten Biegung zurück. Das war zu schön, um wahr zu sein. Er hatte keinen Zweifel daran, wer ihn erneut gerettet hatte. Wie zur Bestätigung, drang Glyfaras energische Stimme an sein Ohr.
„Beeil dich, die werden wiederkommen, und mir gehen allmählich die Pfeile aus.“
Das ließ sich Michael nicht zweimal sagen.
Eilig hastete er den Gang hinauf, wobei er sich die inzwischen nur noch kümmerlich brennende Fackel schnappte und den pochenden Schmerz in seinem rechten Knöchel ignorierte. Er hatte endlich seine Gefährten wiedergefunden, und das war mehr, als er vor ein paar Minuten noch zu träumen gewagt hatte. Angesichts der drohenden Gefahr fiel die Wiedersehensfeier allerdings denkbar knapp aus. Glyfara schloß ihn kurz, aber liebevoll in die Arme, während ihr Vater ihm wohlwollend auf die Schulter klopfte und der Wühler irgend etwas knurrte, das sich wie „Unglücksrabe“ anhörte. Dann eilte Glyfara zurück in den Gang, um ihre Fackel zu holen, während ihr Vater eine extrem kurze Zusammenfassung ihrer derzeitigen Situation lieferte und dabei den Gang sorgfältig im Auge behielt.
„Kannst du sie sehen?“, fragte Glyfara, die in diesem Moment mit einer halb herunter gebrannten Fackel in der Hand zurück kehrte. Besorgt registrierte Michael, daß nur noch acht Pfeile aus ihrem Köcher herausragten. Im Kampf gegen hunderte von Kobolden war das ein denkbar ungünstiges Verhältnis. Sein aufgekommener Enthusiasmus begann schon wieder zu verblassen, zumal Gelons Antwort alles andere als ermutigend ausfiel.
„Im Moment kann ich sie nicht entdecken, aber sie werden wiederkommen. Kobolde sind wie Bluthunde. Haben sie einmal deine Witterung aufgenommen, wirst du sie nicht wieder los. Unsere einzige Chance besteht in der Flucht, und die sollten wir nicht länger aufschieben.“
Glyfara nickte grimmig. „Brechen wir auf. Ich sichere uns nach hinten ab, und du, Wühler, wirst uns hier herausführen.“
„Weiter Weg“, brummte der Wühler, dann setzte er sich in Bewegung und trabte voran in den dunklen Gang, dicht gefolgt von den Gefährten. Kaum waren sie hinter der nächsten Biegung verschwunden, huschten bereits die ersten buckeligen Schatten den Gang zu der Stelle hinauf, wo die Gefährten auf Michael gestoßen waren. Scharfe Klauen schabten wütend über den felsigen Boden des Gangs, als die Kobolde die Witterung aufnahmen und feststellten, daß sie sich von einer kleinen Gruppe in die Flucht hatten schlagen lassen. Ein zweites Mal würde ihnen das nicht passieren. Unter heiserem Fauchen und Zischen teilten sich die Verfolger in zwei Gruppen auf. Eine verschwand in der linken Abzweigung, die andere nahm die Verfolgung der Gefährten auf. Diese Beute würde ihnen kein zweites Mal entkommen, denn ihr Weg führte sie geradewegs zum Herrn des Steins.
„Wie soll uns das weiterhelfen?“
Ratlos blickte Grimmbart auf die zwei Weinfässer, die der Troll in den Burghof gerollt und aufgestellt hatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wieso der Troll beim Anblick der Fässer so diabolisch grinste.
„Wirf einen Blick hinein“, erwiderte er, wobei seine Augen vergnügt blitzten.
„Schrauben, Mutter, Bolzen und Nägel“, stellte Grimmbart irritiert fest, nachdem er den Deckel von einem der Fässer abgenommen und einen Blick auf den Inhalt geworfen hatte. „Ist bei dir jetzt eine Schraube locker?“
„Ihr Zwerge habt einfach keine Fantasie“, bekundete Grüneich leicht beleidigt, dann klopfte er mit seiner rechten Pranke an die Wandung des Fasses. „In diesem Faß befindet sich ein weiteres kleineres Faß, das randvoll mit Sprengstoff gefüllt ist. Mithilfe der Zündschnur, die du dort in der Mitte herausragen siehst, wird das kleinere Faß gesprengt. Ähnlich wie bei dem Staudamm wird die Masse, die die Ladung umgibt, mit unbeschreiblicher Wucht nach außen geschleudert werden. Kannst du dir vorstellen, was dann mit denjenigen passiert, die das Pech haben, in der Nähe zu stehen?“
Grimmbart nickte beeindruckt von der Erfindungsgabe des Trolls. Der rostige Inhalt würde sich in einen tödlichen Geschoßhagel verwandeln. Dies war eine äußerst brutale, aber wirksame Art der Kriegführung. Sie behagte ihm nicht, angesichts ihrer hoffnungslosen Lage konnte er aber nicht wählerisch sein. Fragte sich nur, wie Grüneich gedachte, die Waffe zum Einsatz zu bringen. Aber auch auf diese Frage hatte der pfiffige Troll eine Antwort parat.
„Wir bauen eine Rampe“, verkündete er strahlend.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und hatte inzwischen auch die letzten Wolkenreste der vergangenen Nacht vertrieben, als Grüneich stolz sein Werk präsentierte. Als Grundlage hatte ihm ein solider Karren gedient, auf den er Mithilfe ein paar geschickter Handwerker einen Aufbau plaziert hatte. Nun zierte die Plattform des Karrens eine Rampe mit hohen Seitenwänden und einem Neigungswinkel von fünfundvierzig Grad. Grüneich hatte ein paar Versuche mit beschwerten Fässern durchgeführt, die alle zu seiner Zufriedenheit verlaufen waren. Mithilfe dieser Rampe sollte es ihnen gelingen, die Fässer den ohnehin abschüssigen Weg vor dem Tor hinab mitten unter ihre Feinde zu bringen, sollten diese dort mit einer Ramme auftauchen. Grimmbart war beeindruckt, wenngleich ihm die Vorstellung, für die Rampe eine Öffnung in das Tor einzubauen alles andere als behagte. Als Söldner war ihm nur zu wohl bewußt, daß jede Öffnung in einer Festungsanlage eine Schwachstelle darstellte. Es hatte ihn daher auch viel Überzeugungsarbeit gekostet, um den Rat dazu zu bewegen, dem zuzustimmen. Nun sah er mit gemischten Gefühlen den Handwerkern der Bruderschaft zu, die unter der Aufsicht Wengors eine Schießscharte in Augenhöhe zu einer quadratischen, circa zwei Quadratmeter großen Öffnung erweiterten. Da ein Teil der Rampe ausfahrbar war, brauchte der Karren nur an das Tor herangebracht und die Rampe durch die Öffnung geschoben zu werden, um einsatzbereit zu sein. So lautete jedenfalls der Plan. Grimmbart hatte im Laufe seines langen Söldnerlebens jedoch gelernt, daß sich Pläne in einer Schlacht nur allzu selten umsetzen ließen. Es gab immer eine Wendung, mit der niemand gerechnet hatte.
Welche Überraschung würde sie hier erwarten?
Die poltrige Stimme des Trolls, der wieder einmal lautlos an ihn herangetreten war, riß ihn aus seinen Grübeleien.
„Das wird ihnen den Spaß verderben.“
Die schwarzen Augen Grüneichs blitzten vergnügt, während er stolz die Bauarbeiten an dem Tor betrachtete. Dort waren die Handwerker gerade damit beschäftigt, eine stahlgehärtete Platte neben der Öffnung anzubringen. Ein ausgeklügeltes Rollensystem auf Längsbalken oberhalb und unterhalb der Platte, sollte es ermöglichen, die Platte jederzeit schnell vor die Öffnung zu schieben und dort Mithilfe eines massiven Riegels zu arretieren.
„Hoffen wir, daß du Recht behältst“, knurrte Grimmbart
Michael schätzte, daß inzwischen eine gute Viertelstunde vergangen war, seit sie vereint auf der Flucht waren. Ohne Rast waren sie im Eilschritt durch die düsteren Gänge dieses unterirdischen Labyrinths gehastet, wobei ihnen die Furcht vor den unheimlichen Verfolgern im Nacken saß. Zwar hatte sie seit geraumer Zeit keines der buckeligen Wesen mehr gesehen, gleichwohl war Michael überzeugt davon, daß die Jagd gerade erst eröffnet war.
„Hört ihr das auch?“
Glyfaras höchst alarmierte Stimme ließ Michael zusammenzucken. Wenn die eiskalte Elbin, die über ein deutlich besseres Wahrnehmungsvermögen als er verfügte, etwas hörte, was ihre Stimme derart beunruhigt klingen ließ, mußte etwas gewaltig im Argen liegen. Wie auf ein Kommando blieben die Gefährten stehen und lauschten in die Dunkelheit. Michael konnte nur sein Blut in den Ohren rauschen hören, Gelon und der Wühler hingegen vernahmen mehr.
„Trommeln“, bestätigte Gelon mit düsterem Gesichtsausdruck.
„Wozu soll das gut sein?“, fragte Michael irritiert.
„Die Unterwelt ruft zur Jagd, und wir sind die Beute. Wahrscheinlich sind uns sämtliche Kobolde dieser Höhlenwelt auf den Fersen“, erklärte Gelon zwischen ein paar stoßweisen Atemzügen, während sein Gesicht eine ungesunde, wächserne Farbe annahm.
„Na großartig“, stöhnte Michael, der erst jetzt besorgt erkannte, daß die Flucht Glyfaras Vater deutlich mitgenommen hatte. Sie mußten ihr Tempo verlangsamen, sonst würde Gelon in absehbarer Zeit zusammenbrechen. Glyfara, die das ebenfalls besorgt erkannt hatte, gemahnte den Wühler zu einer langsameren Gangart.
„Langsamer, Selbstmord“, brummte der Wühler mißmutig, setzte sich aber gehorsam in gemäßigterem Tempo in Bewegung. Der Gang, dessen Verlauf sie nunmehr folgten, unterschied sich beträchtlich von den vorherigen. Im Licht der allmählich herunter brennenden Fackel wirkten die Wände wie glasiert, als seien sie vor langer Zeit einer unvorstellbaren Hitze ausgesetzt gewesen. Vielleicht passieren wir ja gerade eine alte Lavaabflussröhre, ging es Michael durch den Kopf, dem bei diesem Gedanken nicht ganz wohl zumute war. Es verwunderte ihn daher nicht, als die Röhre plötzlich abrupt in eine gewaltige Höhle mündete, die so groß war, daß sie das andere Ende im Licht der Fackel nicht erkennen konnten. Zögernd stießen sie ein paar Schritte in die gewaltige Kaverne vor und blieben dann unschlüssig stehen.
„Den Ausgang aus diesem Labyrinth habe ich mir anders vorgestellt“, verkündete Glyfara enttäuscht, wobei ihre Stimme einen ungewohnten Hall erzeugte.
„Vielleicht sollten wir besser umdrehen und einen anderen Gang ausprobieren“, schlug Michael zweifelnd vor, dem die Finsternis dieser Kaverne fast mehr Angst einjagte, als die Vorstellung, von einem Koboldheer gejagt zu werden. Sein Gefühl sagte ihm, daß hier unten eine noch größere Gefahr auf sie wartete. Glyfara hingegen sah das anders.
„Sollen wir umkehren, um geradewegs in die Arme der Kobolde zu laufen? Hast du etwa vergessen, daß uns die halbe Unterwelt auf den Fersen ist?“, hielt sie ihm entgegen. „Ich denke, wir sollten lieber ....“
Ein krachendes Geräusch unterbrach ihren Wortschwall und ließ alle erschrocken herumfahren. Zum allgemeinen Entsetzen verschloß ihnen eine schwere Steinplatte, die offenbar oberhalb des Tunnelausgangs verborgen angebracht gewesen war, nunmehr den Rückweg. Zugleich erklangen von allen Seiten dumpfe Trommelschläge aus der Dunkelheit.
„Wir sind in eine Falle gelaufen“, faßte Gelon mit bitterer Stimme das Offensichtliche zusammen.
„Hineingetappt“, stimmte ihm der Wühler frustriert zu.
Zufrieden betrachtete der Wandler das hölzerne Ungetüm, welches auf mächtigen Rädern hinter einer Hügelkuppe verborgen auf seinen Einsatz wartete. Auf einer Plattform war ein gewaltiger, feuergehärteter, stahlverstärkter Rammdorn befestigt worden. Unterhalb des Rammdorns ragten auf beiden Seiten der Plattform jeweils ein Dutzend hölzerne Stangen in Brusthöhe der Ulogs heraus, die als Antriebsmittel für das Gefährt würden herhalten müssen. Gegen den zu erwartenden, tödlichen Beschuß dienten massive Schilder oberhalb und seitlich der Stangen, die eine Art hölzernen Tunnel bildeten.
„Gute Arbeit“, lobte er den kleinen, gedrungenen Dämonen, der unterwürfig mit gesenktem Kopf im Schatten des Rammdorns stand. Ein erleichtertes Zittern ging durch seinen Körper, als ihm gewahr wurde, daß die Arbeit seines Trupps, der sich vorsorglich abseits hielt, das Wohlgefallen des Wandlers fand.
„Sie wird das Tor knacken wie eine Eierschale“, versprach er eilfertig, von dem Lob des Wandlers ermutigt.
„Ich will es für dich hoffen“, erwiderte der Wandler, dessen Stimme plötzlich klang, als würde sie aus der Tiefe einer Gruft kommen. Sein dunkles Gewand raschelte bedrohlich und ein übler Geruch stieg dem kleinen Dämonen in die Nase, als der Wandler an ihn herantrat und sich zu ihm hinunter beugte. „Denn solltest du versagen..“, das Wispern aus der Tiefe der pechschwarzen Kapuze jagte Angstwellen durch den Körper des Dämonen, dessen Blase sich vor Entsetzen leerte, „werde ich deine Knochen zum Frühstück knacken.“
„Ich werde nicht versagen“, hauchte er in Todesangst.
„Wir werden sehen!“
Einen Augenblick verharrte der Wandler noch vor dem zitternden Bündel aus Haut und Knochen, dann wandte er sich abrupt ab. „Und wechsle deine Hosen, sonst wittert dich der Feind, lange bevor er dich gesehen hat“, war das letzte, was der völlig fertige Dämon vernahm, ehe der Wandler über die Hügelkuppe aus seinem Gesichtskreis entschwand.
Nachdenklich betrachtete Michael die schwere Steinplatte, die ihnen den Rückweg verschloß. Sie zu bewegen, war ohne die Zuhilfenahme moderner Technik unmöglich. Das allein war schon bedrückend. Was ihn aber noch vielmehr beunruhigte war die Frage, warum diese Platte überhaupt vorhanden war?
Die Kobolde hatten unmöglich ahnen können, daß eines Tages Fremde zu ihnen stoßen würden. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Platte dazu diente, Eindringlinge einzusperren, war damit denkbar gering. Dann aber blieb nur eine Möglichkeit offen. Irgend etwas sollte ausgesperrt werden. Etwas, daß sich jenseits dieser Platte befand und so gefährlich war, daß die Kobolde es für angebracht hielten, einen tonnenschweres Hindernis zu errichten. Michael wollte seine Überlegungen gerade mitteilen, als die Trommeln plötzlich aussetzten und statt dessen ein blasses, grünliches Licht in diversen, ihnen bisher verborgen gebliebenen Öffnungen entlang der Wände ihres gigantischen Gefängnisses erschien und die Umgebung schwach erleuchtete.
„Das gefällt mir nicht“, zischte Glyfara, die sich leicht geduckt, wie ein in die Enge getriebenes Raubtier langsam um sich selbst drehte, um jeden nur erdenklichen Angriff rechtzeitig mitzubekommen. Die plötzliche Stille lastete wie ein Gewicht auf ihren Schultern und machte sie hochgradig nervös.
„Zumindest können wir jetzt erkennen, wo wir gelandet sind“, stellte Gelon sachlich fest, wobei er sich sorgfältig umsah. Das fahlgrüne Licht machte es ihm schwer, die Entfernung bis zum anderen Ende der Kaverne zu schätzen, zumal sich in ihrer Mitte ein bizarres steinernes Gebilde bis zur halben Deckenhöhe erhob. Es sah aus, als sei flüssiger Stein von der Decke geflossen, um dann von der einen Sekunde auf die andere plötzlich zu erkalten. Gelon konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Im fahlen Licht wirkte die pechschwarze Oberfläche des Steins wie glasiert und Gelon vermeinte, eine düstere Aura mit seinen magischen Sinnen wahrzunehmen, die von diesem grotesken Gebilde ausging. Allerdings schien Gelon der einzige zu sein, der so empfand, denn zumindest Glyfara sah in diesen Steinen nur eine willkommene Möglichkeit, sich gegen ihre Verfolger zu verschanzen.“
„Wir sollten zusehen, daß wir uns dort Deckung suchen. Anderenfalls sind wir einem etwaigen Beschuß hilflos ausgeliefert“, regte die Elbin an, deren Augen unablässig die Umgebung absuchten. Gelon, der die Ungestümheit seiner Tochter nur zu gut kannte, bremste ihren Tatendrang ein wenig, indem er den Gefährten seine Bedenken mitteilte.
„Wir sollten nicht zu voreilig sein. Meine innere Stimme sagt mir, daß mit diesen Steinen etwas ganz und gar nicht stimmt. Seht sie euch doch an. Dieses Gebilde wirkt hier so deplaziert, wie eine Südlandpalme auf den eisigen Höhen der Nordlandgrenze. Da ist irgend etwas faul, das spüre ich.“
Glyfara nickte, während ihr Gesichtsausdruck noch eine Spur finsterer wurde.
„Hier ist überall etwas faul. Da kommt es auf eine böse Überraschung mehr oder weniger auch nicht mehr drauf an. Fest steht, daß wir hier wie die Zielscheiben in der Gegend herumstehen. Gerade eben hat ein ganzes Volk von gefräßigen Kobolden mit seinen Trommeln zur Jagd gerufen. Und deshalb würde ich mich in einer guten Deckung deutlich wohler fühlen. Ihr könnt ja hierbleiben.“ Auffordernd machte sie ein paar Schritte in Richtung des aufragenden Felsgebildes.
„Warte!“ Michaels Stimme klang ungewohnt scharf und veranlaßte die Elbin dazu, innezuhalten und sich verärgert umzudrehen.
„Hast du etwa auch Angst vor ein paar Steinen?“
„Vorsicht hat noch keinem geschadet“, hielt Michael ihr entgegen, worauf Glyfara nur verächtlich schnaubte. „Die Bedenken deines Vaters sind nicht ganz unberechtigt“, fuhr Michael fort. „Es muß einen guten Grund dafür geben, warum die Kobolde diese schwere Platte vor dem Ausgang plaziert haben. Sie konnten kaum ahnen, daß wir hier plötzlich auftauchen würden. Also dient sie vermutlich einem anderen Zweck. Möglicherweise ist hier unten noch etwas anderes auf der Jagd, gegen das sich die Kobolde auf diese Weise zu schützen versuchen.“
„Mag sein. Deshalb können wir trotzdem hier nicht ewig herumstehen und debattieren. Also laßt uns lieber herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, von hier zu verschwinden. Und da wir schließlich irgendwo mit unserer Suche beginnen müssen, können wir auch gleich an dem exponiertesten Ort dieses Gefängnisses anfangen.“
„Na gut, brechen wir auf“, stimmte Gelon zu. „Aber wir sollten auf alles gefaßt sein.“
„Vernünftig“, knurrte der Wühler und trabte los. Die Gefährten folgten dicht auf. Zu ihrer Beunruhigung wurde es mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem seltsamen Gebilde näherten, nun kälter und kälter. Es schien fast so, als würden die schwarzen Steine der Umgebung auch den letzten Rest an Wärme entziehen. Ein Blick auf Glyfara bestätigte Michael, daß sich Elbin ebenfalls nicht wohl fühlte. Offenkundig spürte nun auch sie, daß an Gelons Vermutung etwas dran war, denn die Fingerknöchel ihrer Hand, mit der sie ihren Bogenschaft umklammerte, traten vor Anspannung weiß hervor. Sein Blick wanderte zurück zu dem düsteren Gebilde, das inzwischen wie ein Turm vor ihnen aufragte, und dabei hatten sie gerade einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt. Der finstere Anblick zog Michael derart in Bann, daß er beinahe in Glyfara hinein gerannt wäre, als der Wühler plötzlich stehen blieb und warnend knurrte. Der Atem des Tieres kondensierte in kleinen Wolken vor seiner Schnauze.
„Was hast du?“ Der Pfeil fand wie von selbst den Weg auf die Sehne der Elbin, während sie zu erkennen versuchte, was den Wühler so beunruhigte. Die Ohren hatte er flach an den Kopf angelegt, das Nackenfell war gesträubt. Michael fand, daß er in dieser Aufmachung eine beunruhigende Erscheinung abgab. Allerdings war das nichts gegen das, was er einen Augenblick später vor sich wahrnahm.
„Allmächtiger“, hauchte er entsetzt, als er erkannte, was den Wühler nervös machte. Das aufragende Steingebilde hatte plötzlich zwei feuerrot leuchtende Augen in Radgröße bekommen, die in dem fahlgrünen Licht wie zwei Nebelschlussleuchten glühten.
„Wie kommst du voran?“
Taren, die konzentriert damit beschäftigt war, einen komplizierten Armbruch zu schienen, sah überrascht auf, als sie plötzlich die Stimme Grimmbarts vernahm. Sie hatte den Zwerg nicht kommen gehört. Mit einem müden Gesichtsausdruck sah sie zu ihm auf.
„Es nimmt kein Ende. Unser Verbandsmaterial geht zur Neige. Das Gleiche gilt für die Heiltränke und schmerzlindernden Salben. Gerade eben habe ich zwei Ammen in Begleitung eines Soldaten in den Keller geschickt, um im Labor von Hyroganos nach etwas Verwertbarem zu suchen. Viel Hoffnung habe ich allerdings nicht.“ Sie seufzte, während sie den Arm des unglücklichen Patienten Mithilfe von mehreren Stoffstreifen und einem solidem, geraden Stock schiente, bevor sie ihn aus ihrer Obhut entließ. „Und wie sieht es bei dir aus?“
„Grüneich hat sich etwas Schlaues zum Schützen des Tores ausgedacht. Dieser Felsbrocken erstaunt mich immer wieder mit seinem Einfallsreichtum.“ Grimmbarts Gesicht drückte eine widerwillige Bewunderung aus, was Taren ein Schmunzeln entlockte.
„Du magst ihn“, stellte sie fest.
„Für jemanden, der kein Zwerg ist, ist er ganz in Ordnung.“
„Ich bin auch kein Zwerg.“
„Hmmm.“
Die unerwartete Wendung des Gesprächs traf Grimmbart unvorbereitet. Warum gingen ihm im richtigen Moment nur immer die Worte aus? Er verfluchte sich für seine Ungeschicklichkeit im Umgang mir Frauen.
„Du ...... bist auch in Ordnung“, brachte er linkisch hervor. Eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen, aber hierfür nicht den Mut aufgebracht. Es war zum Verzweifeln. Er, der keine Schlacht scheute, hatte Angst davor, ein paar Worte auszusprechen.
„Du magst mich also genauso, wie den Troll“, bemerkte Taren, wobei ihre Augen spöttisch funkelten. Es machte ihr Spaß, Grimmbart herauszufordern, der sich bei ihren Worten wie ein Aal wand und betreten zu Boden blickte.
„Nein, ..... natürlich nicht“, stotterte er hilflos.“
„Den Troll magst du mehr.“
„Ich....“ Erstaunt sah Grimmbart auf, als er Taren plötzlich losprusten hörte. Das Lachen hatte etwas ungemein Befreiendes in dieser bedrückenden Umgebung und entlockte selbst dem verlegenen Zwerg ein leichtes Lächeln, obwohl er sich nicht sicher war, ob Tarens Heiterkeitsausbruch für ihn gut oder schlecht war. Genauso schnell, wie die Heiterkeit sie überkommen hatte, verblaßte sie auch wieder. Statt dessen trat ein Ausdruck in die kobaltblauen Augen Tarens, die Grimmbart nicht deuten konnte. Auf diese Weise hatte das Mädchen ihn noch nie angesehen. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich und trat vor den verdatterten Zwerg.
„Ich weiß schon, was du mir sagen willst“, flüsterte sie, so daß nur Grimmbart ihre Worte vernehmen konnte. Ihr Gesicht schwebte direkt vor dem seinen. Er nahm den Geruch ihrer Haut und ihrer Haare wahr. Ein Duft wie von zarten Blüten im Frühlingswind, der an diesem Ort völlig deplaziert wirkte und die Sinne des Zwergs vernebelte.
„Du weißt es?“, fragte er ungläubig. Sie nickte, wobei wieder ein Anflug von Schalk in ihre Augen trat. Ihre Lippen näherten sich den seinen als die Tür des provisorischen Krankenhaus plötzlich laut krachend aufflog und Wengor im Türrahmen erschien. Verblüfft von dem, was er sah, blieb er einen Moment unschlüssig stehen. Dann gewann die Disziplin des Soldaten wieder die Oberhand, und er machte Grimmbart energisch Zeichen, ihm nach draußen zu folgen.
„Dort draußen geht etwas vor. Ich denke, ihr solltet Euch das einmal ansehen“, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme.
Begleitet von einem furchteinflößenden Krachen und Knirschen erhob sich der steinerne Koloß von seinem Ruheplatz und ragte nun wie ein Hochhaus vor ihnen auf. Fassungslos wichen die Gefährten zurück, während sie verzweifelt nach einem Ausweg suchten.
Es gab keinen.
Zugleich setzten die Trommeln wieder ein. Ihr dumpfer, bedrohlicher Klang unterstrich die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Mit fast schon majestätischer Bedächtigkeit machte sich indessen der Koloß an die Verfolgung seiner zurückweichenden Beute. Der Boden erzitterte bei jedem Schritt, den der steinerne Koloß zurücklegte. Angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation sprach Glyfara das Offensichtliche aus.
„Wir haben nur eine Chance, wenn wir schnell einen anderen Ausgang finden, sonst sind wir bald nur noch rote Farbflecke auf diesem Höhlenboden. Also sollten wir uns aufteilen und versuchen, beidseitig an diesem Ungetüm vorbeizukommen. Vielleicht gibt es auf der anderen Seite dieses Gewölbes eine Fluchtmöglichkeit. Oder habt ihr eine bessere Idee?“ Schnell sah Glyfara in die Runde und registrierte allgemeines Kopfschütteln.
„OK. Dann probieren der Wühler und ich auf der linken Seite unser Glück.“
„Seid vorsichtig“, ermahnte Gelon seine Tochter. Dann preschten sie auf ein Nicken von Glyfara hin auseinander. Michael und Gelon hasteten so schnell es das Alter des Magiers zuließ auf die rechte Seite des Gewölbes zu, um den Koloß in einem möglichst weiten Bogen zu umgehen, während Glyfara und der Wühler der linken Seite zustrebten. Angesichts der Weigerung der Beute, sich ihrem Schicksal zu ergeben, grollte der Koloß zum ersten Mal vor Verärgerung. Das Geräusch erinnerte Michael an das Niedergehen der Lawine auf der Nordlandgrenze. Ohne im Tempo innezuhalten beobachtete er besorgt, wie sich der gewaltige Schädel einen Augenblick abschätzend hin und her drehte, bevor er sich für eine Seite entschloß.
„Verdammt!“, fluchte Michael, als er feststellte, daß sich der Koloß für ihn und Gelon entschieden hatte. Mit großen Schritten strebte er nun ebenfalls der rechten Höhlenseite zu, um ihnen den Weg abzuschneiden, und diesmal bewegte er sich deutlich schneller als zuvor.
„Das schaffen wir nicht!“, brüllte Michael entsetzt. Hilflos blieb er stehen und überlegte fieberhaft ihren nächsten Schritt, während Gelon neben ihm vor Anstrengung keuchte. Der kurze Sprint hatte ihm deutlich mehr zu gesetzt als dem jüngeren Michael. Dem wurde bewußt, daß ihre Chance angesichts der Angeschlagenheit des Magiers jedenfalls nicht im Davonrennen lag. Beunruhigt registrierte er, daß der Koloß inzwischen die rechte Höhlenwand erreicht hatte und nun mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam. Das tückische Funkeln in seinen rotglühenden Augen jagte Michael Angstschauder über den Rücken.
„Können sie ihn nicht verzaubern?“, fragte er mit überschlagender Stimme.
„Weiß nicht, ...... muß nachdenken“, japste Gelon immer noch außer Atem.
„Dazu haben wir keine Zeit mehr. Können sie ihn nicht verbrennen oder einfrieren oder sonst irgend etwas tun.“
„Ich werd’s versuchen.“ Ein innerer Ruck ging plötzlich durch den Körper des Magiers, als er sich aufrichtete und dem unerbittlich heranrückenden Ungeheuer in den Weg trat. Der Koloß seinerseits war unwillkürlich ein wenig langsamer geworden, als würde er ahnen, daß das kleine Wesen, das sich ihm nun in den Weg stellte, eine Gefahr darstellen könnte. Indessen stellte Michael erstaunt fest, daß die unbedeckten Hautstellen Gelons von innen heraus in einem kalten Blau zu leuchten begannen, während der Magier komplizierte Handbewegungen vollzog und unablässig in einer unbekannten Sprache Beschwörungen aufsagte. Vorsichtshalber trat er ein paar Schritte zurück und nahm sich fest vor, sofort davon zu rennen, sollte Gelon erfolglos bleiben.
Gelon war inzwischen in tiefe Trance versunken. Das Anzapfen der Energieströme, die tief verborgen unter der Erde wie Bäche dahinflossen, verlangte absolute Konzentration und eine jahrzehntelange Schulung. Er spürte, wie sein Geist durch die Schichten der Erde in den Strom eintauchte und sofort von der Magie der vier Elemente durchdrungen wurde. Nun galt es, das richtige Element heraus zu filtern und sich zunutze zu machen. Wasser, in Verbindung mit eisiger Kälte. Nur so hatte er eine kleine Chance, den Koloß bewegungsunfähig zu machen. Ein Teil der gewaltigen Energie bündelte sich in seinem Körper, der nun einem Katalysator glich und drängte zur Entladung zu den Fingerspitzen seiner geballten Fäuste hin, während Gelon die letzten Absätze des uralten Beschwörungstextes in höchster Konzentration aufsagte. Er durfte sich auf keinen Fall ablenken lassen, selbst nicht vom dem Anblick des Kolosses, der sie jeden Moment erreichen und unter seinen steinernen Füßen zerquetschen würde, denn sonst würde sie das Entweichen unkontrollierter Magie ebenso wirksam töten, wie die Füße dieses Giganten. Mit dem Aufsagen des letzten Satzes streckte Gelon dem Ungeheuer die Arme entgegen und öffnete bedächtig die Fäuste. Einem blendenden Blitz gleich entlud sich die aufgestaute Energie über die Fingerspitzen des Magiers und traf den Koloß völlig unvorbereitet. Das Ergebnis trat so schnell ein, daß er noch nicht einmal Gelegenheit hatte, seinen Unmut hierüber kundzutun.
„Schockgefroren“, staunte Michael beim Anblick des vereisten Giganten, der nur wenige Schritte vor ihnen zum Stehen gekommen war. Bis hierher war deutlich die Kälte zu spüren, die von dem Ungetüm ausging. Michael kam sich vor, als würde er vor einer gigantischen, geöffneten Kühltruhe stehen. „Wie lange wird er in diesem Zustand bleiben?“
„Hoffentlich lange genug, damit wir einen Ausweg finden, denn ich kann diese Art der Energie kein zweites Mal benutzen. Der Strom muß sich erst regenerieren. Außerdem scheinen unsere Freunde über die Veränderung nicht erfreut zu sein.“
Michael nickte angesichts des Heulens der Kobolde, die über den gefroren Zustand ihres Unholds alles andere als begeistert waren.
„Dann laßt uns keine Zeit verlieren.“
Grimmbart folgte Wengor wütend nach draußen. Am liebsten hätte er den Hauptmann am Kragen gepackt und über die nächste Brüstung geworfen. Einen unpassenderen Moment hätte sich Wengor wirklich nicht aussuchen können. Nur eine Sekunde später, und Taren hätte ihn geküßt. Grimmbart konnte das immer noch nicht glauben und hoffte nur, daß er nicht plötzlich aufwachen und sich alles nur als Traum erweisen würde. Dann schüttelte er den Kopf. Dies konnte kein Traum sein, denn in seinem Traum wäre kein Wengor erschienen, um ihn den schönsten Moment seines bisherigen Lebens zu vermasseln.
Taren hatte sich wirklich für ihn entschieden!
Was das für seine Zukunft bedeutete, ließ ihn schwindeln. Bisher hatte er sich um seine Zukunft keine Gedanken gemacht. Er war Söldner, und denen war ein bestimmtes Ende mit der Wahl dieser Berufsausübung in der Regel vorher bestimmt. Als Söldner hatte er daher nie weiter als bis zur nächsten Schlacht gedacht. Aber nun war eine Zäsur eingetreten, die er nie für möglich gehalten hätte. Der Krieg hatte ihn zu Taren geführt und alles verändert. Während er Wengor mit schweren Schritten die steinernen Stufen zum Wehrgang hinauf folgte, schwor er sich, alles daran zu setzen, um sich dieses Glück zu erhalten. Er würde den Feind mit allen Mitteln bekämpfen, die ihm zur Verfügung standen, und er würde Taren mit seinem Leben beschützen. Schließlich war er Söldner, und das Kämpfen war seine Bestimmung, auch wenn er seine Berufswahl zum ersten Mal in seinem Leben bedauerte. Unbewußt seufzte er tief, als er sich fragte, warum er nicht den Beruf des Waffen- oder Goldschmieds ergriffen hatte, wie so viele andere seines Geschlechts. Dann wäre ihm dies alles erspart geblieben. Auf der anderen Seite hätte er dann allerdings auch nie Taren getroffen. Wie so oft lagen Freud und Leid dicht beieinander. So war das nun einmal im Leben. Wo Licht war, war auch Schatten.
„Seht Euch das an!“
Die Stimme Wengors riß Grimmbart aus seinen Gedanken. Fast unbewußt hatte er die letzte Stufe erklommen und den Wehrgang betreten. Er scholt sich insgeheim dafür, daß er sich durch die jüngsten Ereignisse so hatte ablenken lassen. Wenn er nicht mit Taren zusammen war, mußte er sich die Aufmerksamkeit und Reflexe des Kriegers erhalten, anderenfalls hatte er in der bevorstehenden Schlacht keine Chance. Innerlich raffte er sich zusammen, verschloß sein Herz für den Moment und konzentrierte sich wieder mit dem vollen Spürsinn des erfahrenen Kriegers auf seine Umgebung. Seine Augen folgten dem Fingerzeig Wengors und entdeckten in einer Entfernung von zwei Bogenschußreichweiten emsige Aktivitäten ihrer Gegner.
„Sie schichten Holz auf“, stellte er grimmig fest.
„Habt Ihr eine Idee, warum sie das tun?“
Grimmbart nickte. Seine scharfen Augen hatten das frische Grün zwischen den aufgeschichteten Stämmen entdeckt, die gut zwei Mann hoch in den Himmel ragten.
„Wenn es dunkel wird, werden sie es anzünden. Das frische Grün und das feuchte Holz werden für eine starke Rauchentwicklung sorgen. Da der Wind hier fast immer von Westen her weht, wird er den Rauch direkt zu uns hinüber treiben und unsere Feinde in der Nacht so gut wie unsichtbar machen.“
„Aber in der Dunkelheit sind sie ohnehin nur schwer auszumachen. Wozu dann dieser zusätzliche Aufwand?“
„Ich vermute, daß sie etwas in der Hinterhand haben, was wir auf keinen Fall zu früh entdecken sollen. Der Rauch soll es tarnen, bis es für uns zu spät ist.“
„Und was könnte das sein?“
Grimmbart zuckte die Achseln und nickte zum Tor hinüber.
„Keine Ahnung, aber Ihr solltet das Tor gut sichern. Würde ich auf der anderen Seite stehen, wäre dies mein vorrangiges Ziel. Auch ein Geschützturm wäre denkbar und jede Menge Kriegsleitern, die wir ja schon kennengelernt haben.“
Wengor wurde ein Spur bleicher, als er sich ausmalte, was da für die Bruderschaft bedeuten könnte. Das Ende.
„Gibt es aus Eurer Sicht noch etwas, was wir tun können?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Oh ja“, erwiderte Grimmbart düster, der sich mit beiden Händen schwer auf die Brüstungsmauer stützte und finster zu ihren Feinden hinüber spähte. „Ihr könntet anfangen zu beten.“
Glyfara blinzelte, um die Nachwirkungen des Blitzes, der sie plötzlich geblendet hatte, loszuwerden. Sie ahnte, was passiert war. Ihr Vater war offensichtlich in Bedrängnis geraten und hatte gegen den Koloß Magie eingesetzt. Dem plötzlich einsetzenden, wütenden Heulen der Kobolde nach zu urteilen mit Erfolg.
„Kannst du erkennen, was mit dem Koloß passiert ist?“
„Steifgefroren“, kam prompt die Antwort des Wühlers, der offenbar weniger Schwierigkeiten hatte, mit den Nachwirkungen des Blitzes klarzukommen und daneben ohnehin über die besseren Augen verfügte. „Flucht“, ergänzte er mit einem befriedigenden Knurren. Tatsächlich konnte jetzt auch Glyfara ihren Vater und Michael ausmachen, die direkt auf sie zugerannt kamen. Selbst auf diese Entfernung machte ihr Vater zu ihrer Besorgnis einen angeschlagenen Eindruck. Sein Lauf wirkte unsicher, und gelegentlich ergriff Michael den Arm des neben ihm flüchtenden Gelons, wenn dieser zu straucheln drohte. Glyfara stürzte auf die beiden zu, um zu helfen, doch Gelon wischte ihre angebotene Hilfe mit einer unwilligen Handbewegung beiseite.
„Wir haben nicht viel Zeit“, fiel er gleich mit der Tür ins Haus, kaum daß er sie erreicht hatte. Das Krachen geborstenen Eises unterstrich die Dringlichkeit seiner Worte. Dem Koloß war es offenbar gelungen, zumindest einen Teil seines Eispanzers loszuwerden. „Der Eisbann wird nicht ewig halten, und die Kobolde sind aufgebracht.“
„Kommen“, ließ sich der Wühler vernehmen.
„Hört das denn nie auf?“ Mit einer fließenden Bewegung zog Glyfara einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn auf die Bogensehne, während sie zugleich nach den buckeligen Gestalten in dem fahlen Dämmerlicht Ausschau hielt. Noch konnte sie keine der häßlichen Kreaturen entdecken, aber sie zweifelte nicht daran, daß sich das bald ändern würde. Prompt bemerkte der Wühler mit der für ihn typischen Wortkargheit: „Eingekreist“, und bewies damit wieder einmal, daß er über die besten Sinnesorgane verfügte.
„Verdammt, können Sie denn nicht ihre Magie gegen diese Viecher einsetzen“, fragte Michael mit bebender Stimme, dessen Nerven allmählich blank lagen.
„Ich werde mit etwas überlegen und in Kontakt mit dem Energiestrom unter uns bleiben. Aber jetzt sollten wir zusehen, daß wir von hier verschwinden. Und haltet die Augen auf! Wenn der Wühler Recht hat, bekommen wir jeden Moment Ärger“, befahl Gelon und strebte ohne ein weiteres Wort der jenseitigen Kavernenwand entgegen in der Hoffnung, dort auf einen Ausgang zu stoßen. Die Gefährten folgten. Das Krachen weiterer geborstener Eisschichten verhallte hinter ihnen in der Tiefe der Kaverne. Dafür hörte das wütende Kreischen der Kobolde auf. Michael wußte nicht, ob er darüber glücklich sein sollte. Das plötzliche Schweigen wirkte noch bedrückender.
„Jetzt werden wir gejagt“, ließ sich Glyfara mit düsterer Stimme neben ihm vernehmen, die auf einen Punkt rechts von ihnen in dem Dämmerlicht deutete. Es dauerte eine Sekunde, bis Michael entdeckte, was die Elbin meinte. Dann schoß das Adrenalin in einer Welle durch seinen Körper. Keine vierzig Fuß entfernt huschten ein paar buckelige Schatten parallel zu ihnen über den Höhlenboden, wobei sie geschickt die Deckung einzelner Felsbrocken ausnutzten, die in reichlicher Zahl auf dem Boden lagen. Noch während Michael den Anblick verarbeitete, sirrte Glyfaras Bogensehne bereits, unmittelbar gefolgt von einem gurgelnden Aufschrei eines unglückseligen Kobolds, der abrupt verstummte.
„Einer weniger. Das wird sie für eine Weile auf Distanz halten“, fauchte Glyfara zufrieden, die bereits den nächsten Pfeil auf die Sehne lehnte und diesmal die linke Seite ins Visier nahm. Auch dort folgten ihnen paar der Albtraumgeschöpfe, die angesichts der Wehrhaftigkeit der Gruppe aber gebührenden Abstand hielten. Derart eskortiert erreichten die Gefährten ein paar Minuten später endlich das andere Ende der Kaverne. Wie der Bug eines gigantischen Schiffes erhob sich nun die Kavernenwand vor ihnen in dem faden Dämmerlicht. Leider war die Wand nicht das Einzige, das sich aus der Dunkelheit schälte.
„Das Empfangskomitee ist angetreten. Ich denke, das war es dann wohl“, bemerkte Michael entmutigt, dem beim Anblick der Zähne fletschenden Horde von Kobolden, die sich vor einem an einen Eisenbahntunnel erinnernden Kavernenausgang zusammengerottet hatten und nun drohend in ihre Richtung fauchten, ein kalter Schauder den Rücken lief, als ob ein eiskalter Wind sein Rückgrat streifen würde. Er bezweifelte, daß sie ihren Verfolgern ein zweites Mal entkommen würden, zumal ihn das Geräusch brechender Eisschichten daran gemahnte, daß sie noch ein ebenso gewichtiges Problem hinter sich hatten. Vierzig Fuß vor den Kobolden blieben die Gefährten schließlich unschlüssig stehen. Die Aussicht, die nächste Minute zu überleben stand denkbar schlecht. Von allen Seiten rückten die Kobolde nun langsam näher. Ihre Beute konnte ihnen nun nicht mehr entkommen, aber sie besaß noch immer mehrere Stachel, die die Kobolde zur Vorsicht veranlaßte. Der vereiste Koloß und die von Pfeilen durchlöcherten Artgenossen sprachen eine deutliche Sprache. Mit dieser Beute war nicht zu spaßen. Aber das erhöhte nur den Reiz der Jagd.
Die Gefährten wiederum hatten sich inzwischen Rücken an Rücken zusammengescharrt und beobachteten mit wachsendem Entsetzen die Horde der näher rückenden Kobolde, deren Zahl ihre eigene um ein Vielfaches übertraf.
Wie sollten sie gegen eine solche Übermacht bestehen?
Glyfara erwog kurz die Chance, einen Durchbruch zum Tunnel zu wagen. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer Gegner verwarf sie die Idee jedoch sofort wieder. Sie wären tot, bevor sie auch nur die Hälfte des Wegs geschafft hätten. Im höchsten Maße besorgt wandte sie den Kopf ihrem Vater zu, der einen leicht abwesenden Eindruck machte, als würde er in einer anderen Welt weilen.
„Vater.....“
Gelons und Glyfaras Blicke trafen sich. Gelon nickte. Er wußte auch ohne das seine Tochter den Satz zuende gesprochen hatte, was sie meinte.
„Ich bin schon dabei, mir etwas zu überlegen.“
Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, die darauf hinwiesen, daß er intensiv mit etwas beschäftigt war. Bevor Glyfara jedoch eine Frage stellen konnte, löste sich plötzlich ein von der fehlenden Gegenwehr der Gefährten ermutigter Kobold aus der Gruppe und stürmte auf Gelon zu. In der rechten Klaue hielt er ein Steinmesser mit einer gut dreißig Zentimeter langen Klinge, in der linken eine gefährlich wirkende Steinaxt. Glyfara reagierte wie eine gut geölte Maschine. Das Herumreißen des Bogens und das Spannen der Sehne erfolgten in einer einzigen fließen Bewegung, dann verließ der Pfeil auch schon die Sehne und drang mit einem ekelerregenden Geräusch derart wuchtig in die Stirn des angreifenden Kobolds ein, daß die Pfeilspitze am Hinterkopf wieder austrat. Wie vom Blitz getroffen ging der Kobold zu Boden und brachte den Vormarsch der Kreaturen erst einmal zum Erliegen, auch wenn sie ihre Wut über den Tod ihres Kameraden lautstark hinaus kreischten. Unbeeindruckt von der Unmutsbekundung hatte Glyfara bereits den nächsten Pfeil auf die Sehne gelegt.
„Der nächste bitte“, rief sie ihren Gegnern grimmig entgegen, was dazu führte, daß das wütende Gekreische noch um eine Oktave anstieg.
„Mach sie nur richtig sauer“, brummte Michael, dessen schweißnasse Hand sein Kurzschwert umklammerte, das er wie ein Schutzschild vor seinen Körper erhoben hatte. Er bezweifelte allerdings, daß ihm das etwas nützen würde, denn die Lage sah alles andere als gut aus. Keine fünfundzwanzig Fuß trennten sie nun noch von den finsteren Kreaturen, die sie lückenlos eingekreist hatten. Bedrückt stellte Michael fest, daß sie ihnen hoffnungslos unterlegen waren. Auf jeden der Gefährten kamen mindestens zehn der buckeligen Kobolde. Einen solchen Kampf konnten sie gar nicht gewinnen. Das war auch den Kobolden bewußt. Zwar hatte Glyfaras Pfeil Wirkung gezeigt und hielt sie vorerst auf Distanz, trotzdem war Michael sich im Klaren darüber, daß ihnen dies nur einen Aufschub gebracht hatte. Das Ende schien unvermeidbar. Ihre einzige Hoffnung ruhte nun auf den betagten Schultern von Gelon, der schon wieder einen abwesenden Eindruck hinterließ. Michael hoffte inständig, daß er damit beschäftigt war, den Energiefluss zu ihren Füßen anzuzapfen, um daraus etwas Brauchbares zu schmieden, das sie retten konnte. Einstweilen sah es jedoch nicht danach aus. Statt dessen hallte plötzlich das gewaltige Bersten von Eis durch die Kaverne, das selbst die Kobolde auf einen Schlag zum Verstummen brachte. Wie ein Mann fuhren die Köpfe der Kobolde zu dem unheilvollen Geräusch herum, dem nun ein markerschütterndes Brüllen folgte, das den Untergang der Welt anzukündigen schien. Der Koloß hatte allem Anschein nach die Kontrolle über seinen Körper zurück erlangt. Nun saßen sie wirklich in der Klemme. Die Kobolde allerdings auch. Hektisch flogen die schwefelgelben Augen zwischen ihrer Beute und dem heran nahenden Koloß, dessen schwere Schritte den Boden erbeben ließen, hin und her. Die aufragende Masse, die sich unerbittlich aus der Dunkelheit auf sie zuschob, ließ das Schlimmste befürchten.
„Was jetzt?“ Michaels Stimme überschlug sich vor Erregung.
„Auf den Boden“, befahl Gelon in einem Tonfall, der keine Widerrede erlaubte.
„Aber..“
„Los, runter!“
Mit erstaunlich kräftigem Griff zog Glyfara den zaudernden Michael zu Boden. Kaum lagen sie auf dem Bauch, der aus Michaels Sicht denkbar ungeeignetsten Position, um sich gegen eine Horde finsterer Kobolde und einem Ungeheuer in Hausgröße zur Wehr zu setzen, als Gelon, der als einziger stehen geblieben war, die Arme auch schon zu beiden Seiten ausstreckte und fremdartige Wörter in bedrohlichem Tonfall zu zitieren begann. Überrascht von dem ungewöhnlichen Verhalten verharrten die Kobolde einen Augenblick unschlüssig und betrachteten den langsam um sich selbst drehenden alten Mann argwöhnisch. Einen Augenblick später wurde ihnen gewahr, daß sie zu lange gezögert hatten. Aus dem Nichts kam plötzlich ein heftiger Wind auf, der in alle Richtungen wehte und sich in allerkürzester Zeit zu einem gewaltigen Orkan entwickelte. Aus der Bodenperspektive beobachtete Michael gebannt, wie Gelon die Orkanböen mit den Händen lenkte. Fast taten ihm die Kobolde leid. Das jüngste Gericht war in Gestalt von Gelon über sie gekommen.
Wie Herbstblätter unter dem Einsatz eines Laubpusters wurden sie in alle Himmelsrichtungen hinfort geweht. Der unerbittlichen Naturgewalt hatten sie einfach nichts entgegen zu setzen. Selbst der Vormarsch des Kolosses war zum Erliegen gekommen. Kaum war das Terrain um sie herum gesäubert, ertönte auch schon wieder Gelon herrische Stimme über das Brausen des Sturms hinweg, der ihnen befahl, sich zu erheben. Mit einem Satz sprang Michael auf die Füße und stellte überrascht fest, daß sie sich im Auge des Sturms befanden. Während keine zehn Fuß entfernt Winde tobten, die problemlos jedes solide Hausdach hätten abdecken können, regte sich auf ihrer kleinen Insel kein Lüftchen. Es fragte sich nur, wie lange das so bleiben würde.
„Ich hoffe, dein Alter hat das im Griff“, raunte er Glyfara zu, die ihm empört den Kopf zuwandte. Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte Gelon aber schon wieder das Wort ergriffen.
„Die Elementarenergie kann jeden Moment erlöschen. Wenn ich Los brülle, rennt ihr ohne zu fragen auf den Ausgang zu. Das ist unsere einzige Chance! Seht euch nicht um. Ich folge euch schon.“
Die Gefährten nickten mit angespannten Mienen, wobei sie besorgt Gelon musterten. Sein Gesicht hatte eine wächserne Farbe angenommen, und Schweißperlen rannen ihm in Strömen an den Schläfen hinunter. Es war unübersehbar, daß der Magier am Ende seiner Kräfte war. Bevor irgend jemand Kritik an seinem Vorschlag äußern konnte, ließ Gelon bereits die Hände kraftlos zu Boden sinken und rief: „Los!“
Der Überlebenswille übernahm die Kontrolle über den Verstand. Ohne weiter nachzudenken sprinteten die Gefährten los, allen voran der Wühler. Das Schlußlicht bildete Gelon, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Um sie herum erhob sich das Wehklagen der Überlebenden, das sich schnell in ein Zornesgebrüll verwandelte, als die Kobolde erkannten, daß sich ihre Beute absetzen wollte. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, machte sich an die Verfolgung. Auch der Koloß war nicht entzückt über die Wandlung der Ereignisse. Sein verärgertes Grollen hallte durch die Kaverne, während er mit großen Schritten dem jenseitigen Ausgang zustrebte. Einstweilen war das Glück aber zur Abwechslung einmal auf Seiten der Gefährten und ließ sie unbeschadet den tunnelartigen Ausgang erreichen. Die Wände des hoch aufragenden Tunnels wölbten sich über ihnen wie die Seiten eines Kirchenschiff in die Höhe. Offenbar war dies der Weg, auf dem der Koloß die Kaverne verlassen konnte. Der Gedanke war alles andere als ermutigend. Zumindest hielten sich hier keine Kobolde auf. Das war wenigstens etwas Erfreuliches. Nach dem sie gut dreihundert Fuß in den Tunnel eingedrungen waren, hielt die Gruppe an, um auf Gelon zu warten. Der Magier war deutlich zurückgefallen und erreichte gerade erst schwer atmend den Ausgang, verfolgt von einer Schar Kobolde, die schnell aufholten. Ohne zu zögern nahm Glyfara den Bogen zur Hand, während Michael besorgt den vor Erschöpfung hin und her wankenden Magier beobachtete. In dem schwachen Licht hielt er es für gewagt, aus dieser Entfernung an ihm vorbei auf seine Verfolger zu schießen. Zu groß war die Gefahr, daß anstatt der Verfolger, Gelon getroffen werden könnte. Glyfara schien ähnliches zu überlegen, denn sie zögerte einen Augenblick, als sie die Sehne spannte. Dann aber atmete sie langsam aus und ließ die Sehne los und der vorderste Verfolger überschlug sich plötzlich, als der gefiederte Pfeil in seinen Körper einschlug. Ein weiterer Pfeil folgte mit ähnlichem Ergebnis. Das brachte die Verfolgungsjagd abrupt zum Stoppen und gab Gelon die Gelegenheit, zu ihnen aufzuschließen.
„Flieht“, keuchte er schwer atmend, kaum daß er sie erreicht hatte. „Ich werde versuchen, sie aufhalten.“
„Wir bleiben an deiner Seite!“ Glyfara machte keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Demonstrativ legte sie ihren letzten Pfeil auf die Sehne.
„Kämpfen“, knurrte der Wühler zustimmend. Mit gesträubtem Fell stellte er sich neben den erschöpften Magier und spähte zum Tunnelausgang hinüber, wo sich die Kobolde zum Angriff zusammenscharrten. Ihr verärgertes Fauchen war bis hierher zu vernehmen.
„Ich hoffe, Sie haben einen guten Plan“, brummte Michael, der sich als letzter in die Reihe der Verteidiger einordnete.
„Keine Sorge, wir machen ihnen die Hölle heiß“, verkündete Gelon, dann riß er die Arme hoch und begann, erneut in der seltsamen Sprache unbekannte Worte zu zitieren. Michael glaubte zu spüren, wie sich rings um sie herum ein Energiefeld aufbaute, das aus der Tiefe der Erde zu kommen schien und seine Haut zum Prickeln brachte. Besorgt beobachtete er, wie die Haut des Magiers diesmal in einem unheilvollen Rot zu leuchten begann. Welchen Energiefluss hatte er diesmal angezapft? Er kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu vertiefen, da die Kobolde in diesem Moment panisch die Flucht ergriffen. Der Grund hierfür präsentierte sich einen Augenblick später in Gestalt eines gewaltigen Schattens, der den Tunnelausgang verdunkelte. Der Koloß hatte den Kavernenausgang erreicht. Jetzt saßen sie wirklich in der Tinte. Die roten Augen funkelten bösartig, als er seine Widersacher ins Visier nahm und gemessenen Schrittes den Tunnel betrat.
„Jetzt wäre der angemessene Zeitpunkt zum Handeln, meint Ihr nicht?“
Michaels Stimme überschlug sich vor Aufregung, während er beobachtete, wie der Koloß – einer Naturgewalt gleich – unerbittlich näher kam. Aus dem Augenwinkel registrierte er erleichtert, daß Gelon endlich handelte. Mit einem Ruck senkte der Magier beide Arme zum Tunnelboden hinab. Grellrote Energieblitze schossen aus seinen Fingerspitzen, kaum daß er die geballten Fäuste geöffnet hatte und verschwanden in dem dunklen Stein des Tunnelbodens, der sie aufsog, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Von dem Anblick irritiert blieb der Koloß verwundert stehen. Ihm war noch gut in Erinnerung geblieben, wie ihm die letzte Konfrontation mit diesem alten Mann bekommen war. Er beschloß abzuwarten, bis das rote Leuchten verschwunden war. Auch die Gefährten waren angesichts der knisternden Energieströme, die über den Magier in den Stein eindrangen, ein paar Schritte zurückgewichen. Der Wühler knurrte ungehalten, da die Energie sein Fell statisch auflud. Michael fand, daß er wie ein riesiger Igel aussah und konnte sich das Grinsen trotz der Ernsthaftigkeit ihrer Situation kaum verkneifen. Dann hörte das unheimliche Schauspiel genauso plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Nachdem der letzte Energieblitz im Boden verschwunden war, brach Gelon erschöpft in die Knie, ohne daß die Gefährten den Hauch einer Auswirkung bei dem Koloß feststellen konnten. Soweit Michael das beurteilen konnten, glühten die wagenradgroßen Augen genauso bösartig wie zuvor.
„War das etwa alles?“, rief Michael, der überzeugt davon war, daß jeden Moment seine letzte Stunde schlagen würde. Verzweifelt riß er Gelon an den Schultern hoch, doch der Magier war zu erschöpft, um zu antworten. Nicht so der Koloß. Ein triumphierendes Brüllen bestätigte Michaels schlimmste Befürchtungen. Dem Koloß ging es noch immer ausgezeichnet. Siegessicher setzte er sich wieder in Bewegung, um dann jedoch erschrocken innezuhalten.
„Was hat er denn plötzlich?“, fragte Glyfara erstaunt. Gelon, der noch Mühe hatte, sich auf den Füßen zu halten, wies auf den dunklen Tunnelboden, der fünfzig Fuß vor ihnen schwach rot zu leuchten begann.
„Ich habe das Feuer aus der Tiefe der Erde herauf beschworen. Wenn er weiter gegangen wäre, würde er jetzt von ihm verzehrt werden“, krächzte er mit einer Stimme, die klang, als sei er geradewegs einer Gruft entstiegen. Wie zur Bestätigung brach auf eine Länge von dreißig Fuß der Boden mit einem dumpfen Geräusch ein. An seine Stelle trat dunkelrot leuchtende, feurige Magma, die rasch über die Ränder quoll und den Tunnel in kürzester Zeit in einen Hochofen verwandeln würde.
„Magma!“, stöhnte Michael entsetzt, dem sein Vergleich mit einer Abflußröhre eines Vulkans wieder einfiel. Er befand sich tatsächlich in einer, und dazu noch in einer, die gerade wieder benutzt wurde. Schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr kommen. Der Koloß schien das ähnlich zu sehen. Mit einem letzten ärgerlichen Grollen verließ er fluchtartig den Tunnel.
„Wir sollten es ihm nachmachen“, riet Glyfara. Es gelang ihr kaum, ihre Augen von der brodelnden Masse abzuwenden, die keine fünfzig Fuß entfernt aus den Tiefen der Erde emporquoll und sich langsam, aber stetig in ihre Richtung ausbreitete.
„Heiß“, stimmte der Wühler ihr zu, der sich in seinem dichten Pelz nicht ganz wohl fühlte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machten die Gefährten auf dem Absatz kehrt und flohen in die Tiefe des Tunnels. Michael stützte dabei den noch immer geschwächten Gelon, während hinter ihnen das rote Leuchten allmählich verblaßte. Als der schnurgerade, leicht abwärts führende Tunnel eine erste Biegung beschrieb, verschwand das Leuchten ganz. An seine Stelle trat das allgegenwärtige blaßgrüne Licht. Gleichwohl war jedem von ihnen bewußt, daß die Gefahr noch nicht gebannt war. Die Naturgewalt der Erde war durch Gelon in Gang gesetzt worden, und die ließ sich nicht aufhalten. Sie mußten also dringend zusehen, daß sie aus diesem Tunnel herauskamen, oder er würde für sie alle zur tödlichen Falle werden. In höchster Not eilten sie weiter. Nach weiteren fünfhundert Fuß beschrieb der Tunnel erneut eine Biegung, weitete sich dann plötzlich zu einer kleinen Höhle und endete schließlich abrupt vor einer hoch aufragenden Granitwand. Stufen, die für die Schrittlänge des Kolosses gedacht waren, führten daran in die Höhe.
„Verdammt! Wie sollen wir denn da hinauf kommen?“
Frustriert trat Michael gegen die unterste Stufe. Er hielt es zwar durchaus für möglich, daß Glyfara und ihm das gelingen könnte. Für den Wühler und Gelon hingegen sah er hingegen keine Möglichkeit.
„Statt Fragen zu stellen, such lieber nach Antworten“, gab Glyfara barsch zurück, die in gewohnt lösungsorientierter Weise an das Problem heran ging und das vor ihnen aufragende Hindernis kritisch in Augenschein nahm. Jede Stufe hatte eine Höhe von knapp zwei Metern. Sie zu überwinden würde nur im Teamwork funktionieren. Mit zurückgelegtem Kopf spähte sie die Wand hinauf und versuchte abzuschätzen, um wieviel Stufen es sich insgesamt handelte. Es gelang ihr nicht. Der obere Teil der Wand verlor sich in der Dunkelheit. Dafür schob sich das rote Leuchten der vordringenden Magma weit hinter ihnen um die Gangbiegung. Michaels ohnehin stark angekratzter Optimismus sank bei diesem Anblick rapide.
„Ein Beweis dafür, daß Murphys Gesetz auch hier seine Gültigkeit hat.“
„Was für ein Gesetz?“ Entgeistert sah Glyfara ihn an. Angesichts der drohenden Gefahr verstand sie nicht, wieso Michael ausgerechnet jetzt von Gesetzen zu reden anfing.
„Murphys Gesetz!“, erwiderte der ungerührt. „Es lautet: Wenn etwas schief gehen kann, dann geht es auch schief.“
Glyfara schnaufte ungehalten, während sie zusah, wie Michael zur ersten Stufe hochsprang, sich am Absatz festklammerte und sich dann mühsam hochzog.
„Pragmatismus, nicht Pessimismus wäre jetzt angezeigt“, fauchte sie wütend.
„Wonach sieht das hier wohl aus? Jetzt bilde einen Tritt für Gelon, damit ich ihn hinaufziehen kann, und beeile dich, wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Mit den Händen machte Michael vor, was er gemeint hatte. Glyfara nickte und machte ihrem Vater Anstalten, ihre Hände als Tritt zu verwenden, aber der winkte ab.
„Zu spät“, flüsterte er heiser. „Ich fürchte, wir werden diesen Ort auf eine ganz andere Weise verlassen.“ Seine Augen hefteten sich auf seine Tochter, die ihn verständnislos ansah, bis sich auch auf ihrem Gesicht plötzlich Erkennen ausbreitete.
„Nicht schon wieder!“
„Mist“, brummte der Wühler.
„Könnte mir mal einer erklären, was los ist?“, fragte Michael ungehalten, der das Verhalten seiner Gefährten nicht nachvollziehen konnte.
„Hörst du es denn nicht?“ Glyfaras Stimme war der Panik nahe, was nicht gerade dazu angetan war, Michael zu beruhigen.
„Nein! Verdammt noch mal, ich kann nichts hören!“
„Gib dir Mühe!“
Aufmerksam spitzte Michael die Ohren und vernahm zu seiner Überraschung nun doch etwas in weiter Ferne, das ihm auf unangenehme Weise bekannt vorkam. Es klang wie das Brausen eines herannahenden Zugs, das rasend schnell lauter wurde. Seine Augen wurden groß, als er sich erinnerte, wo er das Geräusch schon einmal gehört hatte. Jetzt verstand er auch, warum Glyfara in heller Aufregung war. Aber für eine Erwiderung war es bereits zu spät.
„Paß auf..“, war das letzte, was er von ihr hörte, dann riß ihn auch schon ein galaktischer Strudel von den Füßen.
Die fünfte Stunde des Nachmittags war bereits hereingebrochen, und noch immer war der Klang hektischer Aktivität auf den Brüstungsmauern zu vernehmen. Grimmbart, der emsig damit beschäftigt war, die Anlage auf mögliche Schwachpunkte zu untersuchen, warf gelegentlich eine Blick über die Brustwehr. Er konnte sich gut vorstellen, was der Feind jenseits der Hügel baute. Eine Ramme, Kriegsleitern und Turm waren neben dem Katapult die typischen Utensilien des Kriegshandwerks. Die Katapulte waren der Flut zum Opfer gefallen und Grimmbart bezweifelte, daß es ihnen gelingen würde, in der Kürze der Zeit ein neues, brauchbares Katapult zu bauen. Leitern, Ramme und Turm hingegen waren hingegen leichter herzustellen. Nachdenklich blieb er stehen und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, während er überlegte, welche Seite sich aus der Perspektive des Gegners am besten für den Einsatz eines Turms eignen würde. Die Nordseite schied definitiv aus. Der Fels am Fuß des Nordwalls fiel über viele Meter besonders steil ab, und das Gelände dahinter war zu zerklüftet für den Einsatz eines rollenden Turms. Die Südseite war geprägt von der Auffahrt zum Tor. Grimmbart war überzeugt davon, daß hier nur die Ramme zum Einsatz kommen würde. Zwar hatten die Gegner es schon einmal auf diese Weise versucht und bitter hierfür bezahlt, trotzdem zweifelte er nicht daran, daß sie es noch einmal versuchen würden. Dazu war das Tor ein strategisch zu wichtiger Punkt. Würde es fallen, würde Burg folgen. Sein Blick wanderte zum Südtor hinüber, wo Grüneich letzte Korrekturen an der ausfahrbaren Rampe vornahm. Sollte sein Plan aufgehen, würde der Gegner erneut eine böse Schlappe erleben. Trotzdem hatte Grimmbart vorsorglich dafür gesorgt, daß auf der Brustwehr große Kessel mit Wasser auf den Feuerstellen aufgestellt wurden. Da ihnen das Pech nahezu ausgegangen war, galt es nun zu improvisieren. Auch ein großer Schwall kochenden Wassers konnte dem Gegner schweren Schaden zufügen. Grimmbart war überzeugt, daß sich der Gegner diesmal besser schützen und für seinen nächsten Angriff den typischen Aufbau einer Ramme wählen würde. Nur zu gut erinnerte er sich an den Anblick vergangener Schlachten. Die Ramme, die von einem schützenden Aufbau aus Holz umgeben war, hatte stets wie ein überdimensionaler Tausendfüßler auf ihn gewirkt. Bolzen und Pfeile konnten den Gegnern in ihrem Inneren nichts anhaben. Gerade deshalb war eine Ramme so gefürchtet. Bei Wasser hingegen sah das anders aus. Wasser fand bekanntlich seinen Weg. Sollte Grüneichs Wunderwaffe daher versagen, würde sie ihre Gegner in ihrem Tunnel zuerst wie die Krebse kochen und dann einen Ausfall wagen und ihnen den Rest geben. Zumindest hatte sich dieses Vorgehen in der Vergangenheit bewährt. Wengor hatte daher sogleich ein halbes Dutzend kräftige Jugendliche für das Befüllen und Erhitzen der vier Wasserkessel abgestellt. Mittels Flaggensignale würde ihnen zudem übermittelt werden, wo gerade an anderer Front dringend kochendes Wasser benötigt wurde. In diesem Fall würden sich die Wasserträger mit ihrer heißen Last auf den Weg durch das Kampfgetümmel machen. Zufrieden mit dem, was er sah, wandte sich Grimmbart wieder dem augenblicklichen Problem zu. Ein Angriff mit dem Turm war sowohl an der Ost- als auch an der Westfront denkbar. Da die Ursache des beunruhigenden Lärms aber im Westen lag, tippte Grimmbart darauf, daß auch der Angriff aus dieser Richtung erfolgen würde. Er beschloß, zur Unterstützung der Balliste im Westen die Balliste an der Nordseite so ausrichten zu lassen, daß auch sie das Gebiet an der Westfront unter Beschuß nehmen konnte.
Der Aufprall war hart und raubte Michael den Atem. Für einen Augenblick war er völlig orientierungslos. Grelles Licht stach ihm in die Augen und der Geruch feuchter Erde stieg ihm in die Nase. Dann durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Er war wieder unter freiem Himmel! Es dauerte einen Augenblick, bevor sich seine Augen nach der langen Zeit in der tiefen Finsternis an das helle Licht gewöhnten und aufhörten zu tränen. Er war auf einer Waldlichtung gelandet. Die späte Nachmittagssonne stand im Westen bereits tief über den Baumgipfeln und sandte ihre letzten warmen Strahlen bis auf die Mitte der gut einhundert Quadratmeter großen Lichtung. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung konnte er im Schatten des Waldrandes drei Körper am Boden erkennen, die sich zögernd zu regen begannen. Neue Hoffnung durchflutete ihn und ließ ihn die Strapazen der vergangenen Stunden fast vergessen. Mit einem Ächzen stemmte er sich auf die Füße, um ihm nächsten Moment vor Schreck zu erstarren. Ein großer Schatten verdunkelte plötzlich die Sonne. Zugleich erklang ein tiefes Knurren hinter ihm, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein fast übermächtiger Geruch von feuchtem Fell lag mit einem Mal in der Luft.
„Wer bist du?“
Die Stimme klang hart und kompromißlos. Zögernd drehte Michael sich um, und erschrak bis ins Mark. Er hatte oft gelesen, daß Menschen, die bei einer Wanderung in den weiten Gebieten des zum Teil noch unberührten Kanadas eine unverhoffte Begegnung mit einem Grizzly hatten, vor Schreck wie gelähmt waren. Allerdings konnten selbst diejenigen, die das Pech gehabt hatten, einem ausgewachsenem Exemplar gegenüberzustehen, nicht ermessen, welche Furcht Michael in diesem Moment empfand. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Bären an, der keine fünf Fuß von ihm entfernt stand und gegen den selbst das gewaltigste Bärenexemplar Nordamerikas wie ein Junges gewirkt hätte. Das Ungewöhnlichste war jedoch der in Fell gekleidete junge Mann von circa fünfundzwanzig Jahren, der auf dem mächtigen Nacken des Tieres saß und ihn finster anstarrte. Seine Hand ruhte auf dem Knauf seines Schwertes, das er um die Hüfte gegürtet trug. Die tief in die Stirn fallenden, dunklen Haare verliehen ihm ein wildes Aussehen. Michael fand, daß er gut zu dem Bären paßte.
„Ich habe dir eine Frage gestellt!“ Ein kurzer Druck mit den Schenkeln bewirkte, daß der Bär einen Schritt auf Michael zumachte, der daraufhin erschrocken zurückwich.
„Ich bin .. Michael. In meiner Begleitung befindet sich der ehrwürdige Magier Gelon von der Bruderschaft, seine Tochter sowie ein weiterer, treuer Gefährte.“
„Gelon!“
Die Stimme klang nun überrascht.
„Und wo sind ...“
Erschrocken hielt der Bärenreiter inne, als er in den Schatten der Bäume Michaels Gefährten entdeckte, die gerade taumelnd auf die Füße kamen. Der Bär knurrte drohend, doch der Junge brachte ihn mit einem Klaps auf den Kopf zum Schweigen. „Du bleibst hier!“, befahl er. Dann schwang er sich elegant von seinem pelzigen Reittier herab und stürmte ohne ein weiteres Wort an Michael vorbei auf die Gefährten zu. Michael, der sich plötzlich allein mit dem Bären wiederfand, sah zu, daß er ihm folgte. Zu seiner Verärgerung war der junge Reiter einen Augenblick vor ihm bei den Gefährten und half der noch leicht benommenen Glyfara, die sich dankbar auf seine Schulter stützte und sich leicht an ihn lehnte. Michael kochte bei diesem Anblick innerlich vor Eifersucht. Da der Magier schon wieder einen trittsicheren Eindruck machte und Michael freudig zuwinkte, als er ihn erkannte, fiel diesem die Aufgabe zu, sich um den noch immer benommenen Wühler zu kümmern. Während Michael dem Wühler also auf die Füße half, tauschten sich Gelon und der Bärenreiter aus.
„Die Bruderschaft wird belagert!“, wiederholte er ungläubig, nachdem Gelon ihm ausführlich die Situation erklärt hatte. Mit loderndem Blick registrierte Michael, daß die ansonsten so robuste Glyfara noch immer an der breiten Brust des Bärenreiters lehnte, der sie um einen guten Kopf überragte und ihr den Arm beschützend um die Schulter legte, während er Gelon eifrig Fragen stellte.
„Hübsches Paar“, brummte der Wühler, der nun wieder den altbekannten Eindruck hinterließ.
„Da hinten wäre noch ein Partner für dich“, knurrte Michael zurück und wies auf die Silhouette des riesigen Bären, den der Wühler bisher übersehen hatte. „Vielleicht verspeist er dich aber auch nur zum Abendessen“, fügte er hinzu und begab sich dann zu den anderen hinüber. Glyfara warf ihm ein spitzbübisches Lächeln zu, als er mit finsterem Gesichtsausdruck zu ihnen stieß.
„Alles gut überstanden?“, fragte sie mit einem unergründlichen Blick.
„Wer ist das?“, fragte Michael schroff, ohne auf Glyfaras Frage einzugehen.
„Ich bin Sid, Anführer der Garde des Bärenclans und ein guter Bekannter der Bruderschaft.“
„Wie schön“, brummte Michael, der wütend dem stahlharten Blick des Bärenreiters standhielt. Gelon, der die Spannung zwischen den jungen Männern spürte, schaltete sich vermittelnd ein.
„Zwischen der Bruderschaft und den Bärenclan besteht seit Alters her ein reger Handel. Medizin und Korn gegen seltene Mineralien. Sid kommt seit Jahren zu uns. Er lebt mit seinem Clan weiter nördlich, hoch im Gebirge. Ihre Patrouillen schützen das Land im Norden gegen unerwünschte Eindringlinge. Ganz offensichtlich haben wir diesmal Glück gehabt, als wir erneut von dem magischen Sog ergriffen wurden. Wir befinden uns jenseits der Berge, unweit des Meeres.“ Mit einem Seitenblick wandte er sich an seine Tochter. „Glyfara, falls du dich wieder hergestellt fühlst, kümmere dich bitte um den Wühler. Er sieht ein wenig blaß aus.“
Widerstrebend ließ die Elbin von Sid ab und ging zum Wühler hinüber, der gebannt den wie ein Standbild aus Pelz inmitten der Lichtung stehenden, gewaltigen Bären anstarrte, als wolle er ihn hypnotisieren.
„Wenn du dumme Sprüche machst, verfüttere ich dich an ihn“, begrüßte sie den unglücklichen Gefährten.
Derweil sah Michael eine Möglichkeit, sich des unliebsamen Nebenbuhlers zu entledigen. Mit möglichst neutralem Gesicht schlug er ihm vor, seinen Clan zu mobilisieren und der Bruderschaft zuhilfe zu eilen. Zu seiner Überraschung befürwortete Sid den Plan.
„Eine gute Idee“, stimmte er Michael zu. „Eine halbe Wegstunde von ihr warten zwei Gefährten von mir. Ich werde sie aufsuchen und ihnen auftragen, Hilfe zu holen. Dann komme ich zurück, um Euch zur Küste zu begleiten.“
„Das ist sehr freundlich, aber wir kommen auch allein zurecht“, wies Michael das Ansinnen brüsk zurück. Sid starrte ihn angesichts der herben Abfuhr finster an. Dann wandte er sich direkt an Gelon und überging Michael, als sei er gar nicht anwesend.
„Ich habe weiter nördlich am Paß Spuren schwer beschlagener Hufe entdeckt. Kriegsrößer. Bors, mein Bär, hat ungewohnt erregt auf diese Spur reagiert. Sie führen zum Meer hinab. Wenn Ihr mich fragt, ist das kein Zufall. Irgend etwas ist Euch auf der Fährte. Ihr könnt Bors und meine Unterstützung gut gebrauchen, zumal Eurer Tochter die Pfeile ausgegangen sind.“
„Wir nehmen deine Hilfe dankend an“, erwiderte Gelon, worauf sich Michael vor Wut fast verschluckte. Jetzt hatte er diesen gutaussehenden Wilden am Hals.
„Bär gefüttert?“, erklang die ungewohnt unsichere Stimme des Wühlers, der sich mit dem pelzigen Artverwandten nicht so recht anfreunden konnte. Sid grinste breit, und entblößte dabei makellose, schneeweiße Zähne in dem braun gebrannten Gesicht, die jedem Hollywoodschauspieler gut zu Gesicht stehen würden.
„Macht Euch keine Sorgen. Bors ist satt. Aber ich denke, Ihr könntet etwas zu Essen vertragen, während ich weg bin. Ich lasse Euch ein wenig Proviant hier. Lange bevor die Sonne den Horizont küßt, bin ich wieder zurück.“
„Wir können es kaum erwarten“, brummte Michael griesgrämig.
Sid hielt Wort. Die Dämmerung war noch nicht hereingebrochen, als sich der gewaltige Leib des Bären auf die Lichtung schob. Die Gefährten hatten die Zwischenzeit genutzt, um sich an den zurückgelassenen Vorräten satt zu essen. Nun fühlten sie sich gestärkt genug, um die letzte Etappe ihrer Reise in Angriff zu nehmen.
„Unterstützung ist auf dem Weg“, begrüßte Sid die Gefährten, als er zu ihnen stieß. Diesmal verzichtete er darauf, von seinem Reittier abzusteigen, so daß die Gefährten zu ihm aufsehen mußten. Die Gegenwart des Raubtiers machte Michael und den Wühler noch immer nervös. Glyfara und Gelon hingegen gaben sich ungezwungen. Offenkundig waren sie Kontakt mit Bären dieser Größe gewöhnt. „Wir sollten sofort aufbrechen. Die Nacht bricht bald herein, und es sind noch drei Wegstunden bis zu den Ufern des Meeres des Vergessens. Einer von Euch könnte bei mir oben mitreiten.“
Auffordernd streckte er Glyfara die Hand entgegen, die sich mit einem Lächeln bedankte und an ihren Vater verwies. Sid nickte, wobei er die Enttäuschung, daß anstatt der geschmeidigen Elbin sich nunmehr ihr betagter Vater an seinen Rücken drücken würde, nicht ganz verbergen konnte. Michael grinste breit, als er dem alten Magier auf den Bären half, was ihm einen strafenden Blick von Glyfara einbrachte. Aber trotz der ernsten Miene, die sie dabei aufsetzte, glaubte Michael noch etwas in ihrem Blick zu sehen, das er nicht deuten konnte und das ihn verwirrte. Fast kam es ihm so vor, als wenn das Ganze für die Elbin nur ein amüsantes Spiel war. Was wollte sie wirklich und was wollte er?
Unauffällig musterte er Glyfara, die selbst nach den durchlebten Strapazen noch immer bildschön aussah. Sein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen, als er sich vorstellte, daß sie sich für ihn entscheiden würde.
Aber was wäre dann?
Dies war nicht seine Welt! Er hatte ein eigenes Leben in seiner eigenen Welt, mit seinen Verwandten und Freunden, und das war er nicht bereit, aufzugeben. Und doch spielte sein Herz jedesmal verrückt, wenn er an Glyfara auch nur dachte. Angesichts dieser vertrackten Situation seufzte er tief und beschloß, diese Fragen zum geeigneten Zeitpunkt neu zu überdenken. Vielleicht gab es für ihn ja gar keine Möglichkeit, in seine Welt zurückzukehren. Dann würde er sich diesen Fragen gar nicht erst stellen müssen.
„Hör auf zu träumen, und setz dich in Bewegung!“
Die leicht amüsiert klingende Stimme Glyfaras riß ihn aus seinen Gedanken. Erstaunt stellte er fest, daß der Bär mit Sid und Gelon an Bord bereits in den Wald eingetaucht und Glyfara ihm auf halbem Weg gefolgt war. Nur der Wühler saß noch an seiner Seite und starrte dem Koloß von Bären mißtrauisch hinterher.
„Aufpassen“, brummte er vieldeutig mit einem Seitenblick auf Michael. Dann trabte er los, und Michael folgte mißmutig. Warum war das Leben nur so kompliziert?
Die Tannennadeln knirschten unter seinen Schuhen, als er zu Glyfara aufgeschlossen hatte und nun an ihrer Seite dem Bären folgte, der sich wie ein Eisbrecher durch das Unterholz schob. Michael meinte sich zu erinnern, daß Bären auf kurze Distanz hohe Geschwindigkeiten erreichen konnten, und das selbst im dichten Unterholz.
Zu welchen Leistungen war dann wohl erst dieser Koloß fähig?
Das würden die Soldaten des Wandlers wahrscheinlich bald herausfinden, sofern die Bärenreiter rechtzeitig auf dem Schlachtfeld eintreffen sollten. Er dachte an das, was Sid über die Spuren gesagt hatte. Auszudenken war es nicht, daß der Wandler vorsorglich einen Trupp seiner Soldaten über den Paß geschickt hatte. Der Gedanke, daß diese Kreaturen ihnen im Unterholz auflauern könnten, war nicht gerade erbaulich. Auch wenn es ihm widerstrebte mußte er sich angesichts dieser möglichen Bedrohung eingestehen, daß die Begleitung von Sid und seinem pelzigen Reittier auch Vorteile hatte. Selbst die aggressivsten Dämonen würden sich es wahrscheinlich dreimal überlegen, bevor sie sich mit diesem pelzigen Kampfkoloss anlegten. Die gewaltigen Pranken des Bären sahen kräftig genug aus, um einen Hirschen mit einem Prankenhieb mühelos in zwei Teile zu zerlegen, und die Unterarm langen Zähne sprachen für sich. Selbst einem Dinosaurier hätte dieser Bär vermutlich Respekt eingeflößt. Er fragte sich nur, wieso dieses Raubtier einen Reiter duldete.
„Sie ziehen ihre Bären von Hand an auf“, sagte Glyfara, als habe sie seine Gedanken gelesen. „Sid kam mit seinem Bären in Begleitung der Handelskarawane schon zu uns, als dieser noch ein kleines, verspieltes Wollknäuel war. Seit dem kennen wir uns.“
„Geht doch nichts über alte Freundschaften“, brummte Michael. Glyfara versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Es machte ihr Spaß, Michael aus der Reserve zu locken und ein wenig eifersüchtig zu machen. Sie waren jetzt schon seit Wochen gemeinsam unterwegs, und noch immer hatte Michael keinen direkten Annäherungsversuch gestartet. Sie wußte einfach nicht, was sie davon halten sollte. Glyfara war sich ihrer Wirkung auf Männer sehr wohl bewußt. Um so mehr verwunderte es sie, daß Michael darauf kaum reagierte, sah man einmal von ein paar Andeutungen von Eifersucht ab. Vielleicht war er einfach nur schüchtern und brauchte ein wenig Anreiz, um sich zu seinen Gefühlen zu bekennen. Glyfara war zu stolz, um selbst den ersten Schritt zu tun. Insofern war sie ganz den alten Traditionen verhaftet. Der Mann hatte um die Braut zu werben, nicht umgekehrt. Sie beschloß, seine Eifersucht noch ein wenig anzustacheln und gab ihrer Stimme einen verklärten Klang, als sie fortfuhr, von Sid zu schwärmen.
„Ist er nicht ein gut aussehender Mann? Die Mädchen bei uns in der Bruderschaft sind ganz verrückt nach ihm, und sie bewundern seinen Bären. Findest du nicht auch, daß er ihn mit seinen Muskeln perfekt unter Kontrolle hat?“
„Hmmm.“
„Was für ein Glück, daß wir ihn getroffen haben.“
„Ich bin außer mir vor Freude. Warum schwingst du dich nicht auch noch auf den Bärenrücken und singst ihm ein Dankeslied. Genug Platz ist dort oben bestimmt noch.“
„Keine schlechte Idee, aber wer paßt dann auf dich auf?“
„Ich komme schon allein zu recht und will deinem Glück nicht im Wege stehen.“
Glyfara ließ eine glockenhelles Lachen erklingen, worauf der Bär, der hundert Fuß vor ihnen durch das Dickicht stapfte und eine Spur der Verwüstung hinterließ, irritiert schnaubte.
„Das ist süß! Als wenn du in den letzten Wochen ohne meine Hilfe zurecht gekommen wärst. Gib es zu, du brauchst mich.“
„Ja, um nach Hause zu kommen und diesen Albtraum endlich hinter mir zu lassen“, erwiderte Michael bissig und beschleunigte seinen Schritt, um die Elbin hinter sich zu lassen. Ihm war die Lust auf eine Fortführung der Konversation vergangen. Sollte sie doch mit diesem Halbwilden glücklich werden. Er scholt sich selbst einen Narren, daß er sich jemals Hoffnung gemacht hatte. Gegen Tarzan auf seinem Raubtier sah er eben blaß aus. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stapfte er dem Bären hinterher durch den Wald. Daher entging ihm das wütende Blitzen in den Augen Tarens und der enttäuschte, unglückliche Gesichtsausdruck, den die Elbin angesichts der verfahrenen Situation nicht verbergen konnte.
„Zweibeiner“, knurrte der Wühler in mitleidigem Ton und verdrehte die Augen. Wenn seine Spezies genauso schwierig wäre, würde sie längst ausgestorben sein.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2017.
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