Manfred Bieschke-Behm

Der Voyeur

 

Dafür, dass ich heute diesen Weg gehe, gibt es keine Erklärung. Soweit ich mich erinnern kann, benutzte ich stets den Hauptweg, der mich geradewegs zu der sprudelnden Fontäne bringt. Rechts und links des Weges stehen Schatten spendende Bäume durch die Sonnenstrahlen milde hindurchdringen und mich im Gesicht eine angenehme Wärme spüren lassen. Heute nun weiche ich der Gewohnheit ab und wähle den zweiten rechts sich öffnenden Seitenweg, dessen Verlauf mir unbekannt ist. Ich spüre eine gewisse Aufgeregtheit und gleichzeitig den Reiz, Neues zu entdecken. Ich laufe circa eine halbe Stunde und entdecke im gebotenem Abstand links von mir einen nackten linker Frauenfuß, der zwischen einzelnen Grasnarben und niedrig wachsendem Buschwerk den Boden berührt. Über dem Fuß staut sich in Falten gelegter blauer Stoff. Meine Neugierde wächst. Mein Herzschlag verdoppelt sich. Ich möchte mehr sehen. Irgendetwas verbietet es mir, näher zu treten. Ich schaue um mich und entdecke einen in die Breite gewachsenen Busch, hinter dem es sich gut verstecken lässt. Meine Position ist günstig. Durch das Buschwerk hindurch habe ich einen fast uneingeschränkten Blick auf die schöne Unbekannte, die lesend vermutlich auf einem Baumstumpf oder großen Stein sitzt. Die Dame in Blau hat ihre Beine weit auseinander gespreizt. Der rechte Fuß ist von dem schlichten großzügig gearbeiteten Kleid abgedeckt. Das Oberteil des Kleides lässt einen freien Blick auf ein flaches, blasses Dekolleté zu, das in mir Begierden freisetzt. Den Busen der schönen Unbekannten überdeckt mehr oder weniger weißer transparenter Stoff, der mehr frei gibt, als verhüllt. Es fällt mir schwer meine Augen aufzufordern den Blick abzuwenden, um weitere Details zu entdecken. Mit der linken Hand hält sie ein aufgeschlagenes Buch fest, das sie auf ihrem linken Knie abgelegt hat. Der rechte Arm ruht nach oben angewinkelt auf dem rechten Knie. Die Hand, dessen Finger nicht ausgestreckt sind, stützt ihren Kopf. Erst jetzt entdecke ich ihr leicht gerötetes Gesicht. Ihre für mich fast geschlossenen wirkenden Augen geben dem Gesicht etwas unschuldiges, anmutendes, jungfräuliches Aussehen. Die langen braunen Haare, die in der Mitte streng gescheitelt sind und gelockt auf ihre rechte Schulter fallen, werden durch einen doppelten Blätterkranz geadelt. Es scheinen Efeuranken zu sein, deren Blätter je nach Lichteinfall gelegentlich bläulich aussehen und sich damit er Farbe des Kleides anpassen. Meine Begeisterung für die Unbekannte wächst mit jeder neuen Entdeckung, die ich mache.

Ein unvorsichtiges Auftreten meinerseits verursacht ein leichtes Knackgeräusch. Ich bin auf einen kleinen, auf dem Boden liegenden Ast getreten und habe ihn dabei in zwei Teile geteilt. Ich verharre wie eingefroren in meiner Position. Ich möchte nicht, dass mich die Schöne entdeckt, obwohl ich es nicht verhindern könnte, wenn es passieren würde. Und tatsächlich. Die Lesende erschrickt. Sie blickt auf. Sie schaut in meine Richtung. Sie schaut nach rechts und anschließend nach links. Danach schaut sie wieder in meine Richtung. Unsere Augen begegnen sich, ohne, dass sie es mitbekommt. Die blauen Augen und die einladend kirschrot gefärbten Lippen ihres Mundes treiben mir Schweißperlen auf die Stirn. Mein Drang, mich mit der Schönen bekannt zu machen steigt ins Unermessliche. ‚Soll ich es wagen’, überlege ich. Meine Unerfahrenheit mit dem weiblichen Geschlecht macht mir die Entscheidung leicht. Ich verharre da, wo ich bin und erlaube mir, die Dame in Blau weiterhin nur zu beobachten. Die von mir Angebetete nimmt ihre Ausgangsposition wieder ein. Beim Umblättern einer Buchseite spreizt sie ihre Beine noch weiter auseinander. Danach hebt und senkt sich ihr Busen unübersehbar. ‚Das muss an der Lektüre liegen’, denke ich und ertappe mich, wie sich Eifersucht in mir breitmacht. Anstelle des Buches sollte mein Haupt, dass ich auf ihrem Knie ablegt habe, zärtlich von ihr berührt werden. Mir ihren feingliedrigen Fingern sollte sie die Konturen meines Gesichts nachspüren. Bei dem Gedanken läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken. Sich steigernde erotische Fantasien lassen mir meine Kleidung zu eng werden. Ich muss mich, will ich nicht die Beherrschung verlieren, aus der verfänglichen Situation befreien. Aber will ich das überhaupt? Allzu gerne wüsste ich den Titel ihres Buches. Gleich Morgen würde ich mir ein Exemplar kaufen und dann hoffentlich eintauchen können in die Welt des für mich Unbekannten, erwünschten, noch nie erlebten. Obwohl, ich die Frau meiner Begierde mindestens noch eine halbe Stunde beobachte, ergibt es sich nicht den Titel des Buches zu erfahren. Enttäuscht von dieser Tatsache und meiner Feigheit verlasse ich unauffällig mein Versteck. Ich gehe, ohne mich umzuschauen, unbefriedigt zurück zum Hauptweg, laufe in die Richtung, von der ich gekommen war, zurück in meine Wirklichkeit.

 

Anmerkung. Vorlage für die Kurzgeschichte „Der Voyeur“ ist das Gemälde „LESENDE MIT BLUMENKRANZ ODER VERGILS MUSE“ von Jean Baptiste Camille Corot (1796-1875)

 

Sexu

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Unternehmen Wampenschmelze: Hartmann macht Diät (Das Leben ist Hartmann) von Rudolf Kowalleck



Eine bissige Satire auf den Schönheits- und Schlankheitswahn in unserer Zeit.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Leidenschaft" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Raum 711 von Manfred Bieschke-Behm (Freundschaft)
Schwarzwälder Kirschtorte von Norbert Wittke (Leidenschaft)
Armalite von Gary Shaw (English Stories)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen