In seinem Wohlfühlpark – wie Sören den Stadtpark in seinem Wohnbezirk nennt – fühlt er sich trotz körperlicher Behinderung weniger beobachtet und angreifbar als gewöhnlich. ‚Hinkebein’, wurde er als Kind gerufen. Hinkebein, der nicht schnell laufen kann. Hinkebein, der gerne Fußball gespielt hätte, aber in der Schülermannschaft nicht aufgenommen wurde. Hinkebein, der es bis heute nicht geschafft hat ein Mädchen anzusprechen. Hinkebein, der sich in wilde Gedanken flüchtet und sehr schnell spürt, dass Träume Schäume sind. Hinkebein, der Menschenansammlungen meidet, weil eine tief sitzende Schüchternheit ihn innerlich zerreißt. Hinken macht einsam.
Der siebzehnjährige Sören benutzt, so auch heute, nur den Hauptweg für seine Spaziergänge im Park. Die zahlreichen Seitenwege meidet er. Er vertraut den Seitenwegen nicht. Er glaubt, dass die Seitenwege ihm nicht die Geborgenheit bieten können, wie das der Hauptweg vermag. Bis Sören sich mit dem Hauptweg anfreunden konnte, hatte es viel Kraft und Überwindung gekostet. Erst nachdem er für sich entdeckte, dass die rechts und links am Hauptweg dicht an dicht stehenden alten Kastanienbäume mit ihren großen Kronen und den wuchtigen Stämmen sein Schutzschild sind, fühlte er sich sicher. Die sich in der Mitte begegnenden Baumkronen lassen nur mäßig das Sonnenlicht durch. Diffuse Lichtverhältnisse lassen Sören glauben, dass seine Behinderung weniger auffällt. Schafft es die Sonne das Laubdickicht zu durchzudringen, fühlt er sich als ein Besucher eines Licht- und Schattenspiels, der sich von anderen Schattenläufern nicht unterscheidet. Am Ende des Weges legt Sören eine Pause ein. Ein Gefühl von Erschöpfung zwingt ihn, sich auf eine Bank zu setzen. Bei geschlossenen Augen dringen Gesprächsfetzen an seine Ohren, die von vorübergehenden Spaziergängern herrühren. Er hört Vogelgezwitscher und das Rauchen des Blätterwaldes. Allmählich gelingt es Sören, sich zu entspannen. Der krampfartige Schmerz in seinem verkürzten Bein löst sich auf. Sein versteinerter Gesichtsausdruck weicht einem schwachen Lächeln. Hinter geschlossenen Lidern sieht er sich furchtlos einen Seitenweg entlanggehen. Voller Vorfreude Neues zu entdecken. Gerade als er anfängt zu ahnen, was es bedeuten kann, über den eigenen Schatten zu springen, wird er aus seinem Tagtraum gerissen. „Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, wird Sören von einer jungen attraktiven Frau gefragt. „Natürlich ist der Platz neben mir noch frei“, erklärt Sören und rückt zum äußersten Rand der Bank. Dankbar, wenngleich vom Tonfall irritiert, setzt sich die junge Frau neben Sören und fängt an zu erzählen. Sie erzählt, dass sie des Öftern im Park spazieren geht und das sie hin und wieder interessante Leute kennen lernt. Sören erfährt, dass sie sich gerne unterhält und spürt, dass er nicht in der Stimmung ist, ihr zuzuhören. Deshalb steht er auf und verabschiedet sich mit dem Satz: „Sie müssen entschuldigen. Ich habe noch etwas vor.“ Sein Bein hinterher ziehend entfernt er sich ein paar Schritte und hat das Empfinden, von Blicken verfolgt zu werden. ‚Hinkebein’ schleicht sich davon und versucht durch Speichelbildung Feuchtigkeit in den Mund zu bekommen. Sören spürt seine Adern am Hals hervortreten. Viel Blut steigt ihm zu Kopf. Er vergräbt beide Hände in seinen Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten. ‚Warum habe ich mich auf kein Gespräch mit der Frau eingelassen?’, überlegt er und ärgert sich. ‚Sie sah nett aus, hatte eine angenehme Stimme und überhaupt.’ Sören wischt sich verstohlen ein paar Wuttränen aus dem Gesicht und ist enttäuscht darüber, dass er sich wieder einmal eine Chance hat entgehen lassen. Am Beginn eines Seitenweges bleibt Sören stehen und denkt kurz über seinen Traum nach. Er fühlt sich hin und her gerissen. Schließlich schafft Sören es seinen inneren Schweinehund zu überwinden, und läuft einfach los. Er konnte nicht wissen, dass er sich ungewollt auf ein Abenteuer einlassen wird. Unsicher, als würde er über glühende Kohlen gehen, nimmt Sören die ersten Schritte. Niedrig- und hochwachsendes Buschwerk begrenzt von Anfang an den Seitenweg. Erst dahinter stehen hohe Bäume in Gruppen zusammen oder einzeln verstreut. Sören fühlt sich von den Bäumen auf Schritt und Tritt unangenehm beobachtet. Er fühlt sich schutzlos. Besonders an Stellen, wo großflächige Wiesen die Geschlossenheit der Büsche und Sträucher unterbrechen. Obwohl er an Umkehr denkt, läuft er weiter. Wegkrümmungen vermitteln Sören das Gefühl, sich in einem Labyrinth zu befinden. Der Gedanke, sich schon sehr bald nicht mehr zurechtzufinden, macht ihm Angst. Ein Vogelschwarm fliegt über ihn hinweg und lässt Sören für einen Moment innehalten. Er beobachtete den Vogelflug und würde es ihren gleichtun. Die nicht geplante Pause veranlasst Sören, sein Tempo zu erhöhen. Seine Schritte werden schneller und unkontrollierbarer. Längst bereut er, das Wagnis eingegangen zu sein. Die unberechenbare Sonne, die ihren Zenit längst verlassen hat, bildet vor Sören einen vorauseilenden Schatten, von er sich wie ein gehetztes Tier getrieben fühlt. Zu dem normalen Schwitzen gesellt Angstschweiß. Mit seinem Taschentuch wischt er sich immer wieder Schweißperlen von der Stirn. Sein verkürztes Bein hindert ihn daran, das anfängliche Lauftempo beizubehalten. Blühende Holunderbüsche nimmt Sören genauso wenig wahr, wie den betörenden Duft der Blüten. Sein einziger Wunsch ist möglichst schnell das Ende des Weges zu erreichen und irgendwie dem Horror zu entkommen. ‚Wäre ich bei der Frau auf der Bank sitzen geblieben und hätte ich mich mit ihr unterhalten, wäre mir der ganze Spuk erspart geblieben’, denkt Sören und nähert sich erneut einer grasbewachsenen Lücke zwischen zwei Büschen. Was er entdeckt, lässt ihn abstoppen. Irritiert schaut Sören auf einen vorgestreckten unbekleideten linken Frauenfuß, dessen Zehen mit einzelnen Grashalmen spielen. Er spürt, wie sein Herz schneller schlägt. Nach einer kurzen Überlegung wagt er, seinen Schatten vorausschickend, einen Schritt nach vorne. Die neue Position lässt es zu, das er auf einen nackten Unterschenkel blicken, kann. Weiter reicht die Entblößung nicht. Ein Kleidersaum bedeckt das Knie. Ungestört dessen fängt Sörens Fantasie an, sich zu entfalten. Alle Ängste und Beinschmerzen sind plötzlich wie weggeblasen. Gequält von Peinlichkeit und gleichzeitiger Begierde schaut sich Sören um. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein in die Breite gewachsener mannshoher Busch, der, so hofft Sören, genügend Schutz vor dem entdeckt zu werden bietet und gleichzeitig ausreichende Durchsicht zulässt. Leisetretend wie eine Katze schleicht Sören zum Versteck und verschwindet dahinter. Zufrieden stellt er fest, dass er eine gute Wahl getroffen hat. Mühelos blickt Sören auf die Unbekannte, die es sich auf einem Klappstuhl bequem gemacht hat und in einem Buch liest. Sie trägt ein mit Klatschmohnblüten bedrucktes weißes, fast durchsichtiges Sommerkleid. Den Anblick weit auseinander gespreizter Beine erinnert Sören an den Film "Basic Instinct", den er sich vor Kurzem zum wiederholten Male angesehen hat. Das großzügig geschnittene Oberteil des Kleides lässt einen freien Blick auf ein üppiges Dekolleté zu, das Sörens Herz, das sowieso schon rast, noch mehr rasen lässt. Der sich leicht hebende und senkende Busen weckt bei Sören Begehrlichkeiten. Mit der linken Hand hält die Beobachtete ein aufgeschlagenes Buch fest, das sie auf ihrem linken Knie abgelegt hat. Mit dem rechten nach oben gerichteten Arm, der auf dem rechten Knie ruht, stützt sie ihren Kopf. Ihr Gesicht ist leicht gerötet. Ihre Augen scheinen geschlossen, was dem Gesicht etwas Unschuldiges, Anmutendes, Jungfräuliches gibt. Die langen braunen Haare, in der Mitte streng gescheitelt, fallen auf ihre Schultern. Sören kann sich nicht sattsehen und spürt zu stillenden Heißhunger. Unruhe macht sich in ihm breit. Durch eine Unaufmerksamkeit tritt Sören auf einen kleinen am Boden liegenden Ast. Ein unangenehmes Knackgeräusch lässt Sören wie versteinert in seiner Position verharren. Er befürchtet, entdeckt zu werden. Und tatsächlich. Die Lesende blickt auf. Sie schaut nach rechts, anschließend nach links, danach hinüber zu dem Busch, hinter dem sich Sören versteckt hält. Für einen Moment begegnen sich Augenpaare ohne bloßstellende Folgen. Sören hält, bis es nicht mehr aushält, seinen Atem an. Er hofft keine weiteren Geräusche zu erzeugen. Bevor die Begehrte sich wieder ihrer Lektüre widmet, hat Sören für einen Moment die Gelegenheit in große braune Augen zu schauen und einladend kirschrot bemalte Lippen zu bestaunen. Ihre Lippen sind es, die Sören zusätzliche Schweißperlen auf die Stirn hervorbringen lässt. ‚Soll ich es wagen? Soll ich zu ihr gehen und ihr sagen ...’ Sören beschließt, nichts der gleichen zu tun. Während er über seine Unentschlossenheit nachdenkt, blättert die Frau eine Seite ihres Buches um und spreizt bewusst oder unbewusst ihre Beine noch weiter auseinander. Sören spürt aufkeimende Eifersucht. ‚Anstelle des Buches sollte mein Haupt auf ihrem Knie liegen und zärtlich von ihr berührt werden. Mit ihren feingliedrigen Fingern sollte sie nicht Zeile für Zeile abtasten, sondern mit meinen Haaren spielen, die Konturen meines Gesichts nachspüren, mir über geschlossene Augen streichen, die Nase abtasten und mit einem Finger auf meinen Lippen verharren und warten, bis ich ihn küsse‘, denkt Sören, während ihm ein wohliger Schauer über seinen Rücken läuft. Seine Kleidung wird ihm zu eng. Er weiß, will er nicht seine Beherrschung verlieren, muss er sich aus der nicht ungefährlichen Situation befreien. Nur weiß er nicht, wie er unbemerkt seinen Beobachtungsort verlassen kann.
Plötzlich hört Sören Schritte die sich ihm unaufhaltsam nähern. Er befürchtet, dass gleich das passieren wird, was er vermutet: Jemand zieht ihn aus dem Gebüsch und ... Um sich nicht noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzten versucht Sören diesen Gedanken nicht zu Ende zu führen, was ihm nicht gelingt. In Panik geraten beißt er sich auf die Unterlippe, die erst schmerzt und fast gleichzeitig anfängt zu bluten. Seine schweißnasse rechte Hand wischt er sich an seine Hose trocken und anschließend fängt er mit dem Zeigefinger derselben Hand Blutstropfen ab. Von nassen Nackenhaaren fallen Tropfen in den offenen Hemdkragen und verursachen ein unangenehmes Gefühl.
Jetzt trennen den Heraneilenden und Sören nur noch wenige Schritte. ‚Gleich wird er mich entdecken und packen’, schießt es Sören durch den Kopf. Er ist bereit, sein Versteck zu verlassen und sich zu outen. Plötzlich sieht Sören, wie der herannahende Mann seine Arme weit auseinander breitet, der Frau entgegen eilt und ruft: „Hallo Sybille! Endlich habe ich dich gefunden. Ich dachte schon, ich würde dich nicht finden. Ich war mir nicht sicher, welchen Seitenweg du heute wählen wirst. Zwei Seitenwege bin ich bereits erfolglos abgelaufen. Jetzt endlich ...“ Sören muss mit ansehen, wie der junge Mann die Frau zu sich hochzieht, sie mit beiden Armen umklammert und leidenschaftlich küsst. Die Umarmung wird immer stürmischer. Sören will nicht sehen, was er sieht. Für einen Moment verschließt er die Augen. Am liebsten hätte Sören sich auch noch die Ohren zugehalten, denn die Geräusche, die von der anderen Seite seines Versteckes zu ihm herüber dringen, sind kaum auszuhalten. Er stellt sich vor, er würde den Liebhaber wegstoßen und dessen Rolle einnehmen. Ja, das wäre das, was er sich wünscht. Sören will und kann das, was ihm geboten wird, nicht länger ertragen. Er beschließt, sein Versteck zu verlassen. Ihm ist es egal, ob er wahrgenommen wird, oder nicht. ‚Nur weg hier’, denkt er und verlässt sein Versteck. Unbemerkt humpelt er zurück zum Hauptweg. Der Schatten, der ihm auf dem Hinweg vorauseilte, hinkt ihm jetzt hinterher. Endlich erreicht Sören den Hauptweg. Erschöpft, enttäuscht aber gleichzeitig auch zufrieden bleibt er stehen, atmet tief durch und freut sich, dass er seine geliebten Kastanienbäume um sich weiß. Die Bank, auf der es vor Stunden saß, ist leer. Die junge Frau von vorhin ist längst an einem anderen Ort. Und selbst wenn sie noch auf der Bank säße, kann Sören es sich nicht vorstellen zu ihr hinzugehen und sie zu fragen, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Nach einem tiefen Seufzer setzt Sören seinen Weg im Schatten der Kastanienbäume fort. Der Weg, der für ihn die Wirklichkeit ist.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.03.2017.
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