Diethelm Reiner Kaminski

Alt oder neu?

„Warum ist unser Auto eigentlich noch nie geklaut worden?“, fragte Janine unvermittelt. Beim Stichwort ‚Auto geklaut‘ stürzte Janines Vater zum Fenster, zog hastig die Gardine beiseite, spähte hinaus und rief erleichtert: „Gottseidank, ich dachte schon. Ohne Auto wäre ich aufgeschmissen.“

„Und warum klaut es keiner?“, blieb Janine hartnäckig. „Taugt es nichts? Möchte es keiner haben?“

„Rede bloß nicht das Unglück herbei. So mancher wäre froh, wenn er ein Auto wie unseres hätte, aber es gibt natürlich neuere und schönere. Trotzdem wünsche ich mir nicht, dass unser Auto geklaut wird.“

„Und wenn doch?“

„Ein neues können wir uns zurzeit nicht leisten, dann müssten wir den Bus nehmen oder zu Fuß laufen. Möchtest du das? Aber warum fragst du überhaupt?“

„Mirko sagt, unser Auto ist so alt und klapperig, dass es niemand klauen würde.“

„Ich möchte mal wissen, was diesen Mirko unser Auto angeht. Haben seine Eltern denn ein besseres?“

„Haben sie. Ein ganz tolles neues. Einen Mercedes. Deswegen haben sie ihn ja auch geklaut“, plauderte Janine, sichtlich beeindruckt von Mirko und dessen reichen Eltern.

„Dann solltest du lieber sagen: ‚hatten‘, denn jetzt ist die Karre ja weg.“

„War weg“, berichtigte Janine.

„Das verstehe ich nicht. Erst sagst du, der Wagen wurde geklaut, jetzt ist er plötzlich wieder da. Haben sie sich etwas gleich einen neuen Mercedes gekauft? Wer´s hat, der hat´s. Da können wir leider nicht mithalten.“

„Sie haben den alten zurückgekriegt. Die Polizei hat die Autodiebe geschnappt.“

„Na klar, bei den Reichen gibt die sich ja auch besonders Mühe, um unsere verbeulte Kiste hätten sie sich einen feuchten Dreck gekümmert. Aber ich mag mein Auto trotzdem. Er ist wie ein treuer Freund. Ich würde es sehr vermissen, wenn es weg wäre.“

„Ich nicht“, sagte Janine, „ich finde leicht neue Freunde. Ohne Beulen.“

„Du musst es ja auch nicht bezahlen. Besser ein altes verbeultes Auto, das uns niemand klaut, als ein teurer Mercedes, den man keine Sekunde aus den Augen lassen kann.“

Janines Vater schaute auf die Uhr und fluchte: „Wir haben uns schon wieder verquatscht. Höchste Zeit. Ich muss los. Vergiss nicht, die Tür abzuschließen, wenn du die Wohnung verlässt.“

Er griff nach seiner Aktentasche und eilte hinaus. Es dauerte keine drei Minuten, da stürmte er ganz aufgelöst in die Wohnung: „Verdammte Schweinerei. Mein Auto ist weg. Spurlos verschwunden. Und vorhin war es doch noch da. Wer macht so etwas? Was mache ich jetzt bloß?“

Janine strahlte. Jetzt hatte sie etwas in der Schule zu erzählen. Und niemand würde mehr glauben , dass die Autodiebe kein Interesse an ihrem Wagen hätten. Das Alter und die Beulen und Schrammen müsste sie allerdings verschweigen. Ja, sie könnte sogar sagen, sie hätten sich gerade einen Mercedes angeschafft. Einen silbernen. Das neueste Modell. Kaum gekauft, schon geklaut, so ein Mist.

Es klingelte an der Wohnungstür. Janines Vater, im Begriff, die Polizei anzurufen, öffnete. Ein Polizist und ein Nachbar standen vor der Tür und lachten Vater fröhlich entgegen.

„Wahrscheinlich haben Sie den Diebstahl Ihres Autos noch gar nicht bemerkt. Dass es wieder da ist, haben Sie der Aufmerksamkeit Herrn Mischkats zu verdanken. Er hat den Diebstahl beobachtet und uns sofort alarmiert. Weit ist der Autoknacker nicht gekommen, weil Ihre alte Mühle schon ziemlich schwach auf der Brust ist. Offenbar ein blutiger Anfänger. Dummheit muss bestraft werden.“

Janine zog eine Flunsch. Nun, da sie ihr Auto so schnell wieder zurück hatten, war ihre Geschichte nur noch halb so viel wert. Aber sie konnte ja etwas hinzuerfinden, z. B. dass auf dem Rücksitz eine Tasche mit sehr viel Geld gelegen hatte, das ihr Vater gerade zu einem Autohaus bringen wollte. Die Anzahlung für einen nagelneuen Mercedes.

Was aber, wenn Mirko später fragen würde: „Ihr fahrt ja immer noch in eurer verbeulten Klapperkiste. Was ist denn aus eurem Mercedes geworden?“

Janine verdrängte den Gedanken. Bis dahin war noch viel Zeit. Ihr würde schon eine Ausrede einfallen. Und vielleicht würde Mirko ja auch gar nicht fragen.

30.04.2012

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Leben mit Kindern" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Lachen lernen von Diethelm Reiner Kaminski (Science-Fiction)
Glück macht reich von Karin Ernst (Leben mit Kindern)
Auszug aus "Befreiungs-Schläge" von Elke Lüder (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen