Magdalena Wysocka

Ich sehe

Ich sehe, ich atme, ich gehe.

Ist dir bewusst was du tust?

Die Wände kommen näher und ich blinzle in die Dunkelheit. Ich rufe und mein Echo erschreckt mich.

Sie sagen mir ich soll mich setzen, sie sagen mir ich soll aufstehen. Sie sagen mir, ich vergeude meine Zeit. Sie sagen mir wie und wann ich lachen soll. Sie sagen ich soll blieben. Sie sagen mir, mir fehle die Zeit.  Sie sagen es mir die ganze Zeit. Sie sagen es mir immer.

Ich trete auf die Straße, sehe einen Bus an seiner Haltestelle halten – zögere – laufe ihm hinterher – steige ein – setze mich ans Fenster. Wohin fährt dieser Bus?

Wie wichtig ist das schon? Ich werde schon irgendwo ankommen. Irgendwo werde ich aussteigen müssen. Und überhaupt – ich kann doch einfach wieder einen Bus zurück nehmen und dort aussteigen, wo ich her gekommen bin. Oder vielleicht wird auch dieser Bus im Kreis fahren und wenn ich nur lang genug warte, dann komme ich auch wieder dort an, wo ich eingestiegen bin. Und wer sagt eigentlich, dass ich wieder zurück will, an den Ort, an dem ich war, bevor ich in diesen Bus gestiegen bin? Ich muss zurück? Ich muss gar nichts.

Der Bus hält. Durch das linke Fenster kann ich einen wunderschönen See sehen. Das Wetter scheint hier besser, als zu Haus. Eine ältere Dame steigt ein und nimmt den Platz neben mir ein. Mit ihrer Perlenkette, dem dicken Goldring am Finger ihrer rechten Hand, dieser ausgefallenen Tasche und dem Hut, der Geschichten zur erzählen scheint, ja, sie sieht aus, als hätte sie ein wundervolles Leben gehabt. Irgendwie besser, als mein. Sie sucht in ihrer Tasche, holt eine kleine Dose mit Pfefferminzbonbons aus ihr heraus und hält sie mir hin. Ich nehme vorsichtig ein Bonbon und lächle ihr zu.

Ich starre zum Busfahrer. Er scheint seinen Beruf zu lieben. Er wirkt fast stolz. Er muss unheimlich zufrieden mit sich sein. Er lenkt den Bus, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Ich erhasche einen Blick auf sein Gesicht, welches sich in der Scheibe spiegelt. Er wirkt irgendwie glücklicher, als ich.

Ein Pärchen im hinteren Bereich fällt mir ins Auge. Er küsst ihr zärtlich die Stirn. Sie blickt verträumt in die Ferne und sie scheinen irgendwie vollkommener, als ich. Er hält ihre Hand und massiert ihr zärtlich mit dem Daumen über den Handdrücken und sie wirken so entspannt, wie ich es nie bin.

Der Bus hält. Ich blicke hinaus und sehe einen Spielplatz. Kinder schaukeln auf einer Schaukel und spielen im Sand. Die Welt scheint hier irgendwie sorgenfreier, als zu Haus. Eine Mutter sortiert die Schaufeln ihrer Kinder, täuscht das Essen eines Sandkuchens vor undsteigt in das Lachen ihrer Tochter mit ein. Ihr Lachen wirkt irgendwie freier, als meines. Der Bus fährt an, aber ich blicke zurück. Ein stattlicher Mann bewegt sich auf die kleine Familie zu und  das Bild scheint komplett.

Am Straßenrand sehe ich einen alten Herren mit seinem Dackel. Der Dackel folgt seinem Besitzer und ich stelle mir vor, wie dieser freundliche Herr sein Leben mit seinem besten Freund, dem Dackel, verbringt. Wie er Morgens mit ihm aufsteht, mit ihm frühstückt und zu Abend ins Bett geht. Wie der Dackel sein Herrchen vergöttert und wie dieser alte Herr seine letzte Rente, für seinen geliebten Freund und Begleiter geben würde. Irgendwie herzlicher, als ich es kenne.

So fährt der Bus eine ganze Weile weiter und irgendwann stehe ich auf, uns steige aus. Ich blicke nicht mehr zurück. Ich gehe zu Fuß und atme.

Weiß du, was ich fühle?

Ich ziehe Luft ein und sie bleibt aus. Ich schreie und mein Schrei verhallt.

Nie wird jemand wissen, was ich empfunden habe.

Nie werde ich wissen, dass die freundliche, alte Dame später zum Flachmann in ihrer Tasche griff, sich mit dem Busfahrer anlegte, der sie aus dem Bus stieß und verfluchte, dass er wegen ihrer Verletzung nun noch mehr Probleme am Kragen hatte. Nie werde ich wissen, dass das sympathische Pärchen am Abend in unterschiedlichen Betten schlief, und jeder den Betrug mit jemandem anders vollzog und dass der Familienvater am Abend seine Frau tötete und zwei Kinder zu Halbwaisen machte. Nie werde ich wissen, dass der ältere Herr sich am Dackel seiner verstorbenen Frau für all ihre Gemeinheiten zu Lebzeiten rechte.

Ich schweige, ich verstumme, ich gehe.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.04.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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