Klaus-D. Heid

Sünde

Als ich Vierzehn war, erwischte mich meine Mutter beim Onanieren. Zuerst hielt sie mir eine Strafpredigt über die Gefahren der Masturbation – und dann durfte ich in einer Woche Hausarrest darüber nachdenken, weshalb unreine Gedanken Sünde waren. Weil sie diese ‚schwere Last’ nicht alleine tragen wollte, erzählte sie natürlich meinem Stiefvater von meiner grässlichen Tat. Wie es nicht anders zu erwarten war, flüchtete sich daraufhin mein Stiefvater in das, was er immer tat, wenn er nicht wusste, was er tun sollte. Er schlug mich solange windelweich, bis ich ihn anbettelte, mich endlich in Ruhe zu lassen. Meistens hielt ich es länger als fünf Minuten aus, bevor ich mit dem Betteln anfing – aber dieses Mal hatte ich Zahnschmerzen und war weniger schmerzresistent, als üblicherweise. Strafend sah er mich an, bevor er ebenfalls zur kurzen Verdammnispredigt ansetzte:

„Du weißt, dass Du nur mit reinen Gedanken das Himmelreich ererben kannst? Sag schon, dass du das weißt, sonst muss ich Dir gleich die nächste Tracht Prügel verpassen, Junge!“

Ja. Ja. Ich sagte es. Ich hätte alles gesagt, um endlich meine Ruhe zu haben. Am Liebsten hätte ich ihm allerdings gesagt, dass er ein verklemmter, alter und ekelhafter Dreckskerl war, der offenbar spaß daran hatte, Kinder zu verprügeln! Noch lieber hätte ich ihm meine Faust ins Gesicht geschleudert, wenn er nicht bedauerlicherweise viel größer und viel stärker als ich gewesen wäre. Folglich beschränkte ich mich auf ein ehrfürchtiges Nicken, sagte artig Ja und Amen – und schlich wie ein geprügelter Hund in mein Zimmer.

Als ich sechs Jahre alt war, ist mein Vater gestorben. Ich erinnere mich eigentlich kaum an ihn. Meine Mutter hat mir nun ab und zu erzählt, dass er ständig besoffen war und sie dann geschlagen hat. Mag ja sein, dass er so war, aber an Schläge, die ich von ihm einstecken musste, erinnere ich mich nicht!

Zwei Jahre nach seinem Tod lernte meine Mutter dann meinen jetzigen Stiefvater kennen. Mit ihm lernte sie auch die seltsamen Gebote seiner Religion kennen. So wie ich das sah, beschränkte sich diese Religion auf Verprügeln und unsinnige Verbote. Seit er bei uns wohnte, marschierte meine Mutter brav hinter ihm her, wenn er seinen wöchentlichen Kirchenbesuchen nachging. Selbstverständlich achtete sie streng darauf, dass auch ich in den Kreis der erleuchteten aufgenommen wurde. Jeden Sonntag, von 09.00 Uhr bis 11.00 Uhr hämmerte irgendein Kanzelkasper seine donnernden Worte auf uns ein. Jedes zehnte seiner Worte hieß Sünde. Jedes neunte Wort lautete ‚Sünder’ und jedes achte Wort klang wie ‚Strafe’ oder ‚bestrafen’.

So einfach war also der Wegweiser meines Stiefvaters und seiner Frau. Sünder werden bestraft. Basta! Je schlimmer die Sünde, desto härter musste die Strafe ausfallen. Am besten war es, wenn man ein bisschen zuviel bestrafte, denn zuwenig Strafe wäre ja schon wieder ein Sünde gewesen. Dass zuviel Strafe auch eine Sünde war, davon hörte ich nie etwas.

Erstaunlich, wie schnell sich meine Mutter dem Treiben ihres neuen Mannes angepasst hatte. So, wie es aussah, hatte sie endlich einen Mann gefunden, der zwar strohdoof, aber steinhart war. Vielleicht brauchte sie es ja. Vielleicht hatte sie nach dem Tod meines Vaters eine regelrechte Sehnsucht nach Härte und Kraft entwickelt? Endlich hatte sie eine starke Schulter, an der sie sich zwar nicht ausweinen konnte, aber die sich breit und massig vor sie stellte, wenn ihr verzogener Bengel eine Jachtreise bezog.

Man kann sagen, dass ich mindestens dreimal die Woche eine körperliche Lektion erhielt. Irgendeinen Vorwand gab es immer, um mich zu lehren, was es hieß, ein Sünder zu sein. Mal hatte ich versehentlich ‚Scheiße’ gesagt; mal kam ich zu spät zum Mittagessen und zum Mittagsgebet; mal schien die Sonne nicht, und einer wie ich musste natürlich daran schuld sein...

Ich dachte ab und zu daran, was wohl aus meinem Stiefvater geworden wäre, wenn er nicht in dieser zeit, sondern im dunkelsten Mittelalter gelebt hätte. Wäre er ein Inquisitor? Hätte es ihm Freude bereitet, unschuldige Frauen vor dem verbrennen auf dem Scheiterhaufen noch einwenig zu quälen? Was wären wohl seine Lieblingsspielzeuge gewesen? Daumenschrauben? Eiserne Jungfrauen? Glühende Eisenstangen?

Im Namen seines allgegenwärtigen Herren hätte er garantiert wahre Blutorgien angerichtet, um auch ja zu den Eifrigsten seiner Berufsgruppe zu gehören. Damals hatte Folterknechte Hochkonjunktur. Heute beschränkte sich sein Eifer lediglich auf einen kleinen Jungen, dessen sündiges Leben eben herhalten musste, um ihm etwas Folterspaß zu gönnen.

Meine Mutter hatte nicht die Kraft und wohl auch nicht den Willen, einzuschreiten. Im Gegenteil. Sie war wahrscheinlich froh, dass ich endlich eine feste Hand zu spüren bekam. Ab und zu sah ich ein paar verlorene Tränen in ihren Augen, wenn ich gerade meine Prügel einsteckte. Ab und zu dachte ich schon, dass sie vielleicht wenigstens einen Ansatz von Wiederspruch erheben würde.

Nichts da. Im Namen des Herrn tummelten sich blaue, gelbe und grüne Flecken auf meiner Haut. Niedliche Blutergüsse zierten meinen jugendlichen Körper. Neckische Striemen vom Ledergürtel meines Stiefvaters bildeten ein drolliges Muster auf meinem Rücken.

Vor drei Monaten ist mein Stiefvater tödlich verunglückt. Meine Mutter saß auch in dem Wagen, der frontal mit einem Lastwagen zusammenstieß. Beide waren auf der Stelle tot. Als ich erfuhr, was geschehen war, schoss mir zuerst ein verrückter Gedanke durch den Kopf. Ich überlegte, ob es wohl doch so etwas wie verdiente Strafe für Sünder gab. Ich verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, weil mein Stiefvater sofort tot war. er musste nicht leiden. Nicht leiden, wie ich es musste.

Meine Großeltern haben mich aufgenommen. Sie mochten den neuen Mann ihrer Tochter nie. Sie erzählten mir endlich alles über meinen Vater.

Bei der Beerdigung meiner Mutter und meines Stiefvaters vergoss ich keine Träne. Ich konnte nicht weinen. Vielleicht waren einfach keine Tränen mehr da? Meine Großeltern verstanden mich. Sie nahmen mich in den Arm und begriffen, dass ich etwas erlebt hatte, was kein Junge oder Mädchen jemals erleben sollte.

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