Rudolf Kowalleck

Hemdendrama

Ich war ein Oberhemd. Nicht irgendein Oberhemd. Ich war sein Oberhemd. Sogar sein Lieblingshemd. Die absolute Numero Uno im Kleiderschrank. Immer auf dem vordersten Bügel, von den Hemden auf den billigen Plätzen beneidet. Die sahen kaum noch das Tageslicht und hingen schlaff da, teilweise sogar ungebügelt, mit hängenden Schultern und ausgeblichenen Farben.Ich war aus hundert Prozent Baumwolle. Größe XL. Kein billiges Unterhemd aus dem Schlussverkauf, ein Oberhemd ohne Fehl und Tadel. Zeitlos, blau gestreift und mit weißem Kragen. Kombiniert mit den edelsten Krawatten und Anzügen, begleitete ich ihn täglich ins Büro.Selbst, wenn er mich getragen hatte, wollte er am nächsten Morgen kein anderes Hemd, nur mich! Wir waren unzertrennlich.  Lieber wusch, trocknete und bügelte er mich noch am gleichen Abend, damit er mich am nächsten Tag wieder anziehen konnte. Wir waren so glücklich miteinander.

Dann war sie plötzlich da. Wir waren uns auf dem ersten Blick unsympathisch. Sie diffamierte mich, bezeichnete mich als konservativ und unmodern. Trotzdem hielt er mir die Treue, bis zu diesem vermaledeiten Besuch bei ihren Eltern am Weihnachtsabend.Natürlich war ich es, der ihn dorthin begleiten durfte. Aber dann übergab sie ihm ein Päckchen, fein säuberlich verpackt in glänzend blauem Papier mit goldener Schleife. Sein Weihnachtsgeschenk. Er packte es aus. Es war ein neues Hemd. Abrundtief hässlich. Kariert! Ein Mischling! Ein Bastard aus einem lächerlichen Mischgewebe made in Hongkong.

Er wollte es nicht tragen. Doch sie erpresste ihn. Drohte mit Liebesentzug. Er gab nach. Was sie ihm bot, das konnte ich nicht bieten.
Männer sind eben ab einem gewissen Punkt nicht mehr vom Verstand, sondern von einem Teil südlich des Bauchnabels gesteuert.

Ich wurde ausgemustert. Sie packte mich in einen hässlich blauen Beutel und stellte mich an den Straßenrand.

Am Morgen wurde ich auf einen LKW geworfen und abtransportiert. Heimlich, still und leise, während der Arbeitszeit. Damit er ja nicht eingreifen konnte.
Er hätte sich niemals von mir getrennt.

Mit einer Träne im Knopfloch dachte ich über meine Zukunft nach. Wo würde ich landen? Wer wird mich in Zukunft tragen? Wenn überhaupt.
Es gingen Gerüchte, dass manche in einer Papierfabrik gelandet seien, zusammen mit einfachen Lumpen, ertränkt in einem Behälter, aufgeweicht, zerstört. Für eine Zeitung. Vielleicht für seine Zeitung. Vielleicht werde ich eines Morgens wieder bei ihm sein, als Teil seiner Morgenlektüre. Ich hoffte, wenigstens Teil der Titelseite zu werden.

Das gab mir Hoffnung. Ich glaubte an ein Leben nach dem Aufweichen.

Aber als Hemd konnte ich nur sagen: Das Hemd hat seine Schuldigkeit getan, das Hemd kann gehen. Undank ist der Welt Lohen. Und alles nur wegen einer Frau. Wie immer!!

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