Christina Gerlach-Schweitzer

Heckenvögel

Zu unserem Haus gehört eine Spatzenfamilie mit sechs Mitgliedern. Wir haben letztes Jahr bei der Jungenaufzucht zugesehen, wenn die frechen Spatzenkinder auf unserem Balkongeländer fordernd ihre Eltern anbettelten. Außerdem gehört ein Amselpärchen noch zu uns. Sie hatten im Sommer ihr Nest im Regenrinnenabfluss gebaut. Das  schwarze Amselhähnchen war recht  hässlich, als sich die beiden vor zwei Jahren bei uns einnisteten. An seinem Kopf fehlten viele Federn. Vielleicht hatte er Milben oder sowas, aber über den Sommer hatte es sich ausgewachsen und er war ein ordentlicher Hahn geworden, schwarz, mit  gelben Schnabel und diesen Amselaugen, die zart aufleuchten, wenn Sonnenlicht hineinfällt. Das  braune Weibchen ist auffällig klein. Die zwei sitzen  häufig in unserer Kirschlorbeerhecke vor den Mülltonnen. Bevor ich dort um die Ecke biege, kann ich schon oft ihren Flügelschlag hören. Ich sage dann laut etwas Beruhigendes, dann sind sie gleich wieder still. Menschen die mich beobachten, müssen denken, dass ich spinne, wenn ich so plötzlich vor mich hinrede. Die beiden Amseln kennen mich und meine Stimme und  beruhigen sich sofort, bleiben aber immer  wachsam.

Diesen November hat sich der Nachbar beschwert, dass von dieser Hecke vor den Mülltonnen viele schwarze Beeren auf sein Grundstück, direkt vor seinen Hauseingang fallen. Das stimmt leider und deshalb hole ich ein paar Tage später meine Baumsäge und suche  die  größten Äste des Kirschlorbeers aus, die über  die Nachbargrenze ragen. Sie hängen dicht voller schwarzer Beeren. Ich säge den ersten  Ast ab und bringe ihn weg. Als ich wiederkomme sitzen unsere Amseln dort. Das Weibchen genau auf dem Ast, den ich als nächstes abschneiden will, um keinen Ärger mit dem Nachbarn zu bekommen. Das Männchen sitzt zwei Meter daneben. Warum sitzen die da in dieser Unruhe, frage ich mich. Wollen die jetzt noch ein paar Beeren vom Strauch fressen, oder wollen die verhindern, dass ich ihre Hecke weiter stutze? Ja, es ist ihre Hecke, sie wohnen dort. Pathetisch würde man vielleicht sagen, es ist ihre Heimat. Das Durchschnittsalter von Amseln liegt bei dreieinhalb Jahren. Ich zerstöre also gerade den Ort,den sie Zeit ihres Lebens kennen und ihre Futterstelle für den kommenden Winter. Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich. Ich warte eine Weile, bis das Amselweibchen wegfliegt. Ich mag sie nicht vertreiben. Plötzlich kommen mehrere andere kleine Vögel herbei geflattert. Ein paar  davon kenne ich nicht, aber die Kohlmeise, die letztes Jahr im Brutkasten der großen Fichte in unserem Garten nebenan genistet hat, erkenne ich wieder. Vor zwei Wochen mussten wir zwei Fichten fällen lassen wegen der Herbststürme. Sie drohten auf das Haus unseres Nachbarn zu fallen. An einer war der Nistkasten der Meise befestigt.

Die vielen Vögel, die jetzt unruhig in der Hecke sitzen, sind ein einziger Vorwurf an mich. Du auch, fragen sie. Ich würde mich hassen an ihrer Stelle. Ich versuche ab jetzt die Hecke  für den Nachbarn und für die Vögel so sozialverträglich wie möglich  zu schneiden.  Nur ein paar kleine Äste schneide ich jetzt noch ab.  Die Vögel sammeln sich wirklich gegen mich. Nein, wehre ich mich innerlich gegen einen solchen Gedanken, die Vögel sind bestimmt nur aus Neugier hierher geflogen. Trotzdem  erinnert es mich an die Sitzblockade gegen die Castortransporte. Die Vögel wissen, dass sie mich nicht stoppen können- heute nicht. Aber sie stören mich beim Stutzen der Hecke. Sie stören mich bei der Zerstörung ihres Lebensumfeldes.

Vielleicht könnte ich die übrigen Äste, die ich noch nicht abgesägt habe ja einfach auf unser Grundstück umbiegen und sie mit einer Schnur zurückhalten? Ich mache das so und  fühle mich ein bisschen besser. Demnächst werde ich woanders eine neue Hecke pflanzen, verspreche ich mir. Es war ihr Lebensraum, es waren ihre Beeren. Diese Amseln werden schon tot sein bevor die Hecke, die ich für die Vögel pflanzen werde, groß gewachsen ist.

Bild zu Heckenvögel

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