Inge Hoppe-Grabinger

Die Gräte


Als Studentin hatte ich drei Witzzeichnungen, die jahrelang über meinem
Schreibtisch hingen, mehrere Umzüge mitmachten und irgendwie zu mir
gehörten. Eine Zeichnung zeigte einen Kentauren, der seinen Oberkörper
so umdrehen konnte, dass er auf seinem eigenen Pferderücken frühstücken
konnte. Auf der zweiten Zeichnung war ein deutscher Michel mit Ziipfelmütze
zu sehen, vor einer Wand stehend, und der Michel schlug mit einem großen
Nagel durch seine Stirn bis in die Mauer.
Auf der dritten Zeichnung sah man einen großen Fisch, aufrecht im Wasser
balancierend.  Genau in der Mitte war die Wasserlinie, die den Fisch teilte in
eine obere und eine untere Hälfte. Die obere Hälfte  war dem Fisch gewidmet,
schön und vollkommen, die untere Hälfte bestand nur noch aus einer einzigen
Gräte, weiß und abgenagt.
Der Kentaur ist mir immer noch  kostbar, der Michel ist mir vertraut, aber 
der zur Hälfte abgenagte Fisch ist mir aufs Neue unheimlich.
 Er ist mit in mein Gedächtnis zurückgefallen und taucht, wenn man so sagen
darf, als Teilzeit-Gräte immer wieder auf. 
Ich muss etwas dagegen tun und habe mir auch schon etwas überlegt.

Ich werde eine Zeichnung anfertigen und die Mitte mit einem entschiedenen Strich
markieren. Die obere Hälfte wird eingenommen werden von dem schon bekannten
schönen Fischleib, dann aber werde ich die obere Hälfte unter dem Strich spiegeln
lassen, streng symmetrisch und überzeugend.  Die Spiegelung wird vollkommen
sein, so dass es sich von selbst ergibt, dass man das Schöne doppelt sieht.
Es wird mir nichts fehlen. Ich werde nichts vermissen.
Die Zeichnung wird nicht schwierig sein und auch keine besonderen Kenntnisse er-
fordern.
Aber im Moment habe ich keine Zeit, morgen nicht, übermorgen nicht, und überübermorgen
ganz sicher nicht ....


3O. Mai 2o17

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