Diethelm Reiner Kaminski

Spare in der Zeit

Senta befand sich im Tal der Tränen. Zum ersten Mal unsterblich verliebt und gleichzeitig unglücklich wie lange nicht mehr. Für Jochen, zwei Klassen über ihr, an den sie ihr junges Herz verloren hatte, war sie Luft. Er hatte ihre schmachtenden Blicke kein einziges Mal wahrgenommen, obwohl sie ihm seit Wochen dicht auf den Fersen war.

Der einzige Mensch, dem Senta sich bedingungslos anvertrauen konnte, war ihre Großmutter. Sie hatte für alles Verständnis und meist auch einen lebenserfahrenen Rat. Kein Spott wie von den Brüdern, keine Vorwürfe und Ermahnungen wie von den Eltern. Großmutter konnte zuhören und Trost spenden. Bei ihr fühlte sich Senta geborgen, denn sie stellte keine indiskreten Fragen, insistierte nicht, sondern wartete, bis Senta sich öffnete und von sich aus über ihre Sorgen und Ängste sprach.

„Warst du glücklich, als du so alt warst wie ich, Oma?“

„Das ist lange her, da kann einen die Erinnerung täuschen, aber ich glaube, dass das Glück nicht ohne unser eigenes Zutun angeflogen kommt. Das muss man überlisten.“

„Und wie hast du es überlistet?“

„Ich bin dem Sprichwort gefolgt, das meine Großmutter damals gerne im Munde führte: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“

„Und was hat das mit Glück zu tun?“

„Mehr als du denkst. Viele Menschen wollen pausenlos glücklich sein und fühlen sich todunglücklich und vom Schicksal verlassen, wenn nicht immer alles so perfekt läuft, wie sie es gerne möchten, aber das ist unmöglich, das ist bloße Illusion, reines Wunschdenken. Glück gibt es nur in kleinen Portionen, mitunter auch in größeren Häppchen, aber eher selten und nie dauerhaft.“

„Das weiß ich auch, aber was kann man tun, damit man sich besser fühlt?“

„Mir hat mein System geholfen, das ich mir ausgedacht hatte.“

„Ein System? Kann man Glück in ein System pressen?“

„Ich hab es versucht, und es hat ganz gut geklappt.“

„Und wie hat dein System ausgesehen?“

„Ich habe mir beizeiten Vorräte angelegt.“

„Vorräte an Glück? Wie das denn?“

„Ich habe mir einen Schuhkarton besorgt und unter mein Bett gestellt. Immer wenn ich gut drauf war und mich glücklich fühlte, habe ich mir gesagt: Das muss ich jetzt nicht alles aufbrauchen, einen Teil davon spare ich mir lieber auf für schlechte Zeiten.“

„Und wann hast du dich glücklich gefühlt?“

„Zum Beispiel als mich meine Klasse zur Klassensprecherin wählen wollte und mir damit zeigte, dass ich ihr Vertrauen besaß.“

„Wollte?“

„Ja, ich wollte das Glück nicht über Gebühr herausfordern und habe die Wahl nicht angenommen. Aber stellvertretende Klassensprecherin bin ich gerne geworden und habe mich genauso glücklich gefühlt. Im Karton habe ich die Hälfte des mir zugefallenen Glücks auf einem Zettel hinterlegt – mit Anlass und Datum.

Oder als mich ein Junge aus dem Tanzkurs das erste Mal geküsst hat. Er hätte mir tausend Küsse geschenkt, wenn ich gewollt hätte, aber ich habe mich mit einem Dutzend begnügt, das war Stoff genug zum Träumen. Dafür habe ich nach jedem Treffen einen Zettel in den Karton gelegt, auf dem vermerkt war, auf wie viel Glück ich freiwillig verzichtet habe. Sozusagen ein Glücksguthaben für die Zukunft. Als der Junge nach ein paar Wochen genug von mir hatte, weil er eine hübschere und vor allem großzügigere Küsserin kennengelernt hatte, trösteten mich meine Glückszettel, denn sie erinnerten mich daran, dass ein anderes Glück auf mich wartete. Ich musste nur Geduld haben und meine Ersparnisse nicht vorzeitig verschwenden und leichtsinnig verspielen.“

„Und was haben dir die Zettel konkret gebracht? Ich meine, außer ein paar schöne Erinnerungen.“

„Viel“, lachte Großmutter, „ungeahnt viel. Immer wenn ich glaubte, unglücklich zu sein, holte ich meinen Karton von unter dem Bett hervor, las die Zettel und mir wurde bewusst, wie viel Glück mir in der Vergangenheit zuteil geworden war: Nette Freundschaften, bestandene Prüfungen, wunderbare Feste und Reisen, beglückende Lektüren, liebevolle Geschwister und Eltern … Mein heimliches Glückskonto habe ich nie angetastet. Ich habe mich immer gefragt: Geht es dir im Augenblick wirklich so schlecht? Ist das die Not, aus der dir das gesparte Glück heraushelfen kann? Allein schon dieser Gedanke stärkte mein Selbstbewusstsein, sodass ich mir sagte: Das schaffe ich auch alleine. Und tatsächlich: Ich schaffte es. Am nächsten Tag sah alles meist schon viel heller aus, und ich fühlte mich viel weniger unglücklich.“

„Und was ist aus deinem Zettelkasten geworden?“

„Den habe ich aufgehoben für Notzeiten und all die Jahre und Jahrzehnte hindurch immer neue Zettel hineingelegt.“

„Und nie welche rausgenommen?“

„Nie. Ich bin gut durchs Leben gekommen, weil ich sparsam mit dem Glück, das jedem Menschen vom Schicksal zugestanden ist, umgegangen bin. Ich habe mir immer gesagt: Es könnte etwas geschehen, wo du das Glück noch viel dringender brauchst als gerade jetzt.“

„Und dieser Notfall ist nie eingetreten?“

„Doch. Jetzt. Ich sehe dir doch an, wie unglücklich du bist. Unglücklich verliebt, nicht wahr?“

Großmutter erhob sich, schlurfte in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einem alten verstaubten Pappkarton zurück.

„Den habe ich für dich aufgehoben. Das darin hinterlegte Glück dürfte für viele Jahre reichen. Ich schenke dir den Karton, aber geh sparsam mit seinem Inhalt um, dann bringt er dir Glück, wie er mir Glück gebracht hat.“

02.03.2017

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