„Wir kriegen morgen Abend Gäste“, kündigte Janines Vater an.
„Schon wieder?“, maulte Janine, die sich einen kuscheligen Fernsehabend mit ihrem Vater erhofft hatte, den sie, weil er berufstätig war, viel zu selten sah. Was das Fernsehen betraf, war ihr Vater großzügig und ließ Janine bis zum Zubettgehen bestimmen, was geguckt wurde.
„Geschäftsfreunde“, sagte Janines Vater, „wichtige Geschäftsfreunde. Da möchte ich, dass du die fünf N beachtest, die wir neulich vereinbart haben. Ich hoffe, du hast sie nicht schon wieder vergessen.“
„Ist schon gut“, sagte Janine, „ich habe sie natürlich gleich auswendig gelernt. Möchtest du sie hören?“
„Ohne eine Antwort abzuwarten, schnurrte sie sie ohne Punkt und Komma herunter:
„Nicht mit vollem Mund reden nicht über den ganzen Tisch langen nicht mit den Fingern essen nicht dazwischenreden wenn Erwachsene sich unterhalten nicht mit dem Stuhl wippen nie Scheiße sagen …“
„Das waren sechs“, sagte Janines Vater, „aber ich freue mich, wenn du unsere Liste von alleine erweiterst.“
„Und was gibt es zu essen?“
„Kalbshaxe mit provencalischem Gemüse und Rosmarinkartöffelchen.“
„Kartöffelchen im silbernen Pantöffelchen auf güldenen Tellerchen“, machte Janine sich lustig. „Und was ist das – Kalbshaxe?“
„Das ist das Bein einer jungen Kuh, das heißt, nur der vordere oder der hintere Teil, ein ganzes Bein wäre ja viel zu lang und würde nicht in den Backofen passen.“
„Die arme Kuh. Und der schneiden sie das Bein an? Und so was wollt ihr essen? Das esse ich nicht.“
„Was heißt arme Kuh? Die ist natürlich schon tot, wenn man ihr die Beine abschneidet. Sie merkt doch nichts mehr davon.“
„Aber vorher haben sie sie getötet.“
„Von irgendwas muss der Mensch sich doch ernähren.“
„Ich bin doch auch ein Mensch, oder?“
„Natürlich. Warum fragst du?“
„Weil ich keine Kuhbeine esse. Nie, nie, nie.“
„Das brauchst du auch nicht. Habe ich dich jemals gezwungen, etwas zu essen, was du nicht magst?“
„Und was soll ich morgen Abend essen?“
„Das provencalische Gemüse mit den Rosmarinkartoffeln.“
„Machst du die zusammen mit dem abgeschnittenen Kuhbein?“
„Natürlich, das schmeckt köstlich. Zusammen mit dem Saft vom Fleisch – ein Gedicht.“
„Dann esse ich das nicht. Und ich setze mich auch nicht zu euch an den Tisch. Dann sehe ich das abgeschnittene Bein und muss immer an die arme Mutter denken, der sie ihr Junges weggenommen und getötet haben.“
„Wie du willst. Ich werde dir eine vegetarische Pizza mit Pilzen, Tomaten und Käse kaufen, die kannst du dann auf deinem Zimmer essen. Aber was sag ich dem Besuch, wenn er fragt, wo du bist? Alle wissen doch, dass ich eine Tochter habe.“
„Du kannst doch sagen: Deine Tochter hält sich ganz brav an deine Regeln. Punkt sieben: Nicht nach acht schlafen gehen.“ Und nach einer Pause: „Ich habe sogar schon ein achtes N.“
„Da bin ich aber gespannt. Und das wäre?“
„Nie wieder Fleisch."
19 – 04 – 2012
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2017.
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