Hartmut Wagner

Der Sonnenuntergang weint

Sommer 2012: Der Abend kam. Ohne Eile schlenderte die Dämmerung über

die weiten weißen Strände der Nordsee. Der atlantische Ozean dachte.

"Abschied nehmen heißt ein Bisschen sterben" und schickte melancholisch

eintönige Wellen an den Saum seines Randmeeres. Sie rauschten einen

schläfrigen Rhythmus auf die weichen Sandflächen, ein Abendlied, das die

aufgeregtesten Geister beruhigte, weil es sie an das langsame Schaukeln in

der Geborgenheit ihrer Kinderwiegen erinnerte.

lm rötlichen Sonnenlicht verwitterte auf dem sanften Abhang einer Hörnumer

Wanderdüne gemächlich ein Schild, das rostige Nägel an eine schiefe Stange

aus Holz zwangen. Beinahe abgeblätterte Buchstaben ließen nur noch aus

nächster Nähe einen Knittelvers erkennen: "Willst Du keine nackten

Menschen sehen, darfst Du ab hier nicht weiter gehen!" Neben dem Schild

hockte der hoffnungsvolle Jungdichter Balduin Raoul D. Federhalter, sah auf

das Meer hinaus und, sinnierte.

Immerhin hatte er gestern sein erstes Gedicht veröffentlicht. Es prangte auf

der Titelseite des Wochenblättchens "lnformation-Desk 4, Hörnumer und ihre

Gäste". Die Werbebroschüre gab der Chairman des örtlichen

Einzelhandelsverbandes im Verein mit dem Kurdirektor und dem

Tourismusbeauftragten heraus. Die Oberhörnumer hatten über dem Gedicht

das Foto eines mächtigen Warenkorbes mit einem Werbespruch in

übergroßen Lettern platziert. Er lautete: "Hörnumer Essen wirst Du nie

vergessen!". Balduins Verse trugen die Überschrift: "Mondnektar" und

handelten weniger von leiblichen als seelischen Genüssen.

Der Dichter wäre fast ins Meer geschwommen, um sich selbst zu ermorden,

als er an die hundert Euro dachte, die er für sein Meisterwerk verlangt, aber

nicht bekommen hatte und an das Foto des Warenkorbs samt Spruch. Doch

Halt! Wer außer ihm könnte schon einer interessierten Leserschaft "einen

regenpitschigen Mond, über den venıvaschenen Nebelschweif zerfranster

Baumwipfel rollend," präsentieren? Tja, "regenpitschig" und nicht "-patschig",

darauf zu kommen nach Stunden härtester Wortfeilerei! Außerdem, ein

"Mond, über den venıvaschenen Nebelschweif zerfranster Baumwipfel

rollend", das hatte "etwas", und zwar was "sehr etwas" von dem "poetischen

Duftmantel, den schwindende Sonnenstrahlen zärtlich über der tagmüden

blauen Hügellandschaft ausbreiten", ebenfalls im "Mondnektar" enthalten.

Aber Federhalter wäre nicht er gewesen, wenn nach der euphorischen

regenpitschigen Mondphase in blauer Hügellandschaft lebendiger

Schriftstellergeist keine neuen Selbstzweifel in seinen Kopf transportiert hätte.

War da nicht irgendwas mit "regenpitschig" gewesen, in grauer, grauer

Vorzeit? Hatte er nicht vor ein paar Jahren als Student der Germanistik im

ersten Semester an der Ruhr-Uni Bochum einen etwas älteren Studenten des

gleichen Fachs maßlos bewundert? Einen Jungmann, den ein künstlerisches

Flair umgab, eine schöpferische, ungezwungene Aura, so lässig und

weltmännisch, ah! Balduin selbst, damals ein naives, etwas trampeliges

Landei aus den tiefsten Wäldern des Drolshagener Sauerlandes, hätte

überglücklich Psalmen gedichtet, wäre nur ein Zehntel der äußeren

Persönlichkeit, etwa der Schnurrbart des Beneideten, auf ihn übergegangen.

Der Angebetete hüllte seine groß gewachsene, schlanke Figur meist in einen

einfach geschnittenen, aber sichtbar teuren, blauen Kamelhaarmantel. Sehr

dunkles Dickhaar enıveckte einen exotischen Eindruck, den der tiefschwarze,

scharf konturiert geschnittene Oberlippenbart, eine schmale Nase, sehr

braune Augen und olivenfarbene Haut verstärkten. Die Füße steckten in

blank polierten schwarzen Schuhen, die Beine in zwei hell grauen

Hosenröhren mit schnurgeraden Bügelfalten. Ein langer Fransenschal in der

Hosenfarbe ergänzte dekorativ um den Hals geschlungen das ungewöhnlich

elegante Bild. Ein Aktenkoffer in der linken und ein großer Regenschirm mit

Krücke in der rechten Hand rundeten es perfekt ab. lm Vergleich zum

demonstrativen Gammellook der meisten Studenten wirkte das Vorbild

Balduins von außen wie ein weltgewandter südamerikanischer

Großschriftsteller vom Kaliber des Peruaners Vargas Llossa, des Kubaners

Alejo Carpentier oder des Kolumbianers Garcia Márquez. Aber der junge

Federhalter ernannte ihn einfach wegen der exotischeren Wortfarbe zum

Costaricaner.

Der saß in der Cafeteria mit Professoren an einem Tisch, zu denen Balduin

schüchtern aufsah, und sprach ohne Hemmungen mit ihnen, allerdings nicht

auf Spanisch, sondern in einem gepflegten Deutsch, dem allerdings

keineswegs komplizierte Fremdwörter fehlten. Einige der gelehrten

Germanistik-Asse duzten ihn sogar und er sie. Junge, Junge!

Und genau in diesem Moment, in dem ein Abendrot am ganzen weiten

Himmel über dem Meer an der Südspitze Sylts auf eine Art herum

spektakelte, die Federhalter niemals vorher in seinem Leben vorgekommen

war, genau in diesem Moment "regenpitschte" es in ihm. Balduin hatte,

während er am "Mondnektar" werkelte, den deutschen Costaricaner Raoul D.

Meier, den Lieferanten des eigenen Künstlernamens und sein Gedicht: "Die

libellenhafte Hysterie des Studenten im Examen" total verdrängt.

Vollkommen unmöglich! Es erschien einst in der "BSZ", der "Bochumer

Studentenzeitung", bestand aus einem "regenpitschigen Mond",

"insektenbeinigen Wolken", "lebensüberdrüssigen Sprühschleiern" und vielen

anderen poetischen Wortgespinsten.

Den Jungdichter an der Grenze zum Höfnumer FKK-Strand hatte es einst

ungeheuer fasziniert. Es blieb ihm einfach keine andere Wahl, als künftig

selbst derartige Wortkaskaden auszusprudeln. Er, Balduin Raoul D.

Federhalter, hatte also seinem einst so sehr bewunderten Mitstudenten nicht

nur den besten Teil seines Namens, sondern auch ein hochpoetisches

Gedichtelement gestohlen. Was war er doch für ein Schwein! Gerade als

Balduin beabsichtigte, sich einer völlig unproduktiven Orgie der

Selbstbeschimpfung hinzugeben, entflammte am Himmel ein tiefrotes

Höllenfeuer, zerglühte dort ein unglaubliches Weiß, dessen Lichtspeere

schmerzhaft die Augäpfel des Jungpoeten durchbohrten. lm gleichen

Augenblick vernahm er ein tieftrauriges, kaum wahrnehmbares Schluchzen.

"Was soll das? Hier ist doch niemand!" Er wandte den vollbärtigen

Künstlerkopf, den eine wilde Lockenmähne romantisch beschopfte und eine

spartanischen Nickelbrille intellektuell veredelte, nach rechts, links, vorne,

hinten, oben und unten. Niemand zu sehen. Nur die himmlischen

Farbexplosionen folgten immer rascher aufeinander. "Ach, siehst du mich

denn nicht! Schau doch! Öffne die Augen! Ich leide, leide und leide! Unter

Leuten wie dir! Reportern, Journalisten, Dichtern, Schriftstellern, Poeten,

Wortakrobaten! Die mich nicht sehen, nicht würdigen und nicht verstehen."

Balduin wollte gerade aufbrausen, weil ihn jemand in einen Topf mit

Reportern und Journalisten geworfen hatte, diesen Müllmännern der

Sprache, da zersägte eine Zackenlinie aus gelblichem Lila mit scharfen

Zähnen brutal den Himmel. Federhalter verschlug es die Sprache. "Ja, ja, ja!

Jetzt siehst du mich endlich! Mich, den Sonnenuntergang! Und wie bemühte

ich mich und bemühe ich mich jeden Abend! Seit Milliarden Jahren! Alles

vergebens! Ihr seht mich nicht! Du und deinesgleichen! Dichter! Fast zum

Lachen! Aber nicht für mich! Siehst und fühlst du das denn wenigstens? Du,

eine meiner letzten Hoffnungen! Aber, ach was soll's!?"

Ein tiefer Seufzer schwamm durch die Gehörgänge Raoul Ds. Vor ihm

schwebte eine riesige Bowlingkugel aus Gold mit drei Grifflöchern aus Violett

über eine Glitzerbrücke an die Linie des Horizonts, der im Zwielicht

verschwamm. "Ach", wimmerte eine zittrige Stimme, "meine Zeit ist fast um.

Und, es ist nicht zu fassen! Deine Kollegen beschreiben mich immer gleich.

Ob am indischen Ozean oder Mittelmeer, über dem Pazifik oder dem

Hengsteysee, in der Karibik oder im Sauerland am Ufer der Möhnetalsperre!

Überall der gleiche Analphabetenmist!" Ein heftiger Schluchzer zerriss das

sonnenuntergängliche Klagelied:

" 'Die Sonne tauchte die glitzernden Wellen in glutrotes Licht, bevor sie hinter

dem endlosen Horizont verschwand.' Fertig, aus, Ende! Hach! Warum

verreisen eigentlich Menschen, die ein derartiges, unveränderliches Sonne-

Abend-Meer-ldyll in ihrem Kopf herum tragen, in alle möglichen Winkel der

Welt? Dichter noch dazu! So einfalislos bin ich doch gar nicht! An allen

vorstellbaren Ozeanen, Meeren, Seen, Strömen, Flüssen, Bächen und

Teichen, immer derselbe Sonnenuntergang! Nein und Nein und Nein! Der

Himmel hat tausend Farben und ich Millionen! Dieser schablonenhafte

Sonnenuntergang aus der Dose! Das bin ich nicht! Und einen 'Dichter', der

mich so beschreibt, den mögen zahllose schöne Frauen heiß und innig

geküsst haben, aber mit Sicherheit keine einzige, die einer Muse auch nur so

entfernt gleicht wie der Glöckner von Notre Dame dem David Michelangelos.

Balduin Raoul D. Federhalter, enttäusche wenigstens du mich nicht!

Beschreib mich, wie ich....!" Die Stimme erstarb und die Finsternis zog eine

schwarze Decke über die letzten Lichttümpel.

Balduin war erschüttert, hielt sich aber dennoch für hoch geehrt. Der

Sonnenuntergang höchstpersönlich hatte Raoul D. sein Leid geklagt und

nicht nur das: Er, Federhalter, war wahrhaftig beauftragt worden, das

allabendliche Himmelsspektakel in seiner Farbenpracht und Vielfalt mit

Worten zu malen. Unverzüglich zog Balduin Kugelschreiber, Schmierheft und

eine Taschenlampe aus dem Rucksack. "lch beginne das Werk. Ich wortmale

den Sonnenuntergang. So wie er war, ist und bleibt, jedenfalls an der

Nordsee. Aber irgendwas stimmt doch da nicht? Nein, es gibt nur immer je

einen Sonnenuntergang, an einer einzigen Stelle, in einem einzigen

Augenpaar, einen winzigen Zeitkrümel, und den, den, ja den, den werde ich

Balduin Raoul D. Federhalter, und nur ich, heute Abend im Hier und Jetzt, auf

der Hörnumer Wander- und Badedüne schildern."

Er fing an und erträumte einen Abend am Meer, für den Sonnenuntergang

persönlich und für sich selbst, den Dichter:

"Leichenblass gleitet der Sonnenball in sein ewiges Nachtgefängnis. Licht

kriecht matt in teerschwarze Taschen grundloser Finsternis, rot erhitzt, müde

der täglichen Arbeit. Weiß schäumt Gischt, wirbelt ein letztes Mal, zerzuckt zu

neidgelbem Feuerstrudel. Brandung brüllt. Strand und Meer entflammen heiß,

verglimmen zu Asche, farblos, traurig und düster. Purpur tropft gelassen vom

Himmel. Füllt wilde Wellen mit Glut. Grelle Scheibe noch einmal, bevor

dunkle Nachtdecke fällt, ganz allmählich, sehr langsam, leise und sacht.

Wolkenturm, riesiges Abendschiff, umsegelt ziellos einsame Sternensplitter,

zärtlich umhüllt vom blaukühlen Tuch der Frau Nacht, regelmäßiger Tagtod.

Stille, Ruhe, Sehnsucht, Ende, Vergessen flüstert lautlos die Tiefe.

Möwenschrei versandet im Dünengrau. Wind peitscht ruhelos kargen

Strandhafer. Stunden sinken in Träume. Zeit verliert sich im Nichts."

Balduin blickte zufrieden auf seine Zeilen. Dann verließ er den Strand. Am

andern Morgen in der Pension "Pidder Lüng" wälzte er sich, so weit das ging,

genüsslich im kärglich schmalen Bett seiner teuren Ein-Mann-Zelle. Während

der Wälzerei dachte er: "Wem mein Sonnenuntergang nicht gefällt, dem kann

ich nicht helfen. Beim literarischen Wettbewerb: 'Der stimmungsvolle

Sonnenuntergang' fällt mir nur ein denkbarer Sieger ein und auch nur ein

erster Preis: Eine Mitsommernachtsreise zum Nordkap. Dahin, wo zu dieser

Zeit die Sonne gar nicht untergeht.

Warum? Der Preisträger hat bewiesen, wie poetisch er einen

Sonnenuntergang zu beschreiben weiß. Jetzt wartet auf ihn die weitaus

schwierigere Aufgabe, nämlich zu beschreiben, wie die Sonne weder auf-

noch untergeht."

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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