Manfred Bieschke-Behm

Briefe


„Claudia ich habe es mir anders überlegt“, hatte Pascal für Claudia völlig überrascht gesagt. „Ich glaube, es ist doch keine so gute Idee dich mit nach München zu nehmen. Ich habe so viele Termine, dass kaum Zeit bleiben wird, mich um dich zu kümmern. Erfahrungsgemäß bin ich abends viel zu kaputt, als dass ich mit dir noch um die Häuser ziehen könnte. Kannst du das verstehen?“ ‚Nein’, hatte Claudia gedacht nicht gesagt, dafür zustimmend genickt. „Wenn du meinst, dass es keinen Sinn hat bleibe ich in Berlin. Ist nicht so tragisch. Ich werde die Tage auch ohne dich sinnvoll verbringen. Mache dir meinetwegen keine Gedanken.“ Während Claudia das sagte, versuchte sie so gut es ging zu lächeln. In ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Ihr Magen zog sich krampfartig zusammen, die Schulterblätter taten ihr plötzlich weh und ein wenig schwindelig wurde ihr auch.
„Ich freue mich auf gemeinsame Tage mit Pascal in München“, hatte sie noch gestern zu ihrer Freundin Janine gesagt. „Freue dich nicht zu früh“, war die Antwort, mit der Claudia nichts anzufangen wusste. „Wie meinst du dass?“, erkundigte sie sich deshalb. „Ach nur so ein dummer Spruch. Vergiss es.“ Und dann sagte Janine noch: „Leider bin ich die nächsten acht bis zehn Tage auch nicht vor Ort. Ich nutze die Ferien und fahre zu meiner Oma nach Frankfurt/Oder. Der geht es nicht gut ...“
Obwohl Claudia es verhindern wollte, setzte sich ein Gedanke in ihrem Kopf fest, der ihr nicht gut tat. Ihre Freundin hatte vor ein paar Monaten gebeichtet, dass sie Pascal auch nicht von der Bettkante stoßen würde. ‚Was, wenn Pascal und Janine ....’ Damals konnte Claudia über den Spruch lachen. Im Moment nicht. Claudia begab sich in die Küche. Dort goss sie sich ein Glas Wasser ein und trank den Inhalt in einem Zug aus. Sie musste sich ablenken, um nicht zu heulen anzufangen. Pascal, inzwischen auch in der Küche gelandet, ging auf Claudia zu, nahm sie in den Arm, strich ihr eine einzelne blonde Locke aus dem Gesicht und küsste ihre heiße Stirn. „Mein Schatz“, sagte er, „Ich sehe, dass du traurig bist. Aber glaube mir, es ist besser so. Ich verspreche dir jeden Tag zu schreiben. Ich liebe dich mein Herz“
„Versprochen?“, erkundigte sich Claudia und sah in Pascals dunkelbraune, warme Augen. ‚Können solche Augen lügen?’, fragte sich Claudia und beantwortete ihre Frage mit: ‚vielleicht!?’
 
Pascal ist seit fünf Tagen in München. Keine SMS, keine Mail, kein Brief traf bei Claudia ein. Natürlich hätte auch sie versuchen können Pascal zu erreichen. Aber hatte nicht er versprochen, ihr jeden Tag zu schreiben? Stattdessen hatte Ihre Freundin ihr eine SMS geschickt und ihr mitgeteilt, dass es ihr gerade super ginge. ‚Ich unternehme viel und fühle mich gerade wie im siebenten Himmel’, erfuhr Claudia, deren Herz sich beim Lesen verkrampfte.  
‚Ich dachte, deiner Großmutter geht es nicht gut’, schrieb Claudia zurück.
‚Ach der, der geht es schon wieder viel besser’, lautete die Antwort.
‚Dann kannst du ja deine Zelte in Frankfurt/Oder abbrechen und zurückkommen und mir Gesellschaft leisten’, bat Claudia und fügte hinzu, ‚Ich fühle mich ziemlich scheiße.’
‚Das tut mir leid. Ich denke an dich. Deine Freundin Janine.’
Auf die letzte Nachricht ihrer Freundin hatte Claudia nicht mehr geantwortet. Bestimmt verbringen Pascal und Janine ... Claudia verbot es sich den scheußlichen Gedanken in den schlimmsten Farben, auszumalen. Es tat auch so schon weh genug. Um sich irgendwie abzulenken, blickte sie aus dem Küchenfenster auf die Straße. Sie sah den Postboten, der sein Fahrrad um die Ecke schob und hoffte, er würde ihr einen Brief von Pascal bringen. Ihre Augen verfolgen jeden Schritt und Tritt des Briefzustellers. Sie sah, wie er gegenüber vor dem Haus Nr. 6 sein Fahrrad abstellte, in dem Bündel auszutragender Post wühlte und hier und da Post in Postkastenschlitze steckte. Anschließend überquerte er die Straße. Er steuerte direkt auf das Haus mit der Nummer 5 zu, in dem Claudia wohnte. Er blieb vor den Postkästen stehen, entnahm dem Postbündel ein paar Zustellungen und verteilte sie entsprechend. Auf dem Rückweg zum Fahrrad drehte er sich um, sah Claudia die in der ersten Etage hinter der Fensterscheibe stehen. Er lächelte ihr zu, hob beide Schultern und schüttelte seinen Kopf. Claudia wusste die Gesten richtig zu deuten. Für sie war keine Post dabei. Enttäuscht legte sie sich auf die Couch und versuchte zu lesen.
 
Am nächsten Mittag dasselbe Spiel. Wieder sah Claudia voller Erwartung aus dem Küchenfenster und war froh, dass sich der Postbote nicht verspätet hatte. Diesmal steuerte er direkt das Haus Nr. 5 an. Anders als sonst steckte er keine Post in die Briefschlitze, sondern steuerte die Hauseingangstür an. Bei Claudia klingelte es. ‚Nanu’, dachte Claudia und betätigte den Knopf der Klingelanlage.  „Es tut mir außerordentlich leid Frau Wedekind. Ich habe fünf Briefe für sie, die nicht in meinem Verteilerfach lagen und deshalb von mir nicht zugestellt werden konnten. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.“ Claudia sah den Postboten an, sah auf die fünf Briefe, die ihr entgegen gehalten wurde und wusste nicht, was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie den Postboten umarmt, was sie dann aber nicht tat. Sie nahm die Briefe entgegen, bedankte sich und verschloss die Tür. Der Postbote interessierte sie nicht mehr nur die Briefe, die allesamt von Pascal stammten.
 
Am darauf folgenden Tag um die Mittagszeit klingelte es. ‚Wieder der Postbote?’, dachte Claudia und überlegte was sie ihm sagen wird, wenn er vor ihr steht. Gut vorbereitet öffnet sie die Tür und wollte gerade sagen: „Ach Sie schon wieder ...“ als sie Pascal vor der Tür stehen sah, der ihr einem Brief entgegenstreckte.
„Du?“, fragte sie erschrocken.
„Hast Du jemand anderen erwartet?“, erkundigte sich Pascal etwas verdattert dreinblickend.
„Nein. Ja.“
„Na was denn nun?“
„Komm rein“, sagte Claudia und zog ihren Freund über die Türschwelle in den Korridor umarmte ihn und war überglücklich.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, fragte sie: „Du hast einen Brief in der Hand, ist der für mich?“
„Fünf Briefe hatte ich Dir geschrieben, den Sechsten wollte ich persönlich vorbeibringen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen mein Herz?“
Claudia schloss ihre Augen und war selig. Später erzählte sie ihrem Freund die Geschichte von der vermissten Post, die verspätet bei ihr gelandet war und wie sie die Zeit über gelitten hatte. Sie erzählte ihm nichts von ihren bitterbösen Gedanken die sie Tag und Nacht verfolgt hatten auch nicht, das Janines Oma krank war und es ihr schon wieder besser ging. Das hätte Pascal sowieso nicht interessiert. Sein Interesse galt einzig Claudia die sich für ihre Unterstellung schämte.
 

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