Marina Fee

Die Treppe zur anderen Welt

Endlich scheinen die Treppen ein Ende genommen zu haben. Ich stehe vor dem Eingang einer Höhle. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecke ich eine weitere Treppe, die hinunterführt. Fakeln erleuchten die steinernen Mauern um mich herum. Ich bin alleine mit meinen Gedanken und gehe sämtliche Szenarien durch, was mich am Ende dieser Treppe erwarten könnte.
Atme tief durch, schiebe Ängste beiseite und sage mir, dass ich nichts zu verlieren habe. Die Treppen hören nun endlich auf. Ich befinde mich am Eingang einer Höhle. Ich vernehme Meeresrauschen. Sehe Tageslicht vor mir, laufe darauf zu. Ein türkisfarbener Ozean befindet sich unter mir. Der Geruch des Meeres steigt mir in die Nase. Der Geruch von Freiheit und Frieden. Ich setze mich an den Rand der Höhle, lasse meine Füße in der Luft baumeln.
Plötzlich schieben sich bewaldete Erdplatten über dem Meer zusammen. Ein Regenwald entsteht unter meinen Füßen. Ein rennender Tiger bleibt stehen und schaut zu mir herauf. „Komm mit“ sagt er, woraufhin ich vorsichtig die Klippe hinunterklettere. Sein Fell ist so schön glänzend, ich habe das Bedürfnis es anzufassen. Er lächelt: „Du darfst mich streicheln, wenn dir danach ist“. Ich knie mich neben ihn hin und kraule seinen weichen großen Kopf, bis er meint, dass es Zeit wird weiterzugehen. Ich laufe ihm durch das kniehohe Gras hinterher.
Ein Affe schwingt sich auf eine Liane direkt über meinem Kopf. Ich bleibe stehen und beobachte ihn eine Weile, wie er zufrieden seine Ärmchen schwingt und eine Liane nach der nächsten greift, bis er in dem Grün des Waldes verschwindet. Ich hole den Tiger ein. „Hast du auch einen Namen, Tiger?“ frage ich ihn. „Du hast mir doch schon den Namen Tiger gegeben“, erwidert er. „Ja, aber das ist eher eine Oberbezeichnung für deine Art.“ „Indem du mich einer Art zuordnest, schließt du gleichzeitig aus, dass ich etwas anderes sein könnte.“ „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel du“ entgegnet er. „Du hast mich erschaffen, also bin ich ein Teil von dir.“ „Der Teil in mir, der die Wälder liebt und dort nach Antworten sucht?“ „Nein, der Teil in dir, der sich für seine Natur und Wildheit nicht verurteilt. Ich folge meinem Instinkt, mache wonach mir ist. Frage mich nicht, wie es jemand findet. Menschen zwingen sich zu so vielem, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollen, weil es von ihrer Umgebung vorgelebt wird, dass es erstrebenswert ist. Sie haben es verlernt auf ihren Instinkt zu hören. Es verlernt Freude, bei dem was sie tun, zu empfinden. Sie streben nach einer inneren und äußeren Perfektion, die das Ego für sie konstruiert hat. Hinter dem Ego verbergen sich jedoch Ängste und Leere. Sie bringen jedes gut durchdachte Konzept zum Einstürzen, wenn es nicht im Einklang mit der Seele steht.“
„Wie schaffe ich es zu erkennen, ob es mein Ego oder meine Seele ist, die gerade zu mir spricht?“
„Indem du dich hineinfühlst, anstatt gleich zu bewerten“, antwortet der Tiger leise. „Als du vorhin zu mir hinuntergestiegen bist, wusstest du, dass du da zu einem Tiger hinuntersteigst. Dennoch hattest du keine Angst. Deine Seele wusste, dass sie sich nicht zu fürchten braucht. Wie du siehst, habe ich dich auch bis jetzt nicht angegriffen.“ Der Tiger hat Recht, dem hatte ich nichts hinzuzufügen. Schweigend laufen wir langsam nebeneinander her.
Ein Wasserfall taucht vor uns auf. Drumherum riesige bunte Schmetterlinge, die uns neugierig anschauen. „Das ist die Neugierde in dir“. Der Tiger springt auf einmal auf, um mit den Schmetterlingen zu spielen. Von fernem höre ich Trommeln. „Nun geh schon, folge deinem Instinkt“, sagt der Tiger, bevor er mit den Schmetterlingen verschwindet.
Ich schließe die Augen und horche, woher das Trommeln kommt. Es wird immer lauter, ich bin auf dem richtigen Weg. Eine Lichtung. Ein sogenannter Buschmann sitzt vor mir mit geschlossenen Augen auf einem großen Stein und schlägt rhythmisch auf seine Trommel ein. Um den Stein schlängeln sich zwei Schlangen zum Takt der Musik herum, als würden sie tanzen. Er hört auf zu spielen, öffnet seine Augen. „Ich habe auf dich gewartet, setzt dich“ er macht eine Kopfbewegung in Richtung des anderen Steins neben ihm. Ich folge seiner Aufforderung. Er schließt wieder die Augen , fängt an zu trommeln. Ich schließe die Augen, lausche der Musik. Sie berührt mein Inneres, meine Seele. Mein Blut pulsiert im Takt der Trommel. Völlig ohne jegliche Gedanken lasse ich mich von der Musik berauschen. Ich öffne erst wieder die Augen, als die Trommelklänge verstummen. „Bist du nicht langsam müde von deiner ständigen Suche nach Antworten?“ fragt er mich. „Manchmal schon. Und manchmal helfen mir Antworten mit Situationen umzugehen, in denen ich nicht weiterweiß.“ Sobald ich es ausgesprochen habe, frage ich mich, ob es wirklich so ist oder ich damit eine Leere ausfülle, die der Tiger als Instinkt bezeichnet hat.  „Was hast du bei der Musik empfunden, als du sie gehört hast?“ Ich muss nicht lange überlegen. „Innere Ruhe, Freude, Befriedigung“.
Was ändert es für dich, wenn ich dir sage, dass es die Melodie der Toten war?“ Auf einmal tauchen Bilder von Toten vor meinem inneren Auge auf. Begleitet von einem unangenehmen Gefühl in der Bauchgegend. „Hättest du die Musik genauso unvoreingenommen genossen, wenn du es vorher gewusst hättest?“ Wahrscheinlich nicht. Nicht immer helfen uns Antworten weiter. Manchmal behindern sie unsere Lernerfahrungen, wenn wir sie erzwingen. „Ist es der Grund, warum ich keine Antwort darauf erhalte, wer ich bin? Was mein Lebenssinn ist und was ich eigentlich will?“
„Du wirst es erfahren, wenn es Zeit dafür ist. Du würdest sonst ausschließen, etwas anderes zu sein und die Schritte nicht gehen, die dich eigentlich zu dem bringen, was du willst.“ Ich denke über seine Worte nach, dabei tauchen noch mehr Fragen auf. „Hör auf dir den Kopf zu zerbrechen. Gedanken Sind Sackgassen. Fühle in die Situation hinein. Ohne sie zu beurteilen oder zu bewerten. Fühlt es sich für dein Herz gut an, so lass dich darauf ein. Es muss nicht alles einen offensichtlichen, auf Logik aufgebauten Sinn oder Nutzen haben. Die Tiefen des Herzens sind dem Kopf nicht begreiflich. Somit kannst du selbst entscheiden, ob du nur an der Oberfläche kratzt, indem du deinen Verstand nach eventuellen Antworten und Erklärungen durchforstest oder ins Innere durchdringst, indem du dich auf etwas tieferes, hinter deinem Ego und Ängsten, einlässt. Solange du die Schneekugel schüttelst, wird es nicht aufhören zu schneien.“ Mit diesen Worten schließt der Trommler erneut die Augen und setzt die Melodie der Toten fort.
Während ich in Gedanken über den Tod und den damit verbundenen Neuanfängen die Lichtung verlasse, stelle ich plötzlich fest, dass ich mich am Strand befinde. Ich wate durch das warme Wasser, das meine Knöchel umspielt, auf die vor mir liegenden Klippen zu. Als ich näherkomme, sehe ich dass die Klippe vor mir ein Fenster hat. Es ist offen. Eine Hand streckt sich mir daraus entgegen, winkt hereinzukommen. Sogleich taucht eine Tür in der Klippe auf, die sich langsam öffnet. Ich trete in die Dunkelheit ein. Stille. Ich kann meinen Atem hören. In dem Moment formt sich vor mir eine Treppe, die nach oben führt. Die Treppe, die mich wieder zurückbringt.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marina Fee).
Der Beitrag wurde von Marina Fee auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.03.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Marina Fee als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

ESSENZEN von Manfred Wrobel



Mit ihrer Lyrik-Edition "Essenzen" bringen die Autoren ein Buch heraus, deren Texte die Kernaussage ihres Schaffens in Schriftform belegen.

Konzentrierte Auszüge ihrer Textvarianten, die zeitgenössische Gegenwartslyrik darstellen und zum größten Teil noch nicht veröffentlicht wurden.

Diese Präsentation ihrer Werke soll viele Menschen ansprechen und sie hoffen, gerade mit dieser ganz speziell zusammengetragenen Lyrik einen Einblick in ihre „Welten“ zu vermitteln.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Marina Fee

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Eule und die Raupe von Marina Fee (Spirituelles)
SICHTBARE KÜSSE von Christine Wolny (Sonstige)
Zwangserkrankung - Mein Weg aus der Angst von Anschi Wiegand (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen