Maike Opaska

Anfänge

An diesem Morgen zu sehr früher Stunde setzt Sara sich an den Schreibtisch und will von einem Morgen erzählen, der ihr einmal sehr viel bedeutet hat . Aber sie kann sich nichkonzentrieren, es fällt ihr gleich ein anderer Morgen ein. Womit sie auch zu erzählen beginnen will, sie bringt nicht einmal die Gedanken zu Ende, da fällt ihr schon wieder ein anderer Morgen ein. So sehr sie sich auch bemüht, etwas Haltbares zu finden, sie bringt es nicht zustande.Viele Stunden verbringt sie am Schreibtisch. Es ist, als müsste sie eine Funktion erfüllen, doch in der letzten Zeit fühlt sie sich an ihrem Schreibtisch wie ein Kapitän auf einem sinkenden Schiff.

Früher konnte sie ihre Gedanken in Worte fassen, fast unermüdlich und besessen. Aber heute bohrt sie in sich, sucht nach dem Vorstoß in eine Ader ihrer Denkgrube. Zuerst fand sie meist Schlacke, dann nach längerem Hineingraben schon glitzerndes lockendes Material. Jetzt wartet sie, aber sie ist erloschen, erschöpft, kommt nicht weiter und doch spürt sie eine nagende Unruhe in sich.

Und so beginnt sie zu schreiben, um gleich wieder abzubrechen, grübelt über Möglichkeiten nach, und auch zwischen den vielen Möglichkeiten schwankt sie immer wieder zwischen verschiedenen Themen. Und so schreibt sie immer wieder Anfänge von Konfrontationen mit einer erdachten und bekannten Person, oder den Anfang einer Beschreibung von Landschaften, den Anfang einer Erinnerung, manchmal einer Reise oder von einem Aufenthalt, einem Ausflug  irgendwohin, den Anfang eines Berichtes, über ein Gewächs, ein Schiff, ein Tier oder einen Menschen. Über Familienzwiste, Zeremonien oder ähnliches, eben über  Dinge, die unerschöpflich sind und ihr schon nach wenigen Zeilen den Atem rauben.

Und wenn sie keinen befriedigenden Weg findet, sich auszudrücken, geht sie in ein anderes Zimmer und lässt ihren Gedanken freien Lauf oder sie läuft im Park ein paar Runden. Meist findet sie dort Ausdrucksmittel, wenn sie aufmerksam in sich hineinhört. Aber im Augenblick des Übergangs, wenn sie zurück zu ihrem Schreibtisch kommt, um Gedachtes niederzuschreiben, verliert sie sich wieder in Nebensächlichem und beginnt von vorne mit ihren Anfängen.

Manchmal fühlt Sara Schwere in ihren Gliedern, Müdigkeit in ihrer Mimik und sie spürt, dass sie das innere Lächeln verloren hat. Dann geht sie zum Spiegel und spricht mit sich, denn mit wem sollte sie auch sprechen? Es gibt keinen Menschen in ihrem Leben, dem sie das, was in ihr ist, sagen könnte. Sie hat viel zu sehr an Menschen geglaubt, auch damals noch, als sie bereits durch viele Höhen und Tiefen gegangen war und sich später eine Mauer errichtete, hinter der sie sich in ihre Gedankenwelt flüchtete und nur selten ein Fensterchen öffnete, um Licht nach innen dringen zu lassen. Aber Mauern schützen nicht nur, sie machen auch einsam. An diesem Morgen ist sie wieder ohne Willen und glauben und die Bewegung der Hand erstirbt von allein zwischen verworrenen Gedanken und Wortfetzen. Manchmal, wenn sie ihre Spaziergänge durch die Alleen geht, schweben ihr Bilder vor, manchmal auch vor dem Einschlafen oder im Vor-Sich-Hin-Dämmern. Es sind dann Visionen in ihr, die in jeder Einzelheit deutlich sind, aber an ihrem Schreibtisch kann sie keine Klarheit gewinnen und vor allem keine Ausdauer.

Das war nicht immer so, denn selbst aus einer Unklarheit heraus konnte sie früher arbeiten, sie hatte Antrieb,. Aus völliger Dunkelheit heraus konnte sie damals beginnen, ohne Plan, ohne Wissen und Form. Sie konnte arbeiten wie im Traum und war nur Werkzeug für ihre innere Stimme. Eigentlich fehlt diese Stimme nicht, irgendwo ist noch ein Murmeln in ihr, ein Wispern, ein Flüstern, irgendwo ist noch ein Trieb am Werk. Doch was müsste sich ändern in ihrem Leben, um dieser nun sehr leise gewordenen Stimme wieder Sprache zu geben?

Sie ist müde und  mutlos, verbraucht durch das Ankämpfen gegen ihre eigenen Widerstände, gegen die ungünstige Zusammengesetztheit ihres Wesens.Ob sie sich selbst zerstört hat? Von Anfang an lag sie ja ständig in einem Widerstreit mit sich selbst.Früh morgens, es war ja ein Morgen mit dem sie beginnen wollte, spürt sie die Unmöglichkeit am stärksten. Sie erinnert sich an Zeiten, in denen sie in irgendeiner Arbeit begriffen war, da konnte das Erwachen mühelos verlaufen, sie geriet schon während der letzten fortflatternden Traumfetzen in die Gedankenketten hinein, die noch vom vergangenen Abend her ausgebreitet dalagen. Sie merkte  das Aufstehen kaum, und die alltäglichen Handhabungen, die mit dem Aufstehen verbunden waren, lagen greifbar vor ihr. Doch jetzt seit vielen Monaten liegt sie morgens wach in einem Zustand von Verlorenheit und Machtlosigkeit. All ihre Fähigkeiten, die sie sich tagsüber noch vorstellen kann, sind erstorben. Während einer langen Zeitspanne, in der sie weder in den Schlaf zurücksinken noch sich ganz dem Wachsein heraufheben kann, denkt sie an den bevorstehenden Tag, fragt sich , was sie tun, was sie bewältigen soll.

Dieser Morgen war ganz still und die Dunkelheit kroch zum Fenster herein.  Mühsam und mit schwerem Kopf und schmerzendem Herzen kletterte sie aus dem Bett und begab sich mühsam ins Bad, um eine warme Dusche zu nehmen. Aber etwas hielt sie noch auf, denn von der Straße drang hysterisches Lachen und Gekreische zu ihr ins Zimmer. Sie blieb stehen, strich den Vorhang etwas zur Seite und sah drei junge Frauen grölend und albernd, die Fahrbahn gebrauchend, ihres Weges ziehen. Sie waren dick und von gewöhnlichem Aussehen, zu stark geschminkt und unvorteilhaft gekleidet. Vielleicht Verkäuferinnen in einem Fisch- oder Gemüsegeschäft.

Missmutig nach diesem Anblick ließ sie den Vorhang wieder fallen, um nun tatsächlich zu duschen und sich von nichts abhalten zu lassen. Das Gekreische von der Straße her war durch das Entfernen der drei Frauen verklungen, und daraufhin trat völlige Stille ein.

Sie fühlte noch den Schlaf in ihren Augen und die geschwollenen Lider, den nächtlichen Geschmack im Mund, strich sich durch das Haar, das zerzaust um ihren Kopf stand und ihr nackter Fuß fühlte die Kälte des Bodens. Ein kurzer Blick in den Spiegel, und in ihr erwachten die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Damals, als es hin und wieder einen Guten Morgen gab, ein gemeinsames Frühstück, ein interessantes Gespräch, einen zärtlichen Händedruck, ein tiefer Blick in die Augen und manch liebevolle Albernheit. Sie dachte an das gemeinsame Duschen mit ihm, und es war, als würde sie jetzt, da sie das warme Wasser über ihren Körper laufen ließ, noch immer jenen Körper spüren, der zu dem Menschen gehört, dem ihre ganze Liebe zuströmte. Er ist fortgegangen, leise, ohne  böses Wort. Er ging einfach fort, und alles was er ihr jemals sagte, hatte keine Gültigkeit mehr.

Sara bleibt still stehen, spürt das Wasser auf ihrer Haut und denkt an ihn, der jetzt vielleicht zur selben Zeit mit jener anderen Frau unter der Dusche steht und ihr die Worte ins Ohr flüstert, die einmal für sie bestimmt waren. 
Ihre Augen wirken traurig, und das Leuchten, das er damals liebte, war längst erloschen. Mit ihm ging auch das Leben aus ihr fort. Ihre Tage sind wie Prozessionen. Eine lange Kette von Tagen und Nächten, die ineinander verschwimmen. 

Diese überstürzte Art des Aufwachens, bei der sie durch eine innere Gewalt in den Tag hineingerissen wird, wirft sie immer wieder in eine dumpfe Betäubung, die den Vormittag über, manchmal den ganzen Tag lang, anhält. Ich muß mich langsam aus den tiefen nächtlichen Schächten hervorfinden, dachte sie und irgendwie lernte sie wieder, lieber allein aufzuwachen, lieber allein im Bett zu liegen als neben einem anderen warmen Körper. Das Gemeinsame erleichtert vielleicht einerseits die Furcht vor den neuen Tagen, nimmt ihr aber auch die Möglichkeit, sich in der noch schwach-vernehmlichen Traumstimme zurechtzufinden.

In ihrem Leben gibt es kein Sich-Abschirmen-Müssen, sie ist abgeschirmt von allem. Niemand zieht Vorhänge zur Seite, wenn sie das Dämmerlicht bevorzugt, niemand klappert mit Geschirr oder betätigt die Klospülung. Eine Art Gesichertheit und Sammlung umgibt sie, und selbst die Unruhe, wie sie in diesem Leben noch existieren soll, ist nicht begründet. Irgendetwas regt sich in ihr, eine Seismografnadel in ihr schlägt aus. Sie ist immerhin allein mit sich und bereit, den Kontakt mit den inneren Regungen, wenn sie sich geltend machen, wieder aufzunehmen.

Sara legte sich nach ihrer Dusche nochmals ins Bett zurück, konnte und wollte aber nicht einschlafen und stand auch bald wieder auf. Auf dem Weg ins Bad blieb ihr Blick bei den Stößen von Papier hängen. Im Bad wurde ihr etwas schwindelig unter der Vorstellung von dem ungeheuren Verbrauch an Dingen und an Zeit, und sie versuchte auszurechnen, wie viele Male sie diesen Weg ins Bad zurücklegte und wie sich jeder Schritt, den wir Menschen tun, abnutzt.

Jede Bewegung greift hinein in einen Rhythmus, der sich jeden Tag wiederholt, in einen Ewigkeitsrhythmus, in dem ein Morgen dem anderen Morgen gleich war. Wieder setzt sie sich an den Schreibtisch und fängt wieder an, über den leeren weißen Papierblüten nach einem Anfang zu suchen. Sie denkt an das Alphabet der Bäume, das sie damals beim gemeinsamen Herbstspaziergang mit Hannes im Wald so deutlich erkannten. Es war, als hörten sie, wie die Bäume miteinander in ihrem goldenen Antlitz sprachen.

Die Zwillingseiche im Wald der Kindheit, die Dattelbäume Kretas, die Zedern Schottlands, ein Anlaut des Atems auf der Zunge der Blätter, mit denen der Wind sich ein Licht notierte. Und manchmal dazwischen ein X für eine Amsel und ein Ypsilon  auf der Scherbe einer sonst  dunklen Erde. Ja, sie hörten den Bäumen zu, wenn es still war im Wald, wenn sich Rehe durch die Fußstapfen der Spaziergeher aufgeschreckt, verborgen hielten . Dann sahen sie nach oben, weil die Sonne die letzten Strahlen durch die hohen Baumkronen zu ihnen sendete und spürten Verzauberung, wofür es keine Vokabel gibt. Manchmal blieben sie stehen und Hannes nahm Saras Gesicht in seine Hände und küsste es. „Ich muß  es tun“ sagte er dann. In solchen Momenten wusste Sara immer, dass Hannes sie liebt und sie setzten sich auf einen abgesägten Baumstamm in der Sonne und waren einfach wunschlos glücklich. Wie gerne hätten sie damals die Zeit angehalten.

Jetzt, so lange Zeit später  kommt es Sara vor, als wäre jedem von uns Menschen genau das zugedacht, ertragen zu müssen, was er am wenigsten erträgt. Immer wenn sie durch eine Lichtung des Waldes gingen und die Zweige leise sich im Winde bewegten, trafen sich ihre Blicke und eine Woge von Zärtlichkeit lag in ihren Blicken. Mit dem Anfang beginnen. Immer wieder am Anfang sein.
Sich darauf verlassen, dass Augen den Augen genügen, dass das Einfachste und Leichteste genügt. Und so der Einsamkeit gehorchen, der Einsamkeit, in die niemand folgt. Und so denkt Sara, dass sie in den schönsten Jahren doch nichts anderes für ihn war als ein Instrument, auf dem er ein paar Töne angeschlagen hat, und es dann ihr überließ, hilflos zu variieren und zu versuchen, ein Stück Klang daraus zu machen, das seine Handschrift trägt.

Als ob es darauf ankäme! Sie fühlt sich als unverstandenes Vorkommnis in seiner Biografie, denn irgendwie hatte er sie zu seiner Landstraße gemacht, auf die er sich immer wieder verirrte, wenn die immer gleichen Wege  eintönig wurden und auch Lichttage Grau trugen.

Sara will heute nichts mehr von ihm, sie schenkte ihm Freiheit, forderte kein Versprechen ein und brauchte auch keine Erklärungen. Sie bog seine Stunden zu ihm selbst hin, denn sie  hat ihr Wunschgebäude längst abgetragen, gab ihre Wünsche von Tag zu Tag auf. Nur manchmal sehnt sie sich zurück und möchte zu ihm gehen ohne ein Wort sagen zu müssen, möchte ihn erreichen, seine Hände halten und ihr Mund möchte den seinen schließen. Seinen Atem möchte sie durch ihren Körper fließen spüren so wie anfangs, wenn er seinen Atem in ihren Mund stieß und ihr  warm wurde von ihm .
Und so ist Sara wieder am Anfang.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Maike Opaska).
Der Beitrag wurde von Maike Opaska auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.02.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Maike Opaska als Lieblingsautorin markieren

Buch von Maike Opaska:

cover

Atempause von Maike Opaska



Ein weit gereister Journalist schließt innerhalb weniger Stunden Freundschaft mit einem liebenswerten Naturkind. Die Nachricht von seiner lebensbedrohenden Krankheit treibt den engagierten Kriegsberichtserstatter in die Abgeschiedenheit, in die Einsamkeit, wo er allein mit seinem Schicksal fertig werden will.
Doch die Schönheit der Natur, die ungewöhnliche Gesellschaft des Zigeunerjungen lassen ihn Freude empfinden. So werden die Schatten des Todes kürzer und sein Blick wird frei für das Leben und die Wunder der Natur, die täglich neu entdeckt werden wollen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Maike Opaska

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die letzte Bergtour von Maike Opaska (Lebensgeschichten & Schicksale)
MANCHMAL GIBT ES NOCH KLEINE WUNDER von Christine Wolny (Sonstige)
My Way von Rainer Tiemann (Leidenschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen