Rissig seine Gesichtshaut, großporig die Nase, skeptisch der Blick und die hochgezogenen Augenbrauen, die Stirne gerunzelt, streckt er Anja seine Hand entgegen.
Irgendwie fürchtete sie, ihn anzuschauen, weil sie Angst hatte, dass er unter ihrem Blick zerfällt. Wieviel Vergangenheit verbirgt sich dahinter, wieviel atemberaubende Schönheit, wieviel Verklärung seines langen Lebens, wieviel Tapferkeit, Wahrheit, Größe und Kraft. Für einen Augenblick kommt er aus dem Dunkel zurück und kehrt doch nach ein paar kleinen Sätzen wieder ins Dunkel zurück um seine Tiefen zu erkunden, um seine endlose Nachtwache fortzusetzen.
Seine Erinnerungen sind wie verwahrloste herrenlose Hunde, sie umringen und starren ihn an, hecheln und heulen zum Mond. Er möchte sie verscheuchen aber sie weichen nicht. Gierig lecken sie seine Hand und hat er sie im Rücken, beißen sie zu.
Sein verflossener Sommer bringt ihm Bilder als wären es Notizen auf den abgefallenen Blättern, die der Wind vor seinen Fenster hochwirbelt und eine tiefe Einsamkeit und Beklemmung überfällt ihn.
Er hat Anja schon vergessen, die noch immer dasteht und nicht weiß, worüber sie mit ihm sprechen solle. Alles was sie jetzt sage, würde überflüssig sein, denn seine nun sehr eingefallen wirkenden Augen, widerspiegeln ein in seinem Inneren tobendes Chaos, aber vollkommen gleichgültig auf die Realität, die er nicht mehr zu erkennen scheint. Er trägt gute Kleidung, hat ein gepflegtes Äußeres und auf seinem linken Unterarm eine tiefe Wunde, auf der das Blut schon geronnen war: keine gefährliche Wunde, doch die verräterische Spur einer unsicheren, hilflosen Handlung in der einsamen Wohnung.
„Lebe so, als ob jeder deiner Schritte von Segen begleitet werde“ sagte er damals, als seine Haut noch nicht rissig war und sein Blick sich noch nicht so oft ins Dunkel zurückzog. „Du kannst auch wie ein Verfluchter leben. Aber dann wirst du zum Verfluchten werden.“
Daran musste Anja jetzt denken, als sie nachts wach wurde, aufstand und an das offene Fenster trat. Sie zog die Vorhänge beiseite. Der Mond war im Untergehen und warf einen Pfad goldenen Lichtes über das schimmernde Wasser des Flusses. Dieser untergehende Mond erfüllte ihr Herz mit unerklärlicher Traurigkeit. Warum war der Untergang des Mondes trauriger als der Sonnenuntergang? Der matte Schein, die wechselnde Form, die Erkenntnis, dass der Mond alt und tot war, während die Sonne in jugendlichem Feuer glühte, – all dies brachte ihr die Kürze des Lebens, das Dahinschwinden der Jugend zum Bewusstsein. Wie lange würde sie noch zu warten haben auf das was kommen soll ?
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.04.2017.
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von Maike Opaska
Ein weit gereister Journalist schließt innerhalb weniger Stunden Freundschaft mit einem liebenswerten Naturkind. Die Nachricht von seiner lebensbedrohenden Krankheit treibt den engagierten Kriegsberichtserstatter in die Abgeschiedenheit, in die Einsamkeit, wo er allein mit seinem Schicksal fertig werden will.
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