Hans K. Reiter

Blickfang - ein bayerischer Tatort

Wir wissen nicht, warum er es getan hat, sagen die Leute. Keiner weiß es, sagt der Herr Kaplan.

Der lüsterne Blick des Mannes vorne am Altar galt zweifellos dem Mädchen rechts in der ersten Reihe. Die Ministranten schleppten die sakralen Utensilien umher: die Heilige Schrift, ein schweres Buch mit Goldschnitt, Weihrauchgefäße und Kännchen mit Wein und Wasser.

Mit aufreizender, von Routine geprägter Gelassenheit verrichtete der Herr Pfarrer die gebotenen liturgischen Rituale. Zu bestimmten Anlässen knieten die Ministranten nieder und betätigten die rechts daneben stehenden Glocken, vier Schellen an einem Griff, deren heller Klang von den Gläubigen forderte, sich  zu bekreuzigen, was diese auch sehr eifrig taten.

Und immer wieder dieser Blick. Alle in der Kirche mussten es sehen. Aber sie sahen es nicht. Nicht das Mädchen in der ersten Reihe mit dem niedlichen Gesicht, umrahmt von blondem Haar sah es. Nicht die Eltern sahen es, nicht die Nachbarn, nicht die Freunde, niemand.

Doch gab es einen Menschen in dem Gotteshaus, dem das ungewöhnliche Spiel des Mannes am Altar nicht verborgen blieb. Von der letzten Reihe aus konnte der Beobachter zwar das Verbotene in den Blicken nicht erkennen, wohl aber deren Ziel ausmachen.

Hurtig streifte der Herr Pfarrer oder auch Hochwürden, wie er oft benannt wurde, die Messgewänder über Schultern und Kopf, legte sie auf einen Stuhl und bedeutete dem Kirchendiener, diese wegzuräumen – wie nach jeder Messe.

Das Mädchen aus der ersten Reihe gesellte sich zu den Eltern und Nachbarn, ein paar Freunde eilten noch herbei, dann gingen sie gemeinsam nach Hause.

Später wußte niemand zu sagen, was geschehen war, auch der Beobachter aus der Kirche nicht. Selbst den Eltern war nichts aufgefallen. Als sie jedoch zuhause ankamen, bemerkten sie, dass ihr blonder Engel fehlte. All die anderen waren da, die Nachbarn, auch die Freunde, nur die kleine Blonde nicht.

Fünf waren es oder gar sechs? Kleine schwarze Knäuel. Willst reinkommen? Wenn du magst?, fragte die freundliche Frau. Sie war ein paar Schritte hinter den anderen zurückgeblieben, die einfach so dahin liefen, wie jeden Sonntag.

Panik machte sich breit, im Haus, am Ort, überall. Nachbarn versammelten sich und brachen in Gruppen auf, um nach dem Mädchen zu suchen.

Mit beiden Händen im Knäuel wühlend spürte sie manchmal die kleinen scharfen Zähne der Hundebabys und vergass alles um sich herum, hatte kein Gespür mehr für die Zeit. Nur noch diese kleinen, niedlichen Wesen!

Was denn los sei, wollte der Herr Pfarrer wissen und der Herr Kaplan pflichtete eifrig bei,  ja, was in Gottes Namen ist denn los?

Ein Passant erklärte es den beiden, reihte sich wieder ein und folgte seiner Gruppe, um die Felder hin zum Wald abzusuchen.

Beinahe übergangslos brach die Nacht herein. Wir suchen weiter, sagten die Nachbarn. Die Mutter, in der Küche auf einem Stuhl sitzend , verzweifelt und von trockenem Schluchzen geplagt, nickte nur. Der Vater rastlos im Garten auf und ab laufend, blickte verständnislos auf, so, als habe er nicht verstanden, was man ihm soeben mitgeteilt hatte.

Ich glaube, ich muss jetzt wieder gehen, war schön, so mit den Kleinen zu spielen, sagte das Mädchen und erhob sich. Wenn du meinst, sagte die Frau.

Schon sehr früh am Morgen kamen die Nachbarn wieder zusammen, jedenfalls jene, die nicht zur Arbeit mussten, und setzten die Suche fort.

Einzig der Herr Pfarrer hätte etwas berichten können, aber er sagte nichts. Eine viertel Stunde oder vielleicht auch zwanzig Minuten war er letzte Nacht durch die Gegend gelaufen – den Kopf frei bekommen. Er wusste um sein Problem, das ihm immer mehr zu schaffen machte – die Mädchen in ihren kurzen Röcken und den engen Hosen, wie sie da so dasassen, vorne, in der ersten Reihe. Und, mit einem Mal sah er jemanden aus dem Haus vorne an der Ecke kommen. Das ist doch…!, zischte er leise vor sich hin.

Am Montag Nachmittag schaltete sich schließlich auch die Polizei ein. Schweren Herzens waren die Eltern auf dem Revier erschienen und hatten ihr Leid geklagt.

Suchtrupps durchstöberten, was von den Nachbarn schon durchstöbert war und Hundeführer mit imposanten Schäferhunden durchkreuzten das Gelände.

Pass gut auf, sagte die Frau, ist schon dunkel! Oder soll ich dich ein Stück begleiten? Nein, nein, sagte das Mädchen, ich kenne den Weg. 

Der Mann, der während der Messe am Sonntag seine Beobachtungen gemacht hatte und ein junger Kollege trafen wenig später am Haus der Eltern ein. Landeskriminalamt, stellten sie sich vor. Die Eltern berichteten, was sie wußten und das war nicht sehr viel. Dann gehen wir mal die Nachbarn befragen, sagte der Ältere und sie verließen das Haus.

Tut mir leid,  sagte die Frau und schüttelte den Kopf, ich habe das Mädchen nicht gesehen. Sehen Sie, ich bin viel mit den Hunden beschäftigt, sechs umtriebigen Welpen, da bleibt keine Zeit für anderes. Tut mir leid, wiederholte sie. Die beiden Kriminalbeamten bedankten sich und suchten das nächste Haus auf.

Sehen Sie an der Kirche, sagte der Jüngere, die Leute. Was hat das zu bedeuten? Gehen wir hinüber, meinte der Ältere, dann werden wir es erfahrenWas ist denn los?, fragten sie in die Menge hinein. Der Herr Pfarrer… Nun, was ist mit ihm?, fragte der Jüngere. Zu Tode gestürzt, vom Kirchturm.

Die Untersuchungen ergaben nichts. Es konnte Absicht gewesen sein oder auch ein Unfall. Vieles sprach für Letzteres. Der morsche Teil eines Geländers hatte nachgegeben. Was der Pfarrer da oben in den Morgenstunden allerdings gewollt hatte, blieb unaufgeklärt. Es wurde gesagt, er sei öfter mal hochgestiegen, um die Zeiger der Turmuhr nachzustellen.

Das Mädchen blieb verschollen. Noch heute, Jahre danach, soll es immer noch eine Sonderkommission bei der Polizei geben, um das mysteriöse Verschwinden der Kleinen aufzuklären.

Die kleinen Welpen wuchsen heran und entwickelten sich zu prächtigen Tieren. Gelegentlich sah man den Herrn Kaplan von damals, der nunmehr die Stelle des Pfarrers inne hatte, im Haus seiner Tante mit eben diesen Hunden herumtollen.

Manchmal, wenn irgendwo auf unerklärliche Weise wieder einmal ein Mädchen verschwand, seufzte die Tante aus tiefstem Herzen, bekreuzigte sich und bat den Herrn inbrünstig um Vergebung.

Niemals hatte sie mit ihm darüber gesprochen, aber sie wußte es von dem Moment an, als er damals, kurz nachdem die Kleine das Haus verlassen hatte, schwitzend und mit fahrigen Bewegungen vor der Türe gestanden war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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