Kat Mirabile

Das Mädchen Mik

Wenn Mik in den Spiegel schaute, sah sie nicht, was sie sehen wollte. Logisch, sie war ein 16-jähriges Mädchen, und laut den knallbunten, grellen Zeitschriften, die ihre Freundinnen immer lasen, war  kein pubertierendes Mädchen mit ihrem Körper zufrieden. Dabei präsentierten die Anderen ihren Busen immer in Push-Up-BHs und Ausschnitten bis zum Bauchnabel. Nicht, dass es Mik stören würde, im Gegenteil, sie bewunderte ihre Mitschüler für ihr Selbstbewusstsein.

Vor allem Nadja. Nadja, die erst seit Herbst in Miks Klasse ging. Mik war nicht schüchtern, aber wie sie letzte Woche mit ihr bei einem Geschichte-Referat zusammenarbeiten durfte, hatte sie kein vernünftiges Wort herausbekommen. Nadja dachte mit Sicherheit, dass Mik ein dummes, langweiliges Mädchen war und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.

„Michelle, es ist schon nach Sieben, wenn du dich noch länger im Bad einsperrst, kommst du zu spät!“ Verdammt, Miks Mutter hatte Recht. Sie riss ihren Blick von den halb gefüllten Wasserbomben, die von ihrem Brustkorb hingen, los und sprang auf ihr Fahrrad.

Als sie das Klassenzimmer verschwitzt und außer Atem Sekunden vor dem Läuten betrat, fiel ihr Blick sofort auf Nadja. Heute hatte sie ihre kurzen, dunklen Haare zu einer dramatischen Elvis-Frisur gegelt und trug ein dunkelblaues Hemd mit kleinem Brusttäschchen.
Was für ein Unterschied zu ihren üblichen engen Pullis und rotem Lippenstift! Heute trug sie gar kein Make-up, worüber Mik froh war, denn normalerweise war sie das einzige ungeschminkte Mädchen.

Doch die größte Überraschung war, dass Nadja nicht wie sonst auf Ihrem Fensterplatz neben Salim saß, mit dem sie sich seit Beginn des Schuljahrs blendend verstanden hatte, wie Mik bitter bemerkte, sondern auf dem ansonsten leeren Sessel neben Miks.

„Hey …“ Mik wusste nicht so richtig, was sie sagen sollte.

„Ich hoff‘ es stört dich nicht, wenn ich mich zu dir setze, aber die Fenster in dieser Ruine sind so undicht, und jetzt wo’s so kalt draußen ist, will ich nicht ständig im Luftzug sitzen“ Nadja grinste schief und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

„Nein, ähm, klar, kein Problem“
„Super, wir haben uns letzte Woche schon so gut verstanden, in Geschichte, ich bin echt froh, dass wir das zusammen gemacht haben. Einmal hab ich nicht alles alleine machen müssen.“

Mik war sprachlos. Hatte sie nicht erst daheim davon geträumt, wieder mit Nadja zu reden? Wieso wusste sie jetzt überhaupt nicht, was sie sagen sollte?

Bevor die Stille zwischen den beiden unangenehm wurde, betrat der Lehrer die Klasse.

Vom Unterricht bekam Mik beinahe nichts mit. Nadja war eine ehrgeizige Schülerin und hielt nicht viel davon, die Stunden durch Tratschen zu stören.

Wenn es leise war, konnte Mik das schwere Atmen des anderen Mädchens hören. Merkwürdig, irgendwie wirkte es angestrengter als normal.
Endlich läutete die Glocke und als der Lehrer die Klasse verlassen hatte, bemerkte Mik, dass sie die Hausaufgaben nicht notiert hatte.

„Nadja, ich -“

„Nate, bitte“

„Was, ähm, klar, Nate, ich hab vergessen, die HÜ aufzuschreiben, was war das noch gleich?“

„Beispiele 32a bis 37d auf Seite 23, nur a und d.“

„Danke, Nad- Nate“

„Gern. Ich fühl mich an manchen Tagen eben mehr ‚Nate‘ als ‚Nadja‘. Dir ist ‚Mik‘ ja auch lieber als Michelle, oder?“

„Okay, cool, ja, woher weißt du das?“ Sie hatte sich ihr nie als „Mik“ vorgestellt, nur ihre engsten Freunde wussten, wie unangenehm sie ihren Geburtsnamen empfand.

„Ich hab gut geraten.“

„Also warst du letzte Woche ‚Nadja‘ und heute ‚Nate‘?“

Wieder dieses schiefe Grinsen. Miks Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie auf Nates Lippen starrte.

„Genau, Sherlock. Und du bist immer ‚Mik‘.“

„Naja für meine Eltern bin ich Michelle.“ Sie verzog das Gesicht. „‚Mik‘ ist kein Name für ihre Tochter“

„Für mich kannst du immer ‚Mik‘ sein“ Nates Augen waren groß und dunkelbraun, fast schwarz. So dunkel, dass Mik die weiten Pupillen fast nicht erkennen konnte. „Außer dir gefällt der Name nicht mehr“

„Wieso sollte er mir auf einmal nicht mehr gefallen? Solange du mich nicht Michelle nennst, ist alles gut.“

„Hmm, also mir gefällt ‚Nate‘ ja auch nur manchmal, und ‚Nadja‘ an anderen Tagen“

„Okay“ Etwas merkwürdig fand sie das schon, aber sie war zu tiefst beeindruckt von Nates Selbstbewusstsein. Sie versuchte, scherzhaft zu klingen: „Also, hah, willst du an manchen Tagen ein Kerl sein und an anderen nicht?“

Nate hob eine Augenbraue. Sie sah nicht gerade amüsiert aus. „Will ich das? Willst du etwa ein Kerl sein?“

„Ich? Was? Nein wie kommst du drauf?“

„Schätzchen, ich weiß nicht, ob du’s bemerkt hast, aber immer, wenn dich jemand mit weiblichen Pronomen bezeichnet machst du ein Gesicht, als hätte jemand deine Katze beleidigt, wenn die Lehrer eine Frage an Mädchen haben meldest du dich nie und wenn du dich vor Sport umziehst, betrachtest du deine Brüste, als wärst du davon angewidert.“

Mik war perplex. Sie hatte sich noch nie so wirklich Gedanken darüber gemacht, sie hatte immer geglaubt, dass die gelegentliche Dysphorie normal war.

„Aber … Ich weiß dass ich kein Kerl bin und es ist ja nicht so, dass ich andere Optionen hätte“, überlegte sie. Der Mik. Er. Das klang noch falscher als Sie, die Michelle.

„Wer sagt, dass wir nicht mehr Optionen als das binäre Gefängnis der Geschlechter haben?“

„Was? Willst du damit sagen, ich bin ein ‚Es‘?“ Nate lachte kurz auf und schüttelte den Kopf, als sie sah, wie entsetzt Mik war.
„Tja, die Freuden der deutschen Sprache: Es gibt nur ‚Er‘ ‚Sie‘ und ‚Es‘. Schade. Auf Englisch gibt es immerhin das Geschlechtsneutrale ‚They‘. Viel besser, da braucht man sich nicht für eines entscheiden.“ Mik wollte glauben, dass Nate verrückt klang, doch irgendwie machte das, was sie sagte, in ihren Ohren Sinn.

„Also bist du keine ‚Sie‘?“ Mik hoffte, dass Nate sich nicht über ihre Frage ärgern würde. Doch entgegen ihrer Erwartungen schien die andere Person geradezu erfreut.

„Nein, ich verwende das geschlechtsneutrale Pronomen ‚Xe‘. Und du?“ Mik wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, „Xe“ war doch kein Wort! Jedoch hatte „Sie“ für Mik nie so wirklich richtig geklungen.

„Ehrlich gesagt hab ich mir darüber noch nie so richtig Gedanken gemacht.“

„Schon okay, sag’s mir einfach, wenn du’s dir überlegt hast“ Nate hatte wirklich faszinierende Augen. Auf ihrer kaffeebraunen Iris waren einige karamellfarbenen Einsprengsel, wie warme Sterne am Firmament.

Während der kurzen Stille zwischen den beiden bemerkte Mik erneut, dass xe ungewöhnlich angestrengt atmete.

„Nate, geht’s dir gut? Du wirkst irgendwie ein bisschen außer Atem.“ Hoffentlich nahm die andere Person ihr das nicht übel! Sie wollte nicht übertrieben neugierig wirken, doch sie machte sich Sorgen. Xes Lächeln wirkte etwas gequält, als sie antwortete.

„Ah, binden, wie ich es liebe!“ Nate öffnete den ersten Knopf von xes Hemds und entblößte ein enges, schwarzes Brustbündnis darunter. „Ich will halt nicht, dass meine Tiddies die ganze Zeit herumhüpfen, wenn ich Nate bin.“

„Schülerin Michelle, Schülerin Nadja, würdet ihr mir bitte etwas Aufmerksamkeit gewähren!“

Mik und Nate zuckten zusammen, sie hatten gar nicht bemerkt, dass die Stunde begonnen hatte. Die beiden grinsten und verdrehten die Augen.

„Schülerin …“ flüsterte Nate. Xe kritzelte auf einen Zettel und schob ihn zu Mik.

„Willst du nach der Schule Tee trinken gehen? – N.“ war darauf zu lesen. Natürlich wollte Mik das! Doch etwas lag ihr noch auf dem Herzen:
„Bist du nicht mit Salim zusammen?“, flüstere sie. „Die ganze Klasse tratscht darüber, wie gut ihr euch versteht! Nina ist schon so eifersüchtig, weil sie seit September auch was von ihm will!“

Nate blickte ungläubig in Miks Gesicht. „Salim?“, fragte sie, und begann, verstohlen zu lachen.

„Mik, Salim ist schwul, und seit zwei Wochen mit Alex aus der Parallelklasse zusammen!“, sagte xe mit gehobenen Augenbrauen und lächelte selbstgefällig. „Nicht zuletzt dank mir.“

Mik war erleichtert. Sie freute sich unheimlich darauf, Nate besser kennenzulernen. Xes Zettel lag vor ihr. Sie biss sich die Lippe und zeichnete eine kleine Teetasse, von der Dampf in Form von „Ja“ aufstieg. Darunter schrieb sie „PS: Xe passt“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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