Maike Opaska

Die letzte Bergtour

Ein alter Mann stapft durch Schnee. Der Himmel ist tiefblau, der Schnee wie Pulver. Und kalt ist es geworden. Der Schnee knirscht bei jedem Schritt als würde er sich   beklagen, dass er zertreten wird. In der Sonne glitzern Myriaden von Eiskristallen. Wunderschöne Gebilde, die bei jedem Schritt des alten Mannes zu klingen begannen. So, als würde man zu feierlicher Stunde edle Gläser aneinander stoßen oder, als würde ein feinstimmiger Engelschor den Weg des alten Mannes begleiten. Aber das tun die Engel gewiss nicht, der alte Mann glaubt nicht an sie.
Bedrohlich, fast schwarz im eigenen Schatten, ragen die Wände des Gebirges in den Himmel. Unterbrochen von Rinnen, die die Wand in Pfeiler und Rippen teilen aus denen immer wieder Schutt rinnt. Schutt, den das Wetter aus der Wand herauslöst und verändert, schwächt. Ist die Wand zu schwach geworden, löst sich ein Stück des Berges. Mit unglaublichem Getöse stürzt es dann ins Tal hinunter. Mit viel Zeit wächst Wald darauf. Graue, schlanke Säulen von Rotbuchen, gekrönt mit zartgrünem Laub, das sich im Herbst feurig rot und gelb verfärbt, zu Boden schwebt und die Gestalten zudeckt und in Humus versinken lässt. Darauf blühen Teppiche der schneeweißen Rosen von Helleborus niger, sobald der Schnee in der Frühlingssonne zu schmelzen beginnt. Einen unglaublichen Kontrast zu den düsteren Nordwänden bilden die in der Sonne gleißenden Südhänge auf der anderen Seit des Grabens. Der alte Mann geht jetzt im Schatten der Nordwände. Sehr mühsam kämpft er sich im Schnee auf dem steilen, verschneiten Schutthang, dessen größere Gesteinstrümmer da und dort aus dem Schnee herausragen, zu den Wänden empor.
Der alte Mann schwitzt trotz Kälte, er dampft wie ein Pferd, das von einem herzlosen Kutscher geschunden wird, doch er fühlt sich nicht wie ein geschundenes Pferd. Er muss dort hinauf, er will es! Hinauf in die dunkle Wand. Er will keinesfalls den Strahlentod sterben, will nicht erleiden, was diesem vorangeht. Wuchernde Geschwülste überall im Körper. Metastasen, die wie Pilze im Wald wachsen und schnell groß werden, wenn das Kleinklima feucht und warm ist. Wachsende Krebsgeschwulste, die sehr wehtun.
Dort oben ist sein Ziel. Er kennt den Weg genau. Er weiß, dass die Kletterei in der verschneiten und vereisten Wand schwierig wird. Er hat vorgesorgt und sich gut ausgerüstet. Er will auch nicht in den Tod stürzen wie sein Freund vor vielen Jahren. Er will so sterben wie er das schon lange im Sinne hat.
Die Sonne steht tief, obwohl es noch nicht spät ist. Alt wie der Mann ist auch das Jahr wieder geworden.
Er rastet jetzt am Fuße der Wand. Dort, wo die Kletterei beginnt. Es ist unheimlich still. Nichts regt sich. Weit und breit findet sich kein Lebewesen. Die Einsamkeit ist bedrohend, fast laut.
Der alte Mann fröstelt und steigt in die Wand ein. Rasch geht es empor bis zur ersten Schlüsselstelle. Dort ragt ein Pfeiler hoch empor. Wie ein Arm, der sich, seine Muskeln bis zur Zerreißgrenze gespannt, dem Himmel entgegenstreckt. Die Muskeln hat das Regenwasser geformt. An den Muskeln kann man sich festhalten.
Der alte Mann kann den Pfeiler ohne Schwierigkeiten überwinden. Dann kommt ein Quergang über einem fast senkrechten Wandabschnitt. Tief unten das verschneite Kar. Die spärlichen Tritte sind vereist. Mit dem Eishammer hackt der alte Mann sie eisfrei. Am Eishammerstiel die Initiale des Namens seines zu Tode gestürzten Kletterekameeraden und Jugendfreundes. Mit den Strahlen der Sonne eingebrannt. Trotzdem rutscht er. Um ein Haar läge er da unten. Zerschmettert. Sein Herz rast. Er keucht.
Noch weiter unten, dort drüben ist die Alm mit ihren tief verschneiten, geduckten Hütten, von der tiefen Sonne rötlich beschienen. Ein Bild des Friedens.
Der alte Mann beruhigt sich und klettert weiter. Jetzt ist es einfacher. Zwischen Latschen geht es hinauf auf einen Grat. Auch dieser ist leicht zu überwinden, wenn man sich nicht fürchtet. Dann durch eine Schlucht, in der der Schnee sehr tief liegt. Der Wind hat ihn hier versammelt. Wieder eine Wand und von dort oben quert man nicht mehr weit zu jenem Platz, den sich der alte Mann zum Ziel erkoren hat.
Als er dort ankommt, ist die Sonne schon  untergegangen und es ist noch kälter geworden. Es ist eine mäßig steile Stelle in der Wand, auf der sich Humus und jetzt über dem Humus Schnee angesammelt hat. Oberhalb ragt die Wand in das von der untergehenden Sonne noch rötlich getönte Firmament und unterhalb stürzt sie fast senkrecht einige hundert Meter tief in die Dunkelheit ab.
Ein Adlerhorst. Die Stelle selbst ist in der Dämmerung ein trauriges, graues Etwas. Heller noch als das schwarze Grau der Wand.
Der alte Mann setzt sich mitten hinein. Er dampft immer noch. Die Kälte ist arg. Er sieht nichts  Trauriges und er sieht nichts Graues. Er sieht, so wie er es im Sommer oft und oft gesehen und genossen hat: eine Matte von einem frischen Grün, wie es nur Gras dort oben hervorbringen kann. Und überall in diesem feinen saftigen Gras die Farbenpracht der Blumen. Besonders lockend dort oben, weil die Vegetationszeit kurz ist. Da sind die tiefblauen Glocken des stängellosen Enzians in Gruppen, dicht gedrängt, aus denen die Griffel mit ihren hellgelben Staubblättern ein lockendes Signal herauslugen. Lockendes Signal für die bunten Schmetterlinge, für Bienen, für alle Insekten, die dem Nektar nicht widerstehen können. Als Kontrast zu den blauen Glocken leuchtend gelbe Trollblumen mit ihren kugeligen Blüten über den hahnenfußförmig gegliederten hellgrünen Blättern. Und in den Mulden, wo der Schnee noch länger verweilt, die zarten Soldanellen mit den gefransten nickenden lila Glöckchen, deren Läuten man zu hören meint, wenn eine Brise darüber streicht. Auf den felsig hervorragenden Stellen Polster von Zwergprimeln. Ihr Lila etwas dunkler als das der Soldanellen. Und eben die nektarsüchtigen Schmetterlinge, von den Blumensignalen angelockt, torkelnd von Blüte zu Blüte. Der gelbe Zitronenfalter. Das Tagpfauenauge mit seinen roten Vorderflügln und vier Kreisen blau leuchtend gefüllt, weiß gerahmt und augenähnlich. Auf jedem Flügel einer. Und der kleine Fuchs mit den gelb und schwarz gemusterten roten Flügeln, deren Rand kleine, blau leuchtende Halbmonde bilden, die schwarz gesäumt sind. Kleine Schwärme von Bläulingen, deren Flügel mit den Farben des Firmamentes wetteifern. Das Summen der Bienen und der anderen Insekten. Das Jubilieren der Vögel. Musik der Natur. Die laue mit Blumen- und Kräuterduft gewürzte Luft und die strahlende, uns das Leben gebende Sonne im hohen Blau des Firmamentes. Ein Kleinod noch, gut bewahrt in der stürzenden Wand.
Der alte Mann freut sich. Er lächelt. Er ist müde, aber nicht erschöpft. Er ist zufrieden mit seiner körperlichen Verfassung, Er hat sein Ziel erreicht. Er dampft nicht mehr. Er legt sich jetzt in den Schnee und träumt sich auf der grünen Matte. Zusammengekrümmt, das Gesicht dorthin grwandt, wo morgen die Sonne wieder aufgeht.
Blau sickert die Kälte durch ihn, wie Tinte durch Löschpapier. Es ist finster geworden. Er vermeint Glocken zu hören. Die Pummerine der Enziane und die Singglöckchen der Soldanellen. Er läßt Bild um Bild vorüberziehen und die große Sehnsucht erfüllt sich. Eine unvergleichliche Ruhe überkommt ihn. Sein Körper entspannt sich. Eine Ruhe und Entspannung, wie er sie sein Leben lang herbeisehnte und wie er sie noch nie erfahren hatte.
Federleicht fühlt er sich. Federleicht wird er empor getragen in unendliche Sphären. Kein Paradies, kein Himmel kann schöner sein als das.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.03.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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