Wir kamen auf dem Weihnachtsmarkt an einem Getränkestand miteinander ins Gespräch. „Ist Ihnen denn gar nicht kalt?“, fragte ich die Frau, die Cola mit einem Strohhalm aus der Flasche trank. Die Cola war so kalt, dass sich auf dem Boden Eisschlieren gebildet hatten.
„Nö“, sagte sie, „Kälte bin ich gewohnt. Die muss ich aushalten können in meinem Beruf.“
„Sind sie Eiskunstläuferin?“, riet ich ins Blaue hinein und stellte mir die Frau in Glitzerjäckchen und –röckchen vor. Wie sie mit langen nackten Beinen auf der Eisfläche herumkurvte und Pirouetten drehte.
„Das wäre mir zu langweilig“, sagte sie, „nein, ganz falsch, ich bin so eine Art Tierbändigerin.“
Also eine Zirkusprinzessin, dachte ich, traute mich aber nicht nach Einzelheiten zu fragen. „Und Sie? Wenn sie sich schon bei einer Temperatur von zehn Grad mit Glühwein einheizen müssen, haben Sie vermutlich einen Bürojob. Stimmt´s?“
„Robbenfänger“, sagte ich lässig, um mithalten zu können und um die Vermutung der Frau nicht bestätigen zu müssen.
„So? Und wie viele von den armen Tieren erschlagen Sie pro Jahr?“
„Ich erschlage sie nicht. Jedenfalls nicht gleich. Ich harpuniere sie. Kurz und schmerzlos. Kaum ist das Betäubungsmittel mit der Spitze der Harpune in den Körper eingedrungen, schlafen sie auch schon.“
„Und anschließend schlagen Sie sie dann tot“, entsetzte sich die Frau.
„Irgendwie müssen sie getötet werden, aber sie merken nichts mehr, das können Sie mir glauben.
„Was für ein schrecklicher Beruf“, sagte die Frau. „Und jetzt versaufen Sie das Blutgeld.“
„Sie haben eine falsche Vorstellung“, spann ich meinen erfundenen Beruf weiter aus. „Damit die Robbenbestände nicht überhand nehmen, müssen sie ausgelichtet werden. Bei Rehen, Hirschen und Hasen ist das nicht anders.“
„Aber die haben kein so wertvolles Fell“, sagte die Frau, „geben Sie´s doch wenigstens zu. Sie machen das nur wegen der Felle. Grausam. Dass sich Menschen für so etwas hergeben. Und das dann auch noch moralisch verbrämen.“
Ich hätte mir doch einen anderen Beruf ausdenken sollen, statt mir leichtfertig ihre Verachtung einzuhandeln. Sie ließ die halb ausgetrunkene Cola-Flasche stehen, wandte sich brüsk und grußlos ab und tauchte im Gedränge unter.
*
Am ersten sonnigen Wochenende im April kam meine Frau unvermittelt auf die Idee, unserem städtischen Zoo doch mal wieder einen Besuch abzustatten.
„Da waren wir schon seit Jahren nicht mehr. Jetzt im Frühjahr ist es da noch nicht so voll. Und die Sonne lockt viele Tiere aus den Gehegen und Käfigen.“
Und da sah ich meine Tierbändigerin vom Weihnachtsmarkt wieder. Sie fütterte im Arktisbereich Pinguine, Robben und Seelöwen mit frischen Fischen aus einem Eimer. Sie schien sehr vertraut mit den Tieren zu sein, denn einige machten alle möglichen Kunststücke, um sich bei ihrer Tierpflegerin für das schmackhafte Mittagsmahl zu bedanken. Vielleicht war´s auch pure Bettelei. So genau kenne ich mit Tieren nicht aus.
Ich hielt, kaum dass ich die Tierbändigerin erkannt hatte, Abstand zu meiner Frau, denn sie trug – so warm waren die Apriltage noch nicht – einen Wintermantel aus echtem Robbenfell. Es wäre mir mehr als peinlich gewesen, hätte mich die Tierpflegerin in Begleitung einer vermeintlichen Robbenmörderin gesehen. Aber sie bemerkte mich nicht, so beschäftigt war sie mit ihren Tieren, hätte mich wohl auch gar nicht wiedererkannt. Was wohl auch das Beste war nach dem schlechten Eindruck, den ich bei ihr hinterlassen hatte.
„Hast du denn gar nicht gemerkt“, sagte ich später vorwurfsvoll zu meiner Frau, „wie giftig dich die Leute im Zoo in deinem Robbenpelz angeguckt haben? Du solltest ihn einmotten oder in die Altkleidersammlung geben. Mit dem Mantel machst du dich nur unbeliebt.“
„Den Teufel werde ich tun“, protestierte sie. „In dem Mantel haben wir uns kennengelernt. Damals fandst du mich darin unwiderstehlich. Es war der Mantel, der uns zusammengebracht hat. Woher dieser plötzliche Sinneswandel?“
04.12.2010
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.05.2017.
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