Hell beleuchtete die Sonne den herrlichen Dienstag im Frühsommer des
Jahres 1996. Selbst die riesige, gelb-grün beblätterte Trauerweide auf der
leicht ansteigenden Rasenfläche vor der Dortmunder kaufmännischen
Salman-Rushdie-Berufsschule am Emmaturm lächelte. Einige menschliche
Pechvögel, darunter leider auch ich, mussten jedoch trotz Freizeitwetters
arbeiten. Wenn man die Mittel für seinen Lebensunterhalt nicht erbt, ist man
eben darauf angewiesen, sie gegen Arbeitsleid einzutauschen. Der
vorzügliche Kaffee, den Referendarin Schönbein zwecks Beschleunigung
ihrer Karriere ohne Aufforderung routiniert gekocht und anmutig serviert hatte,
minderte es allerdings ein wenig.
Und so saßen denn ein paar Kolleginnen und Kollegen zusammen mit mir,
Studienrat Ödipus Lustig, Fächer Versicherungsmathematik und Informatik,
an dem langen Tisch im Lehrerzimmer und konferierten. Es ging darum, die
Einladungsliste für die „Tauffeier" unserer Bildungsanstalt zusammen zu
stellen. Der Name des angloindischen Großdichters und Verfassers der
„Satanischen Verse", dieser geistreichen Mohammed- und lslamveräpplung,
samt dem Zusatz „am Emmaturm" zeichnete unser Berufskolleg nämlich erst
seit dem gestrigen Montag aus, als der Dortmunder Stadtrat ihn am
Nachmittag mit Stimmenmehrheit ausgewählt hatte. Vorher trug es den eher
bürokratischen Namen KFMS Vl, übersetzt: Kaufmännische Schule
Sechs. Irgendein poetisch veranlagter Bürokrat im Schulverwaltungsamt hatte
angesichts der prosaischen Durchzählung der Dortmunder Berufsschulen vor
zwei Jahren angeregt, sie umzutaufen.
Die Schulen sollten dem Stadtrat neue Namen nennen, pädagogisch sinnvoll
und unserer demokratischen Gesellschaft und Zivilisation angemessen. Auf
diese Art erhielt unser Lehrinstitut seinen neuen Namen.
ln der Konferenz lagen sich die unterschiedlichen Fraktionen in den Haaren. Mitglieder des
konservativen Berufsschullehrerverbandes beabsichtigten die führenden
Vertreter der Industrie- und Handelskammer und sonstige Repräsentanten
der Arbeitgeber einzuladen, dazu den Superintendenten der evangelischen
und den zuständigen Weihbischof der katholischen Kirche.
Die linken Genossen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bestanden darauf,
die wichtigsten örtlichen Gewerkschafter und die Vorstände der lokalen
Arbeitslosen- und Obdachlosenverbände zur Feier zu bitten.
Grünalternative Junglehrer wollten sich Greenpeacekämpfer und
Tierversuchsgegner zur Umtaufzeremonie bitten.
Es ging so chaotisch und verbissen zu wie
während des ganzen langwierigen Prozesses der Namensfindung.
lm Moment jedoch ruhte das pädagogische Kampfgetümmel. Denn ein wenig
unterhalb der Trauerweide bot die Natur ein grausames Schauspiel, das nicht
alle Tage zu sehen ist.
Irgendwie schien das strahlende Sonnenlicht den Maulwurf hervor gelockt zu
haben, der nach tagelanger Schwerarbeit die Wiese vor dem Lehrerzimmer
mit zahlreichen schwarzen Erdhügelchen dekoriert hatte. Die Expedition in
die hell erleuchtete Oberwelt bekam ihm äußerst schlecht. Zwei Elstern
hatten ihn entdeckt und verfolgten in mörderischer Absicht das samtweiche
Grabetier. lm Zickzack, geradeaus und mittels verzweifelter Kurven und
Haken versuchte es seinen Peinigerinnen zu entwischen, vermochte aber
offensichtlich den Eingang zu seinem unterirdischen Reich nicht wieder zu
finden. Die Elstern kreischten gemein und ließen einen Hagel wilder
Schnabelhiebe auf ihn hernieder prasseln.
Die Pädagogenschar sah fasziniert der Maulwurfsjagd zu. Niemand kam auf
die Idee, ein Fenster aufzureißen, die mörderischen Vögel zu vertreiben und
so den Maulwurf zu retten. lch auch nicht, denn meine Aufmerksamkeit
schwankte zwischen dem verzweifelten Maulwurfsrennen und den
verstohlenen, geilböckigen Blicken zweier Altkollegen studiendirektörlich gehobener Dienstränge.
Diese Beiden, der Konferenzleiter Jo Auaah, Leiter der Abteilung für
Lagerarbeiter und Fachpacker, und Franz Lukas, für sämtliche
Schulcomputer verantwortlich, nutzten die Gelegenheit und nahmen intensivst
die einzigen, zudem recht ansehnlichen und jugendlichen Kolleginnen ins
Visier.
Lukas, stets jugendlich und farbenfroh gekleideter, sechzigjähriger
Fahrer eines lindgrünen BMW-Dreier-Cabrios mit sechs Zylindern, spähte
ungeniert und heiteren Sinnes in den großzügigen Ausschnitt der unlängst
dem Kollegium für das Fach Französisch zugeteilten Kollegin Nana Sommer.
Die üppige Augenfreude hatte mich vor einer Woche an meinen Sinnen
zweifeln lassen, als ich sie erstmals erblickte. Sie goss sich gerade an der
Kaffeebar etwas Treibstoff ein, nicht weiter ungewöhnlich, allerdings,
allerdings, zusätzlich langes Goldhaar, grüne Riesenaugen, und wahrhaftig,
an dieser Schule bisher nie da gewesen, Shorts, und zwar solche, die
durchaus als heißes Höschen gelten durften, und Beine, Beine! Ich verstand
das spezifische Sehverhalten des Kollegen Lukas also durchaus.
Aber jetzt, das ging doch entschieden zu weit, jetzt bezog er auch noch das zierliche
Füßchen der Auszubildenden Schönbein in seine optischen Attacken ein, das
in einem Leinenschühchen graziös auf und ab wippte.
Aber da, dies, das war nun wirklich absolut die Höhe! Der pädagogische
Rustikalmacho Jo aus der pädagogischen Tiefebene der Lagerlogistik
entblödete sich nicht, mit seinen leicht hervor quellenden Augäpfeln die
prallen hinteren Halbmonde der malerisch in eine Fensterbank drapierten
Denise anzusaugen. Sie, Oberstudienrätin und Deutschlehrerin, ging zwar
schon auf die Fünfzig zu, gehörte aber als ästhetischer und pädagogischer
Leckerbissen immer noch der Schönheitsklasse A an. Ließ sie sich in der
Hocke vor ihrem Post- und Bücherfach knapp über dem Fußboden des
Lehrerzimmers nieder, riefen die runden Bewegungen ihres Hinterteils und
ihrer Hüften regelmäßig unterdrückte Seufzer der anwesenden männlichen, ja,
sogar einiger, ganz weniger weiblicher Pädagog(lnn)en hervor.
Plötzlich füllte ein Raunen aller Konferenzmitglieder den Raum. Das
Schicksal des Maulwurfs hatte sich entschieden. Er war vom Erdboden
verschwunden, zwar an einigen Stellen des Samtpelzes etwas demoliert,
aber gerettet. Die Elstern hatten das Nachsehen und hackten aufeinander
los.
Die Konferenz ging mit viel Lärm um nichts weiter. lch nahm eine innere
Auszeit und würdigte gedanklich das Wunder der Namensgebung für die
„Salman Rushdie Schule am Emmaturm", künftig falsch, aber knapp als
„meine" bezeichnet. Beide Bauwerke, Schule und Turm, stehen dicht
nebeneinander im Dortmunder Norden am Rande eines Parks, den außer ein
paar mickrigen Bäumen, wenigen verstaubten Blumen und dreizehn
zerrupften Büschen schwer bestimmbarer Gattung zahlreiche Hundehaufen,
viele verknitterte Papierfetzen, jede Menge durchlöcherter Plastiktüten und
Berge leerer Bierdosen füllen.
Der Turm besteht aus einer riesigen, hohlen, silbrigen Metallkugel, die früher
Gas beinhaltete und gegenwärtig das Iuftige Nichts beherbergt. Sie ruht auf
zwei hohen, schlanken Betonbeinen, deren lange Füße nach außen zeigen.
Der Linke übertrifft aus irgendwelchen Gründen das stattliche Ausmaß des
Rechten um ungefähr zwei Schritte und deswegen ist das gesamte markante
lndustriedenkmal schon vor etwas längerer Zeit auf den Namen getauft
worden, den eine bekannte Möwe trägt. Ihre Verehrer werden traurig
einwenden, man verleumde das Flugtier aufs Schlimmste, dichte man ihm
asymmetrische Füße an, obendrein aus Beton. Aber die Vogelfreunde sollen
getröstet werden. Die Möwe heißt nur zufällig so wie der dicke Stahlball.
Dessen Namensgeber besaß weit innigere Beziehungen zu der ehemaligen
Kohle-, Stahl-, Bier-, Fußballmetropole und jetzigen
Versicherungs-, Universitäts-, Kultur- und Immer-Noch-Fußballstadt, als die berühmte
Nordsee- und Müllkippenseglerin.
Außerdem gehörte er nicht zu ihrem, sondern zum anderen Geschlecht,
obwohl er den weiblichen Spitznamen trug. „Emma" war in den sechziger
Jahren der populärste Spieler, ein Star, des womöglich noch volkstümlicheren
Dortmunder Fußballclubs, dessen Namen ich nicht nenne, da ihn ohnehin
jeder Mensch kennt, und ein originaler und origineller Bestandteil jener bunt
gemischten Menschenansammlung, die das Ruhrgebiet bevölkert. So sprach
der Linksaußen denn auch nicht Deutsch, sondern Ruhrgebietisch, was
bedeutete, dass er keineswegs rief: „Gib her den Ball!", wenn er ihn im Spiel begehrte, sondern: „Gipp mich die Kirsche!"
Und wenn der geniale Linksfüßler sie dann nicht schnellstens bekam, präzisierte er seinen Wunsch möglicherweise mittels einiger
zusätzlicher Worte: „Ey, gipp mich gezz sofort die Kirsche, du Aahsch!"
1966 erschoss „Emma" den FC Liverpool im Finale des Europapokals mit
einem Wundertor, verrückt und schwierig, wie es sich für einen Linksaußen
gehört, nämlich aus einem Winkel von Null Grad direkt von der Torauslinie.
Anschließend befragten „Emma" einige schlaue Reporter, die superschlau
werden wollten: „Herr „Emma“, wie haben Sie denn aus diesem unmöglichen
Winkel ins Tor treffen können?" „Hmm", antwortete der ohne schuldhaftes
Verzögern, „habbich wundabah auffn Schlappen gekricht und dann mitte linke
Klebe reingedonnat. Wah ganz einfach!" Dass nach dem glorreichen Tor
eines Fußballers, der so spielte und redete wie „Emma" jener unregelmäßig
befußte Gasbehälter „DGG 11" der Dortmunder Gasgesellschaft in
„Emmaturm" umbenannt wurde, verdross nur Sprach- und Grammatikpuristen,
leidenschaftliche Anhänger bürokratischer Ordnungssysteme und
passionierte Hindernisreiter, die wie ihre Pferde Scheuklappen tragen.
Die lnitiative zur Benennung meiner Schule dagegen, das berichte ich ohne
jegliche Eitelkeit, ging einzig und allein auf mich zurück, war ein äußerst
schwieriges Unterfangen und ihr erfolgreicher Abschluss ein Alltagswunder.
Als ich den Namensvorschlag zum ersten Mal gegenüber Kollegen äußerte,
meinte einer: „Spinnst du! Überhaupt keine Chance! Der lebt doch noch!"
„Stimmt, noch! Aber fanatische, abergläubische Totschläger haben seinen
japanischen Übersetzer bereits umgebracht und seinen italienischen Verleger
schwer verletzt. Jeder, der öffentlich mit Rushdie sympathisiert, lebt
gefährlich. Wollen wir das dulden, oder muss man solchen mörderischen
Abergläubischen nicht endlich ein paar kräftige Tritte in die ungewaschenen
Ärsche verpassen?
Wir sollten diesen vernagelten Schwachköpfen ein für
allemal ganz deutlich machen: ,Seht her, ihr heimtückischen Killer! Die
Steinzeit und das Mittelalter sind endgültig vorbei. Wir haben keine Angst vor
euch. lhr müsst mit unserer entschlossenen Gegenwehr rechnen. Und wenn
ihr die Regeln menschlichen und demokratischen Zusammenlebens nicht
akzeptiert, zwingen wir euch eben, unsere Gesetze zu achten. Wir spucken
auf euren fanatischen Aberglauben und werden eurer Religion des
Dschungels niemals die geringste Fingernagelbreite Platz einräumen.' "
Die Familienväter unter den Kollegen runzelten die Stirnen, zogen die Brauen
hoch und wackelten bedächtig mit den Köpfen. Einer meinte es gut mit mir:
„Wenn ich mich nicht täusche, bist du schon weit über fünfzig, Mann, und falls
du deine Potenzstörungen loswerden willst, fahr doch in den Ferien nach
Thailand! lm Fall Rushdie empfehle ich die größte Zurückhaltung. Stell dir mal
vor, unsere Schule wird auf den Namen dieses eitlen Profilneurotikers
getauft, geht vier Wochen später in Flammen auf oder wird in die Luft
gesprengt! Möchtest du das vielleicht? Das kann doch nicht dein Ernst sein!
Außerdem, bevor du seinen Namen verwendest, erkundige dich erst einmal,
ob der Mensch überhaupt damit einverstanden ist. Aber typisch Ödipus:
lmmer feste druff, Augen zu und durch, Ärmel aufkrempeln, anpacken und
des Gedankens Blässe wohnt bei anderen! Überleg dir das
gründlich! lch mein' es doch nur gut mit dir!"
Ein wenig ärgerlich antwortete ich meinem Kollegen, dass ich zum einen
keineswegs weit über fünfzig Jahre zähle, sondern in diesem Jahr erst
meinen dreiundfünfzigsten Geburtstag feiere. Zum anderen erwähnte ich
meine nach wie vor völlig zufrieden stellende Potenz, die jene mancher
benachteiligter Altersgenossen weit überrage, und schließlich ließ ich meinen
Gegner wissen, an seinen Ausführungen stimme nichts, aber auch ganz und
gar nichts außer meinem Vornamen Ödipus, für den ich jedoch wirklich
überhaupt nichts könne, da er mir von meinen Eltern zugefügt worden sei.
Anschließend entfernte ich mich aus dem Lehrerzimmer, ging in mich und
stellte dort fest: „Du hast gerade nicht die ganze Wahrheit gesagt. Völlig
unrecht hatte dieser alte Esel nicht. Die Methode „Mit-dem-Kopf-durch-die-
Wand“ beherrscht du wirklich perfekt. Hast du auch schon oft genug
angewandt.
Und danach immer. das Gleiche: Platzwunden, Beulen und jede
Menge Kopfschmerzen. Also, probier mal was Eleganteres ausl"
Zuerst schrieb ich an Rushdie. Da mir die Adresse unbekannt war, schickte
ich den Brief mit der Bitte um Weitergabe an seinen deutschen Verlag, Kindler
in München. lch berichtete in meinem Schreiben über das Vorhaben des
Dortmunder Stadtrates, die bürokratischen Bezeichnungen der städtischen
Berufsschulen abzuschaffen und durch aussagekräftige Namen
hervorragender Persönlichkeiten oder Namen von lokaler Bedeutung zu
ersetzen. Außerdem pries ich den angloindischen Dichter als einen der
bedeutendsten Weltschriftsteller der Gegenwart, dessen Bücher: „Scham und
Schande", „Mitternachtskinder", „Satanische Verse", „Das Lächeln des
Jaguars", „Harun und das Meer der Geschichten", „Der letzte Seufzer des
Mohren" und „Heimatländer der Phantasie" ich mit Begeisterung und
persönlichem Gewinn gelesen und jedem meiner Verwandten und Bekannten
als große Literatur empfohlen hätte.
Desweiteren hob ich hervor, welche Freude es vielen Einwohnern Dortmunds
sowie den meisten Schülern und Lehrern unserer Schule bereiten würde,
einen bedrängten und verfolgten Kämpfer für das Gute, Wahre und Schöne
durch die Benennung einer städtischen Schule mit seinem Namen zu
unterstützen.
Ich vergaß auch nicht, den positiven Einfluss des neuen
Namens auf die Erziehungsarbeit an unserer Schule zu erwähnen und
betonte, die Bezeichnung der Schule nach einem Dichter, den islamische
Fanatiker mit Mord bedrohten, käme der Setzung eines Meilensteines im
ewigen, weltweiten Kampf gegen den religiösen Wahn gleich.
Zusätzlich gab ich meiner Hoffnung auf einen ausführlichen Bericht der
internationalen Medien über die Schultaufe Ausdruck. Ich verglich das Werk
Rushdies mit dem heiligen Buch seiner mordgierigen Verfolger, dem Koran,
und teilte dem Dichter mit: „Das Maß, um welches der literarische, geistige
und moralische Wert Ihrer Bücher, ihre Botschaft der Toleranz und Vernunft,
des freien Denkens, des solidarischen Handelns, der schöpferischen
Phantasie und des humorvollen Humanismus den vernunftwidrigen,
antisemitischen, frauen- und menschenfeindlichen, humorlosen Aberglauben
Mohammeds übertrifft, entspricht meiner Meinung nach ungefähr der
Entfernung, die den Gipfel des Mount Everest vom tiefsten Abgrund des
Ozeans trennt."
Bis heute warte ich vergeblich auf Antwort. Schade! Dabei hatte ich mir die
Taufe unserer Schule im Beisein des wichtigsten Namensgebers als eine
phantastische Veranstaltung vorgestellt, einen Riesenknaller für Zeitungen,
Fernseh- und Rundfunksender in aller Welt. Welchen Fortschritt beim
Durchsetzen des Menschenrechtes auf freie Meinungsäußerung hätten wir,
Rushdie und seine Sympathisanten, erzielen können! Wann wäre das
schriftstellerische Werk Rushdies durch irgendeine Werbemaßnahme jemals
besser unterstützt worden? Und unserer Schule sänge man jetzt weltweit
Loblieder! Ich war tief enttäuscht.
Aber Rushdie dachte vielleicht, auf seine Kosten wolle irgendein
ruhmsüchtiger Provinzpädagoge bekannt werden oder der eigene Name, der
eines noch existierenden Menschen, als Schulbezeichnung, erkläre ihn zum
lebendigen Leichnam und stachle die Mordlust der Verfolger an.
Da der Dichter nicht antwortete, fehlte mir zur Verwirklichung meines Plans
der wichtigste Partner, und ich musste mich nach anderem Hilfspersonal
umsehen. Als einstiges Mitglied der „Grünen" in Schwerte, die ich inzwischen
aber wegen ihrer undemokratischen Parteistrukturen und ihres widerlichen
politischen Anpasserkurses verlassen habe, wandte ich mich zuerst an die
Mitglieder des Dortmunder Stadtrats, welche die Farbe des Grases zum
politischen Programm erhoben haben und danach an die zwei anderen
Fraktionen dieses Gremiums, SPD und CDU.
Anfänglich stieß ich mit meinem Anliegen auf Erstaunen, Ablehnung, ja fast
schon Mitleid. Schließlich aber besann ich mich darauf, wie und wo im
Ruhrgebiet und anderswo seit den Anfängen der noch jungen Demokratie
Politik gemacht wird: Vorsichtig, mit Rückendeckung bewährter Fädenzieher
und lntriganten, am Telefon, in verräucherten Hinterzimmern obskurer
Kneipen und vor ihren Theken. immerhin eine fortschrittliche Entwicklung
gegenüber alltäglichen Zuständen der Vergangenheit und nicht besonders
außergewöhnlichen der Gegenwart.
Das ehedem auch bei unserem Führer und seinen zahlreichen Anhängern sehr beliebte Foltern und die Todesstrafe praktiziert man heutzutage anderswo, beispielsweise in den meisten Bundesstaaten der sehr frommen christlich-fundamentalistischen USA, in hinterwäldlerischen islamischen Brutalogesellschaften wie den Gottesstaaten lran, Saudi-Arabien und anderen, leider auch, und besonders häufig, im kommunistischen China.
Um politische Ziele im gegenwärtigen Deutschland durchzusetzen, muss man
dank der letzten totalen Weltkriegsniederlage keine rohe Gewalt mehr
anwenden. Es reicht, genügend viele, mit höheren Zahlen bedruckte Scheinchen diskret im Umschlag zu überreichen, Bierseen in sich hinein zu
schütten und mit Zigarettenqualm verpestete Luft ein zuatmen. Zusätzlich
helfen ein funktionierendes Telefon und ein Hintern aus Vollgummi.
Da es mir an genügend bunten Scheinchen leider mangelte, musste ich das
restliche Politprogramm samt der zugehörigen Hilfsmittel praktizieren.
lch ruinierte also im Kampf für Salman Rushdie und einen demokratischen
Schulnamen meine Gesundheit, indem ich mich für einige äußerst harte
Monate in einen engagierten Kommunalpolitiker verwandelte, eine
zweibeinige Kombination aus wandelndem Bierfass, gebrauchtem
Zigarettenfilter, vollautomatischer Sprechanlage und unverwüstlichem
Gummiarsch, leider ohne den erwünschten Erfolg, die Stimmenmehrheit des
Dortmunder Stadtrats. Wie sehr ich mich auch bemühte und wie oft ich auch
meine kostbare Zeit für Gespräche mit Toren opferte, vier Stadtverordnete
wollten nicht wie ich.
Da erinnerte ich mich meiner längst verflossenen Jungsozialistenzeit, die weit
vor meinen grünen Jahren lag, und ich besuchte einen einflussreichen
Dortmunder SPD-Politiker. Nach wochenlangen Saufgelagen und zahllosen Telefonierorgien gelang es mir, ihn auf meine Seite zu ziehen. Vor allem mit einem Argument überzeugte ich ihn: „Fritz, deine achtzehnjährige Freundin, die Bea, ist eine ganz große Verehrerin Rushdies. Das hat mir ein Kollege erzählt, der sie am Max Planck-Gymnasium im Literaturleistungskurs unterrichtet!“
Dieser ausgekochte Apparatschik und Politvirtuose meldete sich nie zu
Beginn einer politischen Versammlung zu Wort, sondern legte immer erst
dann dem Plenum die herrschende Meinung mit ausgewogenen Worten als seine eigene und politisch absolut optimal dar, wenn sie nach den wichtigsten
Debattenbeiträgen glasklar offenbar geworden war.
lhm wollte ich erklären, wie er den Gegnerblock spalten und so meiner Schule zum Namen eines der hervorragendsten zeitgenössischen Dichter verhelfen könnte. Der
Multifunktionär hatte seinen langen und erfolgreichen Marsch durch die
Parteiinstitutionen als gemäßigter Antikapitalist im Dortmunder
Unterbezirksvorstand der Jungsozialisten begonnen, und war wie viele
ähnlich farblose Politbürokraten auf leisen Sohlen und mit krummem Rücken
steil nach oben gekrochen. Dank seines besonnenen Diskussionsverhaltens
und wegen sehr guter Beziehungen zu Herfried Meinehans, dem einst
mächtigsten Parteibonzen des mitgliederstarken SPD-Bezirkes Westliches-
Westfalen, hat er inzwischen fast das Ende der Karriereleiter erreicht und es
zum Bundesgeschäftsführer der SPD gebracht. Wer weiß, wo der Weg
dieses Profisesselfurzers einmal endet, der noch mehr Langeweile verbreitet
als das absolute politische Nichts, der ehemalige Fraktionsvorsitzende der
Bundestags-FDP Mischnick.
Der besaß trotz seiner gänzlichen politischen Nullität wenigstens den Mut,
eine unmögliche Schildpattbrille auf die unbedeutende Nase zu klemmen.
Die SPD- Mischnick-Verschlimmbesserung heißt Fritz Grümtefing, und wie ich
vorausgesehen hatte, brauchte ich dem Herrn kaum etwas zu erklären, denn
er wollte mir genau das Verfahren empfehlen, das ich ihm vorzuschlagen
wünschte. So einigten wir uns darauf, den Ratsmitgliedern durch befreundete
Mittelsmänner neben Rushdies Namen noch vier weitere Bezeichnungen zu
präsentieren: Gustav- Heinemann-, Norbert-Blüm-, Madame-Curie und
Kardinal-von-Galen-Schule.
Gustav Heinemann war wie Madame Curie bereits verstorben, hatte aber
nicht wie sie den Nobelpreis und grundlegende radiologische Erkenntnisse
gewonnen, sondern nur als Präsident dem Wohl der Bundesrepublik
Deutschland gedient. Der Kardinal, gewöhnlich als Widerstandskämpfer
gegen die Nazibarbarei gerühmt, obwohl er den Faschisten zur
Machtergreifung begeistert applaudiert hatte, schaut sich wie Frau Curie und
Herr Heinemann bereits seit einiger Zeit die Radieschen und viele andere
leckere Gemüsesorten von unten an. Die drei bisher kurz vorgestellten
Persönlichkeiten erfüllten also wichtige Voraussetzungen möglicher
Namenspatrone meiner Schule.
Erstens waren sie tot. Des weiteren boten sie gleichzeitig
traditionsverhafteten SPD-Genossen, engagierten Frauenrechtlerinnen und
frommen CDU-Christen zufriedenstellende ldentifikationsmöglichkeiten.
Politische Laien unter den Lesern werden vielleicht einwenden: "lst doch
völliger Quatsch, mehrere Namen ins Spiel zu bringen, wenn man nur einen
einzigen durchsetzen will!"
Abwarten, abwarten! Norbert Blüm und Rushdie
lebten noch, der Poet allerdings nur wegen der erstklassigen Bewachung
durch englische Sicherheitskräfte, und waren insofern höchst ungeeignet für
die Namensgebung.
Doch der Arbeitslosenminister, die stark durchlöcherte soziale Badehose der
CDU, praktizierender Herz-Jesu-Marxist und ehemaliger Vorsitzender der
CDU-Sozialausschüsse, war sehr beliebt bei den Dortmunder CDUlern, die
größtenteils dem Arbeitermilieu angehörten und selbstlos die
christdemokratische Grundregel befolgten: "Klar, wir ahnungslosen Kälber,
wählen unsere Metzger selber!" Während der Name Blüm also immerhin ein
Angebot an den aufgeklärten Arbeitnehmerflügel der CDU beinhaltete,
vermochte der Rushdies allenfalls mich und die wenigen Ratsherren zu
begeistern, die seinen politischen Nutzen ebenfalls erkannten.
lm Rat saßen seit der Kommunalwahl im Jahr 1994 sechsundvierzig SPD-,
siebenundzwanzig CDU- und zehn Grüne-Abgeordnete, und die Abstimmung
schien schwierig zu werden.
Der Apparatschik und ich rechneten mit siebenunddreißig von dreiundachtzig Stimmen, womit unsere Niederlage wahrscheinlich besiegelt wäre, wenn nur pro oder contra Rushdie entschieden werden konnte. Doch, und jetzt dürfte selbst den Politiklaien
unter den Lesern ein gewisses Maß an Erleuchtung zuteil werden, wir hatten
durch die vier weiteren Vorschläge, für die unsere Leute natürlich nicht
stimmen würden, einiges getan, um die Front der Neinsager aufzusplittern.
Außerdem waren wir beide sicher, dass bis zum Tag der Abstimmung noch
mehr Schulnamen ins Gespräch gebracht würden, weil die Lokalpatrioten mit
der bisherigen Namensliste überhaupt nicht einverstanden waren.
Und so ergänzte denn auch ein einfallsreicher CDU-Ratsherr die Reihe der
Benennungswünsche um die Bezeichnung: "Schule am Park".
Auf der Schulkonferenz hatte ich zuvor eine Abstimmungsniederlage erlitten, aber
eine höchst ehrenvolle. Von vierundfünzig Anwesenden stimmten achtzehn
für Rushdie, fünfundzwanzig dagegen, und der Rest enthielt sich. Somit
konnte ich zwar nicht behaupten, der Name Rushdie entspräche dem Votum
der Schulkonferenz, jedoch immerhin auf eine starke innerschulische
Minderheit verweisen.
Am Sonntag vor der Abstimmung rief mich spätabends Grümtefing an: „Hör
mal Ödipussi, ich habe die Lokalpatrioten ausgetrickst." „Meine liebe Fritzi,
das glaub ich nicht." „Haha! Neben eurer Schule steht doch der Emmaturm.
Und „Emma“ als Namensgeber in Dortmund! Einfach unschlagbar! Wir
vereinen Welt und Dortmund, lnternationales und Lokales in dem Namen:
„Salman Rushdie Schule am Emmaturm“! lch lach mich tot! Was hältst du
davon?"
lch war total überrascht. Der Vorschlag war genial. Das hatte ich dem alten
Pöstchenjäger gar nicht zugetraut. „Mann! Super! Klasse! Damit fliegt der Ball
garantiert ins Tor. Klar, ich stimme zu!" „Der neue Vorschlag schlägt morgen
wie der Blitz ein. Alles schon geregelt."
Am Montagnachmittag herrschte drückende Hitze, und ich war außer zwei
Abgesandten lokaler Käseblätter der einzige Zuschauer im Sitzungssaal.
Nachdem man eine Stunde lang über die Zulassung des neuen Vorschlags
erbittert gestritten hatte, wurde er mit Mehrheit in die Namensliste
aufgenommen. Dann entschieden die Ratsvertreter ohne weitere Debatte.
Fädenzieher Grümtefing beantragte geheime Stimmabgabe, um vorsichtigen
Parteigängern eine öffentliche Stellungnahme zu ersparen und
aufgebauschte Berichte der Heimatpresse zu vermeiden, deren Vertreter das
Geschehen wie meist im Halbschlaf verfolgten. Das Ergebnis des Votums
widersprach sowohl meinen wie auch den Erwartungen des SPD-
Apparatschiks.
Von den dreiundachtzig Ratsvertretern fehlten bei der Abstimmung fünf,
sechsundzwanzig stimmten für Schule am Park, vierzehn für Gustav
Heinemann, fünf für Madame Curie, drei für Norbert Blüm, einer für Kardinal
Galen, zwei gaben Enthaltungen ab. Die anderen entschieden sich für
Salman Rushdie am Emmaturm, womit trotz unerwarteten Ab-
stimmungsverlaufs die Venıvirklichung meines Plans gelungen war, wie jeder
rechenkundige Leser nachprüfen kann.
Seit der Abstimmung trägt meine Schule den Namen Rushdies und wird
weder in die Luft fliegen noch in Flammen aufgehen. Stattdessen teilt ihr
Name jedem fanatischen Anhänger des islamischen Aberglaubens mit: „Du
kannst an so viele mohammedanische Märchen glauben, wie du möchtest,
aber vernünftige Menschen zu zwingen, deine religiösen Ansichten zu teilen
oder daran zu hindern, islamischen Quatsch als islamischen Quatsch zu
bezeichnen, das wird dir und deinen gewalttätigen Spießgesellen nie und
nimmer gelingen!“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hartmut Wagner).
Der Beitrag wurde von Hartmut Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2017.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Hartmut Wagner als Lieblingsautor markieren
Fange an zu Träumen
von Klaus Thomanek
Die CD ist eine Eigenproduktion mit Texten und Melodien,
die von Klaus Thomanek selbst verfasst und komponiert wurden.
Die Lieder sind eine Reise durch verschiedene Stationen seines Lebens.
Sie laden gleichzeitig ein zum Fröhlich sein, wie auch zum Träumen und Nachdenken.
Alle Texte der im April dieses Jahres erschienenen CD sind in deutscher Sprache und mit sehr harmonischen Melodien untermalt.
Acht neue Lieder sind bereits arrangiert und warten darauf, auf einer neuen CD zu erscheinen.
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