Diethelm Reiner Kaminski

Ein Mauseleben

In dem kleinen Ort Winsel an der Knute lebte einmal eine Hausmaus. Sie hieß Molly. „Lebte“ ist übertrieben. Besser sollte ich sagen: Sie war noch am Leben, denn eigentlich hatte sie jede Lust zu leben verloren, und auch von einem fröhlichen Mauseleben mit opulenten Speck- und Käseorgien konnte keine Rede sein, obschon in dem Haushalt, in dem die Mausesippe seit Generationen wohnte, kein Mangel herrschte. Der Name Molly‘ ging völlig an der Wirklichkeit vorbei, denn Molly war alles andere als mollig, sondern so dünn und ausgemergelt, dass man unter ihrem grauen Fell die Rippen hätte zählen können, denn die anderen Mäuse fraßen ihr fast alles weg und ließen ihr nur kümmerliche Reste.

Molly war hochgradig traumatisiert, war sie doch in ihrer Jugend, sofern man überhaupt von einer Jugend sprechen konnte, von ihren strengen Eltern so oft geprügelt und gebissen worden, dass sie jedes Selbstbewusstsein eingebüßt hatte.

Molly hätte weglaufen können, denn sie wurde ja nicht eingesperrt, aber wohin mit einem ihr von ihrem eigenen Vater gebrochenen und schlecht verheilten Fuß? Und was erwartete sie draußen in der Fremde, die ihr ihre Familie ständig in den schrecklichsten Farben ausmalte?

Schlangen würden sie verschlingen, Habichte vom Himmel herabschießen und sie entführen, Ratten sie angreifen und in Stücke reißen. Nur in der fürsorglichen Obhut ihrer Eltern habe sie Aussicht zu überleben.

Molly hatte weder jemals eine Schlange noch eine Ratte und schon gar nicht einen Habicht gesehen. Aber diese Unkenntnis vergrößerte nur noch ihre Ängste und die vorgestellten Gefahren ins Unermessliche.

Es konnte nicht ausbleiben, dass der armen Molly eines Tage ohne ihr eigenes Zutun ihre durch den kranken Fuß bedingte Langsamkeit zum Verhängnis wurde.

Die Mausesippe tat es sich gerade an den Frühstücksresten der Hausbewohner gütlich, als die Putzfrau unerwartet die Küche betrat. Mollys Eltern und Geschwister brachten sich blitzschnell in ihre Mauselöcher in Sicherheit. Nur Molly blieb wie gelähmt auf dem Küchentisch sitzen. Die Putzfrau stieß einen Schrei des Entsetzens aus, schlug hektisch mit dem Putzlappen auf Molly ein und schubste die Benommene voller Abscheu vom Tisch auf den gefliesten Boden.

Die ohnehin geschwächte Molly war unfähig fortzulaufen. Sie war dem Hass der Putzfrau hilflos ausgeliefert. Diese beförderte sie mithilfe eines Handfegers auf eine Kehrichtschaufel, eilte zur Haustür, öffnete sie und schleuderte Molly in hohem Bogen in den Vorgarten, wo sie zwischen blühenden Phlox- und Hortensienstauden landete.

Es dauerte eine Weile, bis Molly sich von dem Schock der Ausweisung aus dem Haus und der Trennung von ihrer Sippe erholt hatte. Da hörte sie eine leise Stimme: „Bist du neu hier? Dich habe ich hier noch nie gesehen.“

Ein Regenwurm, den der dröhnende Aufprall Mollys auf den Gartenboden an die Oberfläche gelockt hatte, wollte die Ursache des plötzlichen Lärms ergründen.

„Bist du eine Schlange?“, fragte Molly verängstigt. „Wirst du mich jetzt fressen?“

„Wie das wohl gehen soll“, lachte der Regenwurm. „Ich hoffe eher, dass du mir nichts tust. Du hast Zähne, nicht ich.“

„Ich tue keinem was“, fiepte Molly, „ich bin verloren, denn ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe dort drüben in dem großen Haus gelebt, aber sie haben mich rausgeworfen. Was soll jetzt aus mir werden? Ratten werden mich beißen, Habichte mich entführen.“

„Ratten?“, fragte der Regenwurm. „Hier gibt es keine Ratten, und einen Habicht habe ich auch noch nie gesehen. Wer hat dir denn solche Märchen aufgetischt? Hier im Garten kannst du prima leben. Das hier ist für Nager wie du einer bist ein Schlaraffenland. Nüsse, Beeren, Wurzeln, Samen … Ich hoffe doch, du bist Vegetarierin und keine Fleischfresserin. Nicht dass du auf die Idee kommst, mich und meine Geschwister zu verspeisen.“

„Ich habe noch nie Fleisch gefressen“, beteuerte Molly, „höchstens Käse und …“ ‚Speck‘ wollte sie sagen, verkniff es sich aber, um den freundlichen Regenwurm nicht unnötig zu ängstigen.“

„Und was?“, fragte der Regenwurm.

„Kuchen. Käse und Kuchen, besonders gerne Käsekuchen, falls du den kennst.“

„Kenne ich nicht“, sagte der Regenwurm, „ich möchte auch gar nicht wissen, was die Menschen in dem Haus da alles für komisches Zeug fressen.“

„Und wo soll ich schlafen?“, fragte Molly.

„Na, wo wohl? Im Laub. Mach dir ein warmes Nest. Unter freiem Himmel schläfst du doppelt sie gut wie in der dunklen Steinhöhle der Menschen. Also dann auf gute Nachbarschaft. Bis später. Ich muss jetzt weitergraben.“

So eine freundliche Ansprache hatte Molly noch nie erlebt. Das gab ihr Auftrieb und neuen Lebensmut. Nachdem sie es sich in einem Haufen trockener Blätter eingerichtet hatte, schlief sie lange und tief. Nach dem Aufwachen frühstückte sie mit großem Appetit. Der Tisch der Natur war reicht gedeckt: Beeren, Haselnüsse, Bucheckern, Birnen.

„Hier bleibe ich“, dachte Molly. „Hätte ich geahnt, wie schön es in der Freiheit ist, wäre ich viel früher abgehauen.“ Vor Freude tanzte sie trotz ihres kranken Fußes ausgelassen auf dem Rasenstreifen zwischen zwei Blumenbeeten.

Es war ihr erster und gleichzeitig letzter Tanz. Denn pfeilschnell stieß ein Habicht vom Himmel hernieder, packte Molly mit seinen messerscharfen Krallen, flog mit ihr in sein Nest, das sich im Gipfel einer Föhre am Waldrand befand, und verfütterte Molly Stück für Stück an seine hungrige Brut.

17.07.2012

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