Diethelm Reiner Kaminski

In der Verbannung

Jupp, ein schwer erziehbarer Starenbengel, hatte sich schon früh der Bevormundung seiner strengen Eltern entzogen. Er hatte sich aus dem warmen Nest auf und davon gemacht und sich mit anderen Nestflüchtern in Vorgärten und auf Feldwegen herumgetrieben. Es dauerte nicht lange, und Abenteuerlust und schlechte Gesellschaft hatten ihn auf die schiefe Bahn gebracht.

Schließlich war er von der Sondereinsatzgruppe der Starenpolizei überwältigt und vor das oberste Starenstrafgericht gebracht worden. Er war des neunfachen Nestraubs, des fünffachen Straßenüberfalls, der Vergewaltigung dreier Starenweibchen und sechs tätlicher Angriffe auf ausländische Vögel angeklagt. Was für eine traurige Karriere. Und keine Aussicht auf Besserung, wie Dr. Ambrosius Starost lakonisch in seinem psychiatrischen Gutachten feststellte.


Die Starenstaatsanwaltschaft forderte, wie nicht anders zu erwarten, eine lebenslängliche Freiheitsstrafe und zum Schutz der Gemeinschaft eine anschließende Sicherheitsverwahrung. Das verhinderte allerdings das flammende Plädoyer des Verteidigers Gregor Starinski, der die kriminelle Veranlagung überzeugend mit der zu strengen frühkindlichen Erziehung begründete und auch das junge Alter Jupps als mildernden Umstand ins Feld führte. Jupps lückenloses Geständnis seiner Verbrechen tat ein Übriges, um die Starenrichter und Schöffen zu einer Umwandlung der lebenslangen Wegschließung in ein milderes Urteil zu bewegen.
„Verbannung auf Lebenszeit“ lautete es.

Jupp hatte keine Vorstellung davon, was Verbannung bedeutete, aber fürs Erste war er froh, dass er nicht in ein dunkles Astloch eingesperrt wurde, das er nie verlassen durfte.

Jupp wurde unter starker Bewachung ausgeflogen in eine ferne Gegend, in der er noch nie gewesen war. In eine Gegend, so kahl, so öde, so unfruchtbar, dass Jupp sich fragte, wie lange er dort wohl überleben könne. Die wenigen Bäume waren verdorrt und von heftigen Stürmen abgeknickt. Tagsüber brannte die Sonne vom Himmel, nachts war es bitterkalt. Wohin sollte er fliehen? Jupp hatte keine Orientierung. Außerdem hatte der Richter bei der Urteilsverkündung angedroht, dass man ihm bei einem Fluchtversuch die Augen würde aushacken lassen. Also musste Jupp sich abfinden mit seinem Schicksal und sehen, wie er zurechtkam.

Das Leben auf der Straße, wo man auch nicht täglich Futter fand, hatte ihn abgehärtet. Er jammerte nicht lange, sondern machte sich an die Arbeit. Er untersuchte Baum für Baum, hackte Löcher in den Boden, erkundete die Umgebung im Umkreis von mehreren Meilen. Nicht lange, und Jupp wusste: Er würde überleben können. Die Wüste war nicht tot. Unter der Rinde der abgestorbenen Bäume fand er Larven und Käfer, im trockenen Erdreich, wenn er nur tief genug grub, Maden und Würmer. Nachts bildete sich Tau, mit dem Jupp sich morgens erfrischen konnte. Jupp fand immer mehr Gefallen an seiner neuen Heimat. Hier gab es die Freiheit, die er sich immer erträumt hatte. Hier hatte er sein eigenes Reich und wurde von niemandem gestört oder bevormundet. Die Einsamkeit machte ihm nichts aus. Im Gegenteil. Er genoss sie. Das Einzige, was er befürchtete, war, dass irgendwann andere Verbannte seine Ruhe stören könnten.
Und so betete er jeden Tag inbrünstig, dass seine kriminellen Freunde keinen so milden Richter fänden wie er selbst.


Jupps Eltern machten Eingaben über Eingaben, um eine Begnadigung ihres einzigen Sohnes zu erreichen. Nach drei langen bangen Jahren der Ungewissheit hatten sie endlich Erfolg. Ein Gerichtsbote machte sich auf den langen Weg, um Jupp, dem Verbannten, die gute Nachricht zu überbringen und den verlorenen Sohn heim zu seinen Eltern zu geleiten. Der Bote kehrte nicht zurück. Zwei weitere Boten blieben ebenso aus, sodass das Hohe Gericht das Vorhaben, die Begnadigung zu übermitteln, resigniert aufgeben musste.

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