Christiane Mielck-Retzdorff

Zerstörung

 

 

Sie war 10 Jahre alt, als ihre Mutter unerwartet über Nacht starb. Wirklich begreifen konnte das Mädchen nicht, dass diese nie mehr wiederkommen würde, doch die Veränderungen in ihrem Leben waren einschneidend. Bisher war sie von der Mutter den ganzen Tag über umsorgt worden. Sie frühstückten gemeinsam und nach der Schule erwartete das Kind ein leckeres Mittagessen. Hausaufgaben-Betreuung und der Transport per Auto zum Sport oder zu Freundinnen ergänzten das Wohlfühlprogramm.

Joannas Vater verdiente genug Geld, damit sich die Mutter nur um Haushalt und Garten kümmern musste. Die Familie konnte sich zwei Wagen, ein Eigenheim und regelmäßige Urlaubsreisen leisten. Doch da der Vater zeitaufwändig an seiner Karriere arbeitete, musste das Mädchen nun nach der Schule in einer Tagesstätte betreut werden. Klaglos fügte sich Joanna in die neuen Lebensumstände, denn sie kannte diese von ihren Klassenkameraden, deren Eltern beide berufstätig waren. Außerdem hatte ihre Mutter ihr beigebracht, dass Jammern und Hadern nichts veränderte sondern nur das Gemüt schwer werden ließ.

Ihr Vater gab sich große Mühe, der Halbwaisen wenigstens an seinen freien Tagen Vergnügen zu bereiten, doch dabei wusste er sich nicht anders zu helfen, als sie ständig in Freizeitparks zu schleppen, sie in teure Restaurants auszuführen oder lange Spaziergänge mit ihr zu unternehmen, bei denen er deutlich gelangweilt ihren Berichten aus der Schule oder von anderen Ereignissen lauschte. Oft erwähnte er, dass eine Frau im Haus fehlte, die es bestimmt besser verstand, der Tochter ein ausgefülltes Dasein zu bescheren. Dann spürte Joanna wie unglücklich ihr Vater war. Aber sie war überzeugt, dass beide den Alltag schon irgendwann gemeinsam meistern würden.

Zwei Jahre später, Joanna besuchte bereits das Gymnasium, stellte er ihr seine neue Partnerin vor. Sie war eine attraktive Frau, selbstbewusst und fröhlich. Das Paar kannte sich durch die gemeinsame Arbeit. Joanna gönnte ihrem Vater die Abwechslung und wusste auch, dass ein Mann seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen musste. Doch als diese Frau namens Vanessa zu ihnen in das Haus zog, wurde das Mädchen ärgerlich. Zwar zeigte sie dieses Gefühl nicht nach außen, aber sie empfand die Entwicklung als Verrat an ihrer Mutter. Als Vanessa dann noch anfing, das Haus umzugestalten, verging Joanna jedes Verständnis.

Diese Frau war ihr nicht unsympathisch, aber sie war ein Störfaktor und keine Bereicherung. Ihre berufliche Tätigkeit wollte Vanessa nicht aufgeben, liebte das Amüsement, ein gepflegtes Äußeres mit teurer Kleidung und Friseurbesuche. Außerdem füllte sie das Haus gern mit Gästen, wobei sie nicht selbst kochte, sondern die Speisen liefern ließ. Überhaupt lehnte Vanessa Hausarbeit ab, so dass bald eine Putzfrau diese übernahm.

Joanna betrachtete die Geliebte ihres Vaters als Eindringling, der diesen molk wie eine Kuh und nur die eigenen Vorteile suchte. Diese Frau musste weg. Zum Teenager gereift machte sie sich daran, den Plan umzusetzen. Zuerst säht sie in ihrem Vater den Verdacht der Untreue. Weiter teilte sie kleine Spitzen gegen Vanessa aus, wenn diese von Gästen umgeben war. Es dauere nicht lange, bis Vanessa vor Zuschauern die Beherrschung verlor, weswegen sich Joanna als bedauernswerte Halbwaise in Tränen auflöste. Die Putzfrau ärgerte sie so lange, bis sie kündigte. Nun musste sich der Vater plötzlich selbst um seine Wäsche kümmern, was ihm sehr missfiel. Das Paar stritt immer häufiger, bis es sich trennte. Das Gefühl des Triumpfs beseelte die Siegerin.

Von ihrer Mutter war sie einst zu einem braven Mädchen erzogen worden, das allen Menschen mit Respekt begegnete, sich zum Wohl der Gemeinschaft unterordnete und sich vor bösen Gedanken gegen andere hütete. Zurückhaltung, ein sanftes Wesen, Demut und Gewaltlosigkeit sei den Frauen in die Wiege gelegt. Nun hatte Joanna gegen die Grundeinstellung ihrer Mutter verstoßen.

Am Gymnasium bildete sich eine Gruppe, deren Wortführerin eine junge Frau war, die sich Cat nannte. Einst war sie auf den Namen Katherina getauft worden, doch sie lehnte alle Dinge ab, die sie nicht selbst bestimmt hatte. Die Mitglieder empfanden sich als Künstler. Darunter waren Musiker, Maler und solche, die sich in kleinen Aufführungen präsentierten. Joanna spürte schon immer einen Hang zur Kunst und war froh, als Cat sie fragte, ob sie nicht mitmachen wollte. Zwar war sie mit 16 Jahren die Jüngste, aber es schmeichelte ihr, dabei sein zu dürfen.

Als erstes musste Joanna ihren Namen ändern. Diesen hatte sie ihrer Mutter zu verdanken, deren Eltern ständig einen Schlager hörten, in dem eine Joanna zur Liebe geboren war. Sie konnte es der Verstorbenen nicht antun, sich ganz davon zu trennen. Also nannte sie sich fortan Jo.

Bei den nachmittäglichen Treffen der Gruppe erfuhr Jo, was diese unter Kunst verstand. Es ging um Freiheit, das Ablehnen gewohnter Strukturen, die Wiedergeburt aus der Zerstörung. Bisher hatte sie Kunst als Ausdruck von Schönheit empfunden, doch musste nun einsehen, dass schon lange Hässliches, Abartiges, Absurdes Einzug in dieses Metier gefunden hatte. Ihre neuen Freunde predigten, dass nicht Liebe sondern Hass die Kreativität befeuerte.

Eines Tages forderten sie Jo auf, mit einer Axt einen alten Tisch zu zerhacken. Das Möbel war durchaus noch geeignet, seinen Dienst zu tun, weswegen sie sich vor der Tat scheute. Aber sie wollte nicht feige wirken. Also zerschlug sie das Holzgestell. Mit jedem Hieb fühlte sie wie Stärke, Macht und Hemmungslosigkeit in ihr wuchsen. Mit dem Holz barsten die Ketten der Bürgerlichkeit. Als sie atemlos erschöpft innehielt und sich die Überbleibsel des Tisches zu einem ungeordneten Haufen türmten, standen die anderen zufrieden darum herum. Anerkennend sagten sie, dieses sei wahre Kunst. Jo verstand zuerst nicht, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte. Doch dann erkannte auch sie den Sinn in dem Zerstörten. Es zeigte Kraft, Leidenschaft und die dadurch entstandene Veränderung.

Fortan faszinierte sie die in den Fernsehnachrichten allgegenwärtige Vernichtung. Politiker knechteten ihr Volk mit Waffengewalt und trieben es lieber in die Hölle, als ihre Macht aufzugeben. Durch Bomben stürzten Gebäude zusammen, sodass nur noch zerbrochene Steine im Staub lagen. Wassermassen rissen Bäume mit sich und ließen Schlammlawinen Dörfer begraben. Tornados wirbelten die Errungenschaften der Zivilisation durch die Luft. Menschen wurden von Krebs zerfressen. Worte im Internet feuerten Salven auf Seelen. Überall wurden Löcher in das Bestehende gerissen.

In Joanna stieg Hass auf. Er richtete sich gegen Kriegstreiber, machtbesessene Politiker, rücksichtlose Produzenten von gesundheitsschädlichen Lebensmitteln, das Internet und dessen gnadenlosen Missbrauch. Doch was war mit den Naturkatastrophen? Konnte man die Natur, aus der die Menschheit entsprungen war, hassen? Kaum, also musste sie Gott hassen, wenn es diesen überhaupt gab.

Und was konnte ein unbedeutender Mensch wie sie überhaupt verhindern? Hilflose Wut wuchs in Joanna. Nicht mal die Kunst war in der Lage, Einfluss zu nehmen. Sie war nichts weiter als ein Zeitdokument. Das Bewusstsein der Sinnlosigkeit des Lebens legte sich wie ein Fels auf ihre Schultern. Dann dachte sie an ihre Mutter.

Im Obergeschoss lag das Zimmer, dass diese für sich genutzt hatte. Später breitete sich Vanessa darin aus. Alle Möbel wurden nach ihren Vorstellungen erneuert. Der Vater bestand jedoch darauf, dass eine antike Vitrine, in der die Porzellansammlung seiner verstorbenen Frau untergebracht war, an ihrem Platz blieb. Nun war diese das einzige Möbel in dem Raum.

Joanna stand davor und betrachtete die Figuren hinter den Scheiben. Sie waren alle aus Meißner Porzellan und vermutlich von einigem Wert. Pärchen in barocken Kleidern zeigten sich neben Musikanten, einer Ballerina, dem Reiter in prächtiger Uniform und einem Clown. Ein Regal tiefer fanden sich die unterschiedlichsten Tiere. Auch spielende Kinder und tanzende Paare waren zu sehen. Ihr Vater hatte gewusst, dass er der Mutter mit solche kitschigen Gaben immer eine Freude mache konnte.

Doch nun war diese tot, hatte ihr Kind allein zurückgelassen und damit dessen heile Welt zerstört. Joanna trug die Axt aus der Garage in ihrer rechten Hand, schloss die Zimmertür und machte sich ans Werk. Mit ungezielten Schwüngen hieb sie auf die Vitrine ein. Glas, Holz und die Figuren zerbarsten bei jedem Schlag mit der Axt. Erst als alles zertrümmert auf dem Boden lag, hielt der Teenager atemlos inne. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein Glassplitter ihre Hand verletzte. Es war keine große Wunde, doch ihr Blut tropfte auf den bizarren Haufen.

Es war ein faszinierendes Bild, das sich Joanna bot. Unter Holzbalken und Scherben lagen menschliche Porzellanfiguren ohne Arme, ohne Kopf, zerteilt, gemeuchelt, Tiere mit Löchern im Körper, in viele Einzelteile zersprungen oder vollkommen unkenntlich daneben. Die junge Frau zückte ihr Smartphone und fotografierte ihr Werk von allen Seiten. Dann legte sie sich neben das Zeugnis ihrer Tat und machte ein Selfie. Damit konnte jeder sehen, wer dieses Kunstobjekt geschaffen hatte. Voller Stolz schickte sie die Fotos sogleich an ihre Künstlerfreunde.

Die Antworten kamen prompt und waren voller Lob. Nun war sie ein vollwertiges Mitglied der Gruppe. Und Joanna freute sich über die Kreativität, die Wut und Hass in ihr ausgelöst hatten. Sie konnte sich an ihrem Werk gar nicht sattsehen.

Zufrieden verließ sie das Zimmer in der Gewissheit, dass ihr Vater die Tat vorerst nicht bemerken würde, weil er selten bis nie den einstigen Rückzugsbereich der Mutter betrat. Überhaupt würde er wie immer spät nach Hause kommen. Joanna war klar, dass ihr Vater sich mit Frauen traf, vielleicht sogar eine ständige Geliebte hatte, doch er stellte seiner Tochter, gewarnt durch die Erfahrungen mit Vanessa, nie seine Begleiterinnen vor. Beide führten mittlerweile ein eigenständiges Leben, ohne Fragen zu stellen.

Am nächsten Wochenende entschuldigte der Vater seine Abwesenheit halbherzig mit einer Geschäftsreise. So konnte Joanna ihre Freunde aus der Künstlergruppe ungestört zu sich nach Hause einladen. Anerkennend nahmen diese das Kunstwerk persönlich in Augenschein. Anschließend wollten die Gäste noch das ganze Haus vom Schlafzimmer des Vaters, über das Bad mit Whirlpool und selbst die Garage sehen. Natürlich beeindruckte diese auch das sehr große Wohnzimmer mit der modernsten Musikanlage und einem monströsen Fernseher. Joanna war stolz auf die Umgebung, in der sie hauste und bemerkte dabei nicht, dass ihre Freunde sich hin und wieder verschwörerische Blicke zuwarfen.

Nach dem Rundgang setzten sich alle ins Wohnzimmer und diskutierten. Außer auf Leitungswasser verzichteten die Gäste auf Speis und Trank. Diese bürgerliche Form der Gestaltung von Treffen lehnten sie ab. Nur zwei aus der Künstlergruppe gingen gelegentlich auf die Terrasse und rauchten eine Zigarette. Ansonsten wurde über Kunst gesprochen, dass diese nur von Wert sei, wenn sie aus dem Innersten des Schaffenden wie ein Vulkan herausbrach. Diese Begabung hatte Joanna gezeigt. Doch es reichte nicht, nur einmal seine Grenzen zu überschreiten, den Gefühlen aus Wut und Hass in Zerstörung freien Lauf zu lassen. Es galt ständig zu schüren, was die Kreativität weckte.

Während des leidenschaftlichen Gesprächs bemerkte Joanna wieder nicht, dass ihre Freunde sich gegenseitig oft Zeichen gaben, miteinander wortlos kommunizierten. Um Punkt 23 Uhr erhoben sich die Gäste ohne Ankündigung und verabschiedeten sich ohne Dank. Alle sechs drängelten sich in einen alten Kombi und fuhren davon. Joanna war zu beseelt von ihrem Traum von einer Künstlerkarriere, als dass sie sich nicht über den plötzlichen Abgang wunderte.

Die Unordnung, die die Gäste hinterlassen hatten, hielt sich in Grenzen. Joanna räumte noch auf und ging dann schlafen. Am nächsten Morgen frühstückte sie erstmal gemütlich. Der warme Sonnenschein lud dazu ein, eine Tasse Kaffee auf der Terrasse zu trinken. Der vom Gärtner sorgfältig gepflegte, großzügige Garten lag still vor ihr.

Plötzlich entdeckte Joanna in der Ferne vor einigen Rhododendron-Büschen etwas Ungewöhnliches. Dort lag ein nicht identifizierbarer Haufen. Hatte der Gärtner Strauchgut einfach dort liegen lassen? Die junge Frau war neugierig. Vielleicht fand sich dort ein neues Kunstwerk. Doch was sie dann sah, verschlug ihr den Atem. Er waren die Überreste eines entsetzlich zugerichteten Menschen. Neben ihm lag die blutverschmierte Axt aus der Garage. Mit dieser war das Opfer regelrecht zerhackt worden. Der Schädel war gespalten, aber das Gesicht unversehrt. Das über den Leib gespritzte und auf den Rasen geflossene Blut schimmerte mystisch im Sonnenlicht.

Als Joanna sah, dass sie den Toten kannte, begann sie unkontrolliert zu zittern. Der junge Mann hieß Justus, wohnte mit seiner Mutter neben der U-Bahn-Station in einem Hochhaus und hatte mit ihr die Grundschule besucht. Eigentlich kannten sie sich schon aus der Sandkiste. Als kleine Kinder trafen sie sich oft auf dem Spielplatz. Dort hatte der gleichaltrige Junge ihr einst im zarten Alter von 5 Jahre einen Heiratsantrag gemacht. Später verlor Joanna Justus aus den Augen. Sie ging auf das Gymnasium und er auf die Gemeinschaftsschule. Da seine Mutter die teuren Gebühren für die Tagesstätte, die das Mädchen nach dem Tod ihrer Mutter besuchen musste, nicht aufbringen konnte, verbrachte Justus die Nachmittage in einer Einrichtung für sozial Schwächere. Durch ihre sehr unterschiedliche Herkunft gab es keine Gemeinsamkeiten mehr.

Joanna versuchte sich zu beruhigen und zu begreifen, was sie vor sich sah. Das bizarre Bild erinnerte eher an ein Kunstwerk als an eine grausame Tat. Warum auch sollte jemand einem jungen Mann so etwas antun? Hatte sich Justus vielleicht mit Kriminellen eingelassen? Und was machte er überhaupt in dem Garten? Doch diese Fragen verflogen. Erstarrt im Betrachten eines zerstörten, menschlichen Körpers, des dunkelroten Blutes, des so lebendig wirkenden Gesichts und der Fliegen, die sich in immer größeren Scharen auf der Leiche niederließen entdeckte Joanna eine faszinierende Schönheit in dem grausamen Bild. Sie zückte ihr Smartphone und schoss ein Foto.

Dann rannte sie ins Haus, wusste aber immer noch nicht, was sie tun sollte. Verunsichert rief sie ihren Vater an, doch es antwortete nur die Mailbox. Ebenfalls erfolglos versuchte Joanna die Mitglieder der Künstlergruppe zu erreichen, was nicht verwunderlich war, da diese die Auffassung vertraten, nur Personal müsse immer und überall erreichbar sein. Fast eine Stunde verging, bis sie endliche die Polizei anrief.

Die folgenden Tage verbrachte Joanna wie in Trance. Immer wieder wurde sie von den Ermittlern befragt. Diese schienen überzeugt davon, dass die junge Frau etwas mit dem Mord zu tun hatte. Aber egal wie oft sie aussagte, dass sie keinen Kontakt mehr zu Justus Schröder hatte, desto mehr Beweise wurden vorgelegt, die den Verdacht erhärteten, sie wäre in einer Liebesbeziehung mit dem jungen Mann verbunden. Auf dessen Laptop fanden sich sogar Liebesbriefe an sie und Fotos, auf denen sie beinahe nackt auf einer Sonnenliege im Garten lag.

Die Presse war zeitgleich mit der Polizei eingetroffen. Diese durfte sich zwar weder dem Tatort noch Joanna nähern, aber schnell entdeckte ein Journalist einen Durchschlupf im Gartenzaun, konnte das zerstückelte Opfer und die die junge Frau ablichten, bevor die Polizei ihn vertrieb.

Natürlich eilte ihr Vater herbei, wirkte aber ausgesprochen überfordert mit der Situation. Als dann die Fotos von der zertrümmerten Vitrine auftauchten, gestand dieser, dass Joanna einst seine Lebensgefährtin hinterhältig aus dem Haus getrieben hatte. Vanessa stellte die junge Frau vor der Presse als unberechenbare Person dar, die einen tiefen Hass auf Menschen in sich trug. Die Mitglieder der Künstlergruppe gaben sich gegenseitig ein Alibi und beschrieben Joanna als geltungssüchtig und leicht reizbar.

Als dann ausschließlich die verwischten Fingerabdrücke von Joanna auf dem Griff der Axt gefunden wurden, war der Tathergang für die Behörde klar. Der Ermordete beabsichtigte, nachdem ihm die Fotos von der zerhackten Vitrine bekannt geworden waren, sich von Joanna zu trennen. Diese Abweisung ertrug die junge Frau nicht und tötete ihren Freund auf die gleiche Weise, wie sie das Andenken an ihre Mutter gemeuchelt hatte.

Der Vater beauftragte einen Anwalt, der sich aber nicht weiter zu helfen wusste, als eine psychologische Gutachterin hinzuzuziehen, die Joanna schon nach kurzem Gespräch eine ernstzunehmende Persönlichkeitsstörung bescheinigte. Sie hatte den Verlust der Mutter nicht überwunden, deswegen starke Hass- und Wutgefühle entwickelt, die sich jederzeit entladen konnten. Die junge Frau stellte eine Gefahr für die Gesellschaft dar und sollte daher umgehend in eine geschlossene Anstalt überführt werden.

Joanna erkannte anfangs nicht, dass sie die Hauptverdächtige bei diesem grausamen Mord war. Gelangweilt beantwortete sie die Fragen der Polizei nach dem Ablauf des Tages der Tat. Immer wieder verneinte sie, das Opfer näher zu kennen oder gar eine Liebesbeziehung zu Justus Schröder gepflegt zu haben. Doch niemand glaubte ihr. Befragt nach der zerhackten Vitrine konnte sie als Argument für die Zerstörung nur den Wunsch, Kunst zu schaffen, anführen, was bei den Beamten Kopfschütteln auslöste. Mittlerweile hatten die Ermittler auch das verstörende Foto von der Leiche auf Joannas Smartphone entdeckt. Danach befragt, zuckte sie die Achseln und meinte, der Anblick hätte sie fasziniert.

Mit den immer gleichen Fragen bombardiert, rastet die junge Frau schließlich aus und warf einen Plastikbecher mit Milch auf einen der Beamten. Als die weiße Flüssigkeit gemächlich über dessen blaues Jackett rann, lachte sie. Die willkürlich erzeugte Form einer zerfließenden Flüssigkeit war Kunst. Doch die Polizisten zeigten wenig Humor und legten ihr Handschellen an. Joanna wurde als potentiell gefährliche Mörderin in die Untersuchungshaft überführt.

Weggesperrt in eine Einzelzelle glaubte sie, Teil eines schlechten Film zu sein. Bestimmt würde sich der Irrtum bald aufklären. Die folgenden Tage wurden nur von erneuten Verhören unterbrochen, an denen auch ihr Anwalt teilnahm. Doch selbst dieser machte keinen Hehl daraus, dass er Joanna für verrückt hielt. Ihr Gemüt schwankte zwischen Wut und Resignation. Außerdem belastete sie, dass weder ihr Vater noch ihre Freunde Kontakt zu ihr suchten. Schließlich wurde ihre Überführung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt angeordnet.

An dem Morgen, als Joanna von Sicherheitskräften abgeholt wurde, schien die Sonne von einem makellos blauen Himmel. Sie wollte nicht begreifen, was mit ihr geschah. Ihr Kampfgeist war erloschen. Die junge Frau fühlte sich ganz allein einem ungewissen Schicksal ausgeliefert. In Gefängniskleidung wurde sie zu einem Polizeiauto geführt. Versteckt hinter einer Hecke lauerte ein Mitglied der Künstlergruppe und schoss unbemerkt ein Porträtfoto von ihr.

Als der junge Mann dieses nach der Abfahrt des Wagens betrachtete, grinste er. Auf dem Display seines Smartphones zeigte sich ein farbloses Gesicht unter wirren Haaren. Es erschien wie eine Maske mit toten Augen. Joannas vollen Lippen waren zusammengekniffen. Der Anblick erinnerte an einen Zombie. Schnell schickte er das Foto an seine Freunde unterschrieben mit nur einem Wort: zerstört.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.06.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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