Manfred Bieschke-Behm

Zeitreise - Brief an mein Neunzehnjähriges ICH


Lieber Manfred,

Vor ein paar Wochen hast du dein neunzehntes Lebensjahr beendet und beschließt auf Spurensuche zu geben. Du willst unbedingt deinen leiblichen Vater kennenlernen, von dem du nur sehr wenig weißt. Das, was die Großeltern und ein Onkel vom ihm erzählt haben, reicht nicht aus, um dir ein Gesamtbild zu machen. Unsere Mutter, die helfen könnte Wissenslücken zu schließen, ist dazu nicht bereit.

Blickst du auf deine neunzehn Jahre zurück, so musst du feststellen, dass dir Anerkennung und Liebe seitens deines Stiefvaters nie vergönnt war. In seinen Augen störst du und machst die Familie unglücklich. Mit deiner Reise zum leiblichen Vater nach Köln hoffst du, das zu bekommen, was du schmerzhaft vermisst hast. Ich weiß, wie du dich gerade fühlst. Es ist nicht einfach auf Anordnung des Stiefvaters das Elternhaus für immer verlassen zu müssen, seitens der Mutter keine Unterstützung zu erfahren und sich von der jüngeren Halbschwester nicht verabschieden zu können. Gut, dass du Leute kennst, die dich auffangen bei denen du zur Ruhe kommen kannst. Klar dass du das Bedürfnis hast, den Menschen aufzuspüren, der dich gezeugt hat. Von ihm erhoffst du, dass er sich freuen wird wenn er seinem Sohn gegenübersteht. Du träumst davon von ihm in den Arm genommen zu werden und hoffst von ihm das zu bekommen, was du in Berlin neunzehn Jahre nicht bekommen hast: Vaterliebe.

Ich, heute über fünfzig Jahre älter als du, sitze nachdenklich in jenem Warteraum, in dem du gerade sitzt. Beide warten wir auf den Zug, der uns nach Köln fahren wird. Ich nutze die Wartezeit und schreibe dir diesen Brief. Du dagegen bist voller Unruhe. Du weißt nicht, was dich erwartet. Du malst dir aus, wie es sein wird wenn du erstmalig deinem Vater gegenüberstehst. Werden Tränen fließen? Was werden die ersten Worte sein die gewechselt werden? Du fragst dich, ob du „Vati“ zu ihm sagst oder „Vater“. Für dich ist es eine Reise in das Ungewisse, für mich ist es eine Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig Zukunft. An jenem denkwürdigen Tag weißt du nicht, dass du Menschen kennenlernen wirst, die dich lange beschäftigen werden. Du wirst vieles und gleichzeitig zu wenig erfahren um sagen zu können, alle Fragen sind beantwortet, alle Fragezeichen im Kopf gelöscht. Dich wird bei der Rückkehr nach Berlin die Frage beschäftigen, ob es richtig war auf Spurensuche zu gehen und du wirst dir die Antwort geben: „Ja es war richtig und wichtig.“ Dein leiblicher Vater wird sich nicht so geben, wie du es dir als Sohn gewünscht hast. Er wird dich genauso wie dein Stiefvater ablehnen. Der Schmerz darüber wird dich noch über viele Jahre begleiten. Erschrocken wirst du über eine Aussage deines dir bisher unbekannten Halbbruders sein. Peter wird dir erzählen, dass auch er vom Vater abgelehnt wird und dass er sich wünscht, er wäre tot. Beide werdet ihr feststellen, dass ihr eure Väter hasst, euch selbst nicht lieben könnt und beide eure Leben verflucht. Gemeinsamkeiten schweißen dich und deinen Bruder zusammen. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, wird dir dein Bruder sagen und du wirst fragen: „Lässt sich Leid teilen?“ Er wird sagen: „ich glaube nicht.“

Dein Halbbruder wird dich mehrmals in Berlin besuchen und beide werdet ihr feststellen, dass es schön ist, sich zu haben. Ein paar Mal werdet ihr euch noch sehen und dann aus den Augen verlieren.

Nach über dreißig Jahren gibt es ein Wiedersehen in Berlin. Du erfährst, dass euer Vater vor vielen Jahren gestorben ist und wirst feststellen müssen, dass eure Vergangenheit euch krankgemacht hat und dass es keine gemeinsame Zukunft geben wird. Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit dieser Tatsache klarzukommen und zu begreifen, dass es zwischen einem Wollen und einem Sein unüberwindbare Hindernisse gibt.

Ich könnte mir vorstellen, dass du, wenn du das bis hierher Aufgeschriebene gelesen hast, Angst vor dem Leben bekommst. Ich kann dich trösten. Es gibt keinen Grund Angst zu haben. Dein Leben, das verspreche ich dir, hält viele Überraschungen für dich bereit. Du wirst die halbe Welt bereisen und was noch viel wichtiger ist. Du wirst einen Menschen kennenlernen, der dir gut tut. Du wirst lernen zu verzeihen und dass es möglich ist, mit sich im Einklang zu leben. Dein Leben wird bunt sein wie ein Strauß frisch gepflückter Sommerblumen. Verwelkte Blumen wirst du entfernen und durch frische ersetzen und dein Kontakt mit Köln wird nie ganz abbrechen.

Ich schau auf meine Uhr und stelle fest, dass die Wartezeit sehr schnell vergangen ist. Wenn der Zug pünktlich ist, fährt er in gut 10 Minuten in den Bahnhof ein und mit ihm fahre ich zu meinen Neffen und meiner Schwägerin.

Lass mich die verbleibenden Minuten dafür nutzen dir abschließend zu schreiben, was ich gelernt habe: Ein Lebensreiszug hat viele Stationen. Hier und da wird ausgestiegen, wird verweilt, manchmal umgestiegen, wieder eingestiegen und weitergefahren. Egal, ob mit Volldampf oder abgebremst, der Lebenszug fährt immer vorwärts. Und weil ich weiß, dass du eines Tages sagen wirst: „Schrittzuhalten war oft nicht einfach, aber das Weiterfahren hat sich gelohnt “, rufe ich dir zum Schluss zu: „Du gibst die Hoffnung niemals auf. Ich bin stolz auf dich!

Dein ICH

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