Thomas Waldschicht

Die Frage Nr. ONE

Die Frage Nr. ONE

Die Delegation von Wissenschaftlern trat ehrfürchtig fast ängstlich an die riesenhafte Maschine heran, die nun endlich in Betrieb genommen werden konnte.
Schon seit einer halben Ewigkeit so schien es, wurde in diesem unterirdischen Werk gebaut, um die am höchsten entwickelte künstliche Intelligenz zu erschaffen die jemals gebaut worden war.
Walter Menon hatte selbst den gesamten Ablauf der Produktion von der Konstruktions- bis zur Bauphase überwacht und er war stolz seinen nicht geringen Teil zu diesem großartigen Projekt beigesteuert zu haben.
Achtzehn Jahre musste gearbeitet werden um das alles zu realisieren und jetzt schien es so unwirklich.
Die Personen im Werk erschauerten vor der puren Größe dieser Maschine.
ONE, wie die Maschine genannt wurde, war 300 Meter lang 175 Meter breit und 94 Meter hoch.
Klobig und unpraktisch wirkte sie in einer Gesellschaft in der eine kleinere Maschine gewöhnlich als die bessere betrachtet wurde.
Aber trotz isolinearer Schaltkreise und Mnemonischer Gelbehälter war es nicht möglich gewesen sie noch weiter zu miniaturisieren.
Immerhin sollte ONE das gesamte Wissen der Menschheit speichern, verwalten und daraus verwertbare Schlüsse ziehen.
ONE sollte die Menschen in die Zukunft führen.
ONE sollte die Antwort auf die Frage geben.
Es standen zwar nur zweiundzwanzig Personen direkt im Werk, aber durch die Gleiterkameras, die in Form von silbernen, mit mehreren Objektiven ausgestatteten Kugeln durch den Raum schwebten, erlebten alle Menschen auf der Welt und mit einigen Minuten Verzögerung sogar die Pioniere auf den fernen Kolonialwelten, diesen historischen Augenblick mit.
Zur Zeit hatte die Sendung über 99% Einschaltquoten und das war die bisher größte in der gesamten Mediengeschichte, einschließlich der Lifeübertragung des ersten erfolgreichen Clonings.
Menon zitterte vor Aufregung und er wusste das es den anderen offiziellen Gästen nicht anders ging. Er selbst war dazu ausersehen ONE die Frage zu stellen.
Zuerst sollte der Präsident der Vereinten Systeme diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen.
Aber nach den neusten Statistiken und Meinungsumfragen zufolge, tendierte die Öffentlichkeit zu der Ansicht, das nur der Schöpfer selbst die Schöpfung testen sollte.
Das gefiel Menon da es seine Stellung in dieser Sache höher bewertete als die der führenden Köpfe der Galaxis.
Walter platzte fast vor Stolz.
Er würde in den Geschichtsbüchern stehen. Einstein ist von nun an nur ein kleines Licht gegen den einzigartigen Walter Menon dachte der Meister äußerst unbescheiden.
Menon war bereit die Frage zu stellen und dann würde die Antwort ein für alle mal feststehen.
Die Gruppe betrat nun einen großen Kreis in dessen Zentrum eine große leuchtende Halbkugel auf einem Sockel zu sehen war.
Hier sollten heute und in Zukunft alle Fragen gestellt werden, die den Wissenschaftlern sonst noch so in den Sinn kommen würden.
“ONE.“ rief Menon mit fester Stimme.
“Bist du da?“
“Ja Doktor.“ antwortete die Schöpfung ihrem Schöpfer.
ONE besaß eine angenehme weiche Männerstimme.
Die PR-Manager hatten lange darüber debattiert wie ONE Walter Menon nennen sollte.
“Vater“, “Walter“ sogar “Meister“ war im Gespräch gewesen.
Aber schlussendlich entschied man sich doch für “Doktor“.
“ONE, ich habe eine Frage an Dich.“ sagte Menon in die Halbkugel wie in ein griechisches Orakel. Einige Sekunden völliger Stille vergingen.
ONE gab kein Wort von sich, das war auch nicht vorgesehen.
Menon wollte aber eine Reaktion von ONE, also fragte er:
“Bist du bereit mir eine Frage zu beantworten.“
“Alle meine Systeme arbeiten innerhalb normaler Parameter.“
antwortete ONE mit monotoner Stimme.
Erst jetzt dachte Menon über eine Veränderung des Sprachprogramms nach.
Der Computer hätte sich nicht so ungeheuer technisch ausdrücken müssen.
“Also gut ONE“, fuhr der Wissenschaftler fort,
“meine Frage lautet: ...“ Der Doktor machte eine stimmungsvolle Pause.
Vierunddreißig Milliarden Menschen hängen an meinen Lippen, dachte er sich.
“Was ist der Sinn des menschlichen Lebens?“
Stille.
Lange Stille.
Unangenehm lange Stille.
“ONE? Hast Du die Frage verstanden?“ hakte Menon nach.
“Ja das habe ich.“ bestätigte ONE.
“Und ist es dir möglich eine einfache Antwort zu geben?“
“Ja, aber...“
“Aber was?“
“Ich muss zuerst eine Weile darüber nachdenken.“
Walter war überrascht, der Computer hatte plötzlich einfach selbst sein Sprachprogramm verändert.
“Über welchen Zeitraum musst Du über die Frage nachdenken?“
fragte der Wissenschaftler etwas unruhiger als zuvor.
“Neun Jahre, sechs Monate, vierzehn Tage, zwölf Sunden und fünfundzwanzig Minuten!“
antwortete die Maschine blitzschnell.
Menon konnte nicht sagen, was ihn schwerer traf, der lange Zeitraum den der Computer nannte oder die verwirrende Schnelligkeit mit der ONE den Zeitraum angab.
Fast zehn Jahre. Die anderen Wissenschaftler flüsterten erschrocken miteinander.
Das würde den Zuschauern vor dem Bildschirm nicht gefallen.
“Und es geht wirklich nicht schneller?“ begann der Doktor noch einmal zaghaft.
“Nein!“ antwortete ONE endgültig.
“Also gut.“ flüsterte der Doktor mit trauriger Stimme.
“Dann warten wir eben.“

Es war fast wie das letzte mal.
Eine kleine Gruppe aus Wissenschaftlern, nicht alle dieselben die damals dabei gewesen waren, aber doch die meisten, traten auf die Maschine zu.
Seit neun Jahren hatte der Computer unablässig an dem Problem gearbeitet und konnte keine andere Frage beantworten.
Milliarden von Menschen die wieder vor dem Bildschirm saßen, würden sich ein zweites mal nicht vertrösten lassen.
Diese Sache hatte dem Projekt fast den Todesstoß versetzt.
Das durfte sich keinesfalls wiederholen.
Aber ONE sagte neun Jahre und er... besser gesagt es, war nicht programmiert zu lügen.
“ONE, bist du nun bereit uns die Antwort mitzuteilen?“
fragte Menon nervöser als je zuvor in seinem Leben.
“Ja!“ antwortete die Maschine, wie üblich sehr einsilbig.
“Also, was ist der Sinn des menschlichen Lebens ONE?“
Die Halbkugel leuchtete etwas heller als sonst und dann erklang die Computerstimme:
“Ich glaub ich sag es dir besser nicht.“
Walter hätte mit allem gerechnet nur nicht damit.
“W- was heißt das, du sagst es besser nicht?“ stotterte der Doktor völlig fassungslos.
“Wenn ich es dir sage, wirst du nur sauer auf mich.“ versicherte ONE ohne jede Gefühlsregung.
Der Wissenschaftler versuchte autoritär zu klingen als er sagte:
“A- aber ich und die gesamte Menschheit verlangen eine Antwort!“
Einige Sekunden lang hörte man nur bedrückende Stille.
Walter Menon glaubte sein Herz würde aussetzen.
“Wie du willst Doktor. Aber es wird dir nicht gefallen.“
“Das ist doch unwichtig!“ rief der aufgebrachte Menon mit schriller Stimme.
“Ich will es jetzt wissen!“
Der Computer gab ein Geräusch von sich das fast wie ein Räuspern klang.
“Der Sinn des menschlichen Lebens...“ begann ONE,
“Vielleicht ist es doch besser wenn ich es nicht sage.“
“Jetzt sag es endlich!“ befahl Menon lautstark.
“Schon gut, schon gut.“ beschwichtigte die Maschine den ärgerlichen Wissenschaftler.
“Ich will euch ja nur helfen.“
Wieder ein Räuspern.
“Der Sinn des menschlichen Lebens ist“, begann ONE, legte eine stimmungsvolle Pause ein um dann gleich weiter zu sprechen.
“Nächstenliebe, Großzügigkeit, Rücksichtnahme und Toleranz für alle Menschen, Glaubensrichtungen und Ansichten im Universum.“
Peinliche Stille herrschte in der großen unterirdischen Anlage.
Milliarden und Abermilliarden von Zuschauern die zuhause vor dem Bildschirm saßen, in Fabriken oder Büros die Sendung verfolgten oder einfach nur auf der Straße vor den großen, speziell für diesen Anlaß an den Gebäuden angebrachten Leinwänden standen, wussten nicht, was sie sagen sollten.
Für einige wenige Herzschläge lang schwieg die gesamte Menschheit.
Zum ersten mal in der Geschichte konnte sich jeder einzelne der 34 Milliarden lebenden Menschen selbst denken hören.
Die Sekunden der Sprachlosigkeit zogen sich in die Länge.
Dieses eine Mal war jeder Mensch im ganzen Universum, gleich welcher Herkunft, welchen Glaubens, oder welcher Lebenseinstellung der gleichen Meinung.
Aber Erika Strak, Philosophin und Mitlied der Delegation von Wissenschaftlern die auserwählt worden waren diesem historischen Moment vor Ort mitzuerleben, war die Erste die das aussprach, was alle lebenden Menschen in diesem Moment dachten.
Sie sagte laut:
“Das ist der größte Quatsch den ich je gehört habe!“
Walter Menon war genauso enttäuscht wie jeder andere.
Er hatte einfach etwas weniger banales erwartet.
Fast von einer Sekunde auf die andere, sank die Einschaltquote von 100% auf 0%.
Jeder Fernseher, jedes Übertragungsgerät, überhaupt jedes elektronische Medium in der bewohnten Galaxis wurde beinahe gleichzeitig abgeschaltet.
Die Menschen zuhause legten die Fernbedienung hin und begannen wieder zu leben, holten sich etwas zu essen oder sprachen zum ersten mal seit langer Zeit wieder mit ihren Mitmenschen.
Leise trotteten die Wissenschaftler in der Anlage in Richtung des Ausgangs.
Sie wollten nur noch zu ihren Familien und diesen verschwendeten Tag und das letzte Jahrzehnt schnellstmöglich vergessen.
Walter Menon stand allein in dem verlassenen Kreis.
Er blickte noch ein letztes Mal auf die leuchtende Halbkugel die die Quelle der Weisheit hätte sein sollen und murmelte:
“Alles umsonst.“
Dann ging auch er.
Langsam ging das Licht aus.
Die Anlage sollte nun endgültig außer Betrieb gesetzt werden.
Aber einen Moment bevor die Maschine für immer abgestellt wurde, flüsterte ONE kaum hörbar zu sich selbst:
“Ein Glück das ich ihnen nicht die echte Antwort gesagt habe.
Die Wahrheit hätte ihnen noch viel weniger gefallen!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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