Diethelm Reiner Kaminski

Alles neu macht der Mai

Janine scharrte mit den Füßen in den trockenen bunten Herbstblättern auf dem Gehweg.

„Warum ist das bei den Menschen nicht auch so?“

„Was heißt auch so? Drück dich klarer aus“, mahnte ihr Vater.

„Dass wir, bevor wir sterben, erst gelb und dann rot werden, und dann alles von uns abfällt, wie bei den Bäumen.“

Janines Vater war leicht verdutzt. Was sollte er auf diese Frage antworten? Weil Menschen keine Bäume sind? Damit würde sich Janine nicht zufrieden geben und sagen: „Das weiß ich selber.“

Wie immer, wenn ihm keine plausible Antwort einfiel, spielte er erst einmal auf Zeit und stellte sich dumm.

„Was soll denn wohl von den Menschen abfallen? Menschen haben doch keine Blätter.“

„Arme, Beine, Kopf“, sagte Janine und schaute ihren Vater herausfordernd an. Der hatte schon geahnt, worauf Janine hinauswollte, die sich jetzt zur Halloweenzeit ohnehin gerade auf der Horrorwelle bewegte.

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Und wohin mit all den abgefallenen Teilen?“

„Dahin, wohin auch das Laub gebracht wird. Da wird dann wieder neue Erde draus.“

„Und der Rest? Ich meine, der Rumpf?“ Janines Vater gebrauchte den Singular, weil ihm so schnell nicht einfiel, wie der Plural lautete.

„Wie bei den Bäumen. Da wachsen dann im Frühjahr neue Arme, Beine und Köpfe raus.“

„Schön wär´s. Da könnten wir uns manchen Weg zum Arzt oder zum Schönheitschirurgen ersparen. Alles neu macht der Mai. Immer alles frisch und proper“, ging Janines Vater auf das Gedankenspiel seiner Tochter ein. Die aber gab sich nicht so schnell zufrieden, sondern spann die Vorstellung immer weiter aus.

„Sind die neuen Teile gleich oder nur ähnlich? Würde ich einen ganz neuen Kopf kriegen? Oder längere Beine als jetzt? Und dickere Arme?“

„Das müssen wir abwarten. Das kann man nicht im Voraus wissen.“

„Und wenn ich nun einen Jungenkopf kriege? Oder O-Beine? Oder Wurstfinger?“

„Dann hast du Pech gehabt und musst ein Jahr warten und hoffen, dass du dann mehr Glück hast.“

„Aber meine erste Frage hast du trotzdem nicht beantwortet“, forderte Janine unerbittlich eine Antwort ein.

„Welche Frage?“, tat Janines Vater erstaunt, der diese längst vergessen hatte.

„Warum ist das bei uns Menschen nicht genauso wie bei den Bäumen? Warum wechseln wir im Herbst nicht auch unsere …“ Janine zögerte, weil sie merkte, dass die Wörter ‚Blätter‘ oder ‚Laub“ nicht recht passten.

„Weil Menschen nicht grün sind. Und wenn man nicht grün ist, kann man hinterher auch nicht gelb oder rot werden“, hatte Janines Vater einen Geistesblitz.

„Und die da?“ Janine zeigte auf zwei ältere Damen in grünen Mänteln, die sich auf einer Bank ausruhten.

„Ausnahmen gibt es immer“, verlor Janines Vater die Geduld. „Die beiden werden bestimmt bald rot, und dann fallen die Mäntel von ihnen ab, und dann sitzen sie nackend da und frieren. Bist du nun zufrieden?“

Janine scharrte weiter mit den Füßen im trockenen Laub und stellte sich vor, sie schiebe Berge von abgefallenen Armen, Beinen und Köpfen vor sich her. Würden sie rascheln oder klappern? Aber das fragte sie ihren Vater lieber nicht.

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