Christiane Mielck-Retzdorff

Höhere Ziele

 

 

Sarah parkte direkt vor dem Bahnhof und lächelte ihren Mann Florian aufmunternd an. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und wünschte ihm viel Erfolg in Lübeck. Er stieg aus dem Wagen, winkte Sarah noch einmal zu und ging in die große Halle.

 

Beide hatten sich schon auf der Universität kennengelernt, wurden ein Paar. Der Student der Architektur mochte anfangs gar nicht glauben, dass eine so gut aussehende, anziehende Frau wie Sarah sich ausgerechnet für einen Mann entschied, der sich selbst als ausgesprochen durchschnittlich empfand. Sie selbst studierte im gleichen Semester Jura und war ehrgeizig. Etliche Kommilitonen buhlten um die junge Frau, doch sie blieb treu an Florians Seite.

Kurz nachdem beide das Examen bestanden und eine Anstellung gefunden hatten, heirateten sie. Schnell bekam Sarah zwei Kinder, weil sie die Familienplanung früh abschließen wollte. Florian arbeitete währenddessen in einem Architekturbüro, wo es ihm besonders leicht fiel, Aufträge für neue Behördengebäude an Land zu ziehen. Er strebte nicht danach, besonders kunstvolle Bauwerke zu schaffen, sondern konzentrierte sich auf deren Funktionalität. Das gefiel den Verantwortlichen in den Verwaltungen besonders, weil sich dadurch die Kosten im Rahmen hielten.

Da das Zinsniveau gerade niedrig war, entschied sich das Paar zum Kauf eines Einfamilienhauses in einem Neubaugebiet, wo sich viele junge Eheleute niederließen. Dort fand Sarah auch bald eine Tagesmutter, die ihr ermöglichte, ihre berufliche Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei fortzusetzen.

Da Florian so erfolgreich war und über gute Kontakte zu den Behörden verfügte, überredete sie ihren Mann, sich selbständig zu machen. Damit konnte die Familie allein die satten Gewinne einstecken. Anfangs entwickelte sich das Büro prächtig, doch dann wurden die Aufträge durch die Sparmaßnahmen in der Verwaltung immer weniger. Florian hatte versäumt sich auch um andere Projekte zu bemühen, nicht gelernt, die gehobenen Ansprüche neuer Kunden zu erfüllen. Außerdem schadete es seinem Ruf als Architekt, dass er bisher nur eher unansehnlich Gebäude geplant hatte. Es drohte die Pleite.

 

Erfüllt von innerer Unruhe und Vorfreude, weil er sich gute Chancen bei dem bevorstehenden Termin ausrechnete, stand er mit seiner Aktentasche auf dem Bahnsteig zwischen den anderen Menschen, die auf den Zug nach Lübeck warteten. Er hatte seine Pläne für das neue Verwaltungsgebäude bereits den Verantwortlichen vorgestellt und diese äußerten sich äußerst zufrieden. Wenn Florian diesen Auftrag erhielt, war die Pleite seiner Firma abgewendet.

Um nicht unpünktlich zu dem Termin in Lübeck zu erscheinen, war er extra früh zum Bahnhof aufgebrochen. Das einzige Auto, das sich seine Familie noch leiten konnte, stand Sarah zur Verfügung, damit sie die Kinder zur Schule und anschließend in die Kanzlei fahren konnte. Abends holte sie dann den Jungen und das Mädchen in der Kita ab. Die finanziellen Sorgen drückten Florian sehr. Heute würde sich die Zukunft seiner Familie entscheiden.

Doch der Zug traf nicht ein. Erst glaubt der Mann an eine Verspätung, was ihn nicht beunruhigte. Dann zeigte die Tafel plötzlich an, dass die Verbindung nach Lübeck ausfiel. Also wollte er geduldig auf den nächsten Zug warten, während etliche Menschen auf dem Bahnsteig in Wut gerieten. Hektisch wurde umhergelaufen, nach Verantwortlichen und Informationen gerufen. Niemand wusste, ob und wann der nächste Zug einlaufen würde.

Langsam wurde auch Florian unruhig. Die Zeit schritt stetig voran und drängte. Er versuchte, seine Ansprechpartner in der Lübecker Behörde zu erreichen, was aber nicht gelang, da diese an einer Besprechung teilnahmen, bei der Mobiltelefone ausgeschaltet bleiben mussten. Erleichtert hörte er schließlich aus dem Lautsprecher, dass ein Bus-Ersatzverkehr eingerichtet wurde. Eilig rannte er auf die Straße, wo Massen zu den Bussen drängten. Brav stellte er sich an, doch jeder Blick auf die Uhr ließ seine Nerven erbeben.

Als er mit über drei Stunden Verspätung endliche das Gebäude, in dem der Termin stattfinden sollte, erreichte, musste Florian erfahren, dass die Verhandlungen bereits abgeschlossen waren und ein anderer Architekt den Auftrag bekommen hatte. Verzweifelt versuchte er noch, einen der Verantwortlichen zu sprechen, zu erklären, dass ihn keine Schuld an seinem verspäteten Erscheinen traf, aber diese hatten das Gebäude bereits verlassen.

Vollkommen mutlos setzte er sich in ein Café. Dort erfuhr er aus dem Radio, dass die Zugverbindungen an verschiedenen Orten in Deutschland durch Anschläge einer linken Protestgruppe gestört worden waren. Florian war zum Opfer von Menschen geworden, die ihre vermeintlich ehrenhaften, politischen Ziele selbst mit Zerstörung, aber ohne Rücksicht auf andere, verfolgten.

 

Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Florians Architekturbüro musste Insolvenz anmelden, seine Frau trennte sich von ihm, heiratete den Chef der Anwaltskanzlei, lebte mit ihm und den beiden Kindern, erneut schwanger in einer Stadtvilla. Florian hatte in seinem Beruf keine neue Anstellung gefunden. Wegen der Verspätung in Lübeck galt er nun als unzuverlässig. Auch seine einstigen Entwürfe schmuckloser Gebäude bewiesen der Fachwelt, dass es ihm an Kreativität fehlte. Schließlich musste er sich mit einer Anstellung bei einem großen Bauunternehmen bescheiden, potentielle Kunden durch dessen Musterhauspark führen und beraten.

Nun saß er im Zug auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung, bei der sich die beiden gefassten Täter für den Anschlag auf die Zugverbindungen verantworten sollten. Heute wurde das Urteil verkündet. Die Hoffnung auf Schadenersatz hatte Florian schon lange begraben, denn es handelte sich um zwei mittellose Studenten.

Das Interesse der Öffentlichkeit an dem Termin war mäßig. Die Täter waren geständig und reuig. Sie stellten sich als zur Tatzeit umnebelt von politischen Idealen dar. Zukünftig wollten sie als Mitglieder der Gesellschaft ihre Pflicht tun. Mit gesenktem Kopf saßen sie neben ihren Anwälten und machten einen harmlosen Eindruck. Wen interessierte schon, dass diese jungen Männer Florians Leben zerstört hatten.

Dass Studenten bisweilen Ansätze zeigten, die Welt zum Positiven verändern zu wollen, verstand auch der Richter. Natürlich durfte dabei nicht das Eigentum anderer beschädigt werden. Doch da die Angeklagten Einsicht zeigten, wollte die Justiz ihr Leben nicht unnötig belasten. Eine Bewährungsstrafe würde ausreichen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Durch seine Ex-Frau Sarah ein wenig juristisch geschult, hatte Florian kein anderes Urteil erwartet. Trotzdem fraß die Wut in ihm darüber, dass den Tätern Verständnis entgegengebracht wurde, während sein Schicksal niemanden interessierte. Sollte er erst selbst Bomben bauen und Unschuldige in die Luft jagen, damit er überhaupt wahrgenommen wurde? Konnte er danach mit dem Mitgefühl der Öffentlichkeit und der Justiz rechnen?

Als freie Männer durften die Studenten den Gerichtssaal verlassen. Zufällig stand Florian vor dem Gerichtsgebäude neben ihnen und ihren Anwälten, wurde so Zeuge deren Gesprächs. Fröhlich lachend wurde dabei die Strategie gelobt. Es hatte sich gelohnt, Reue zu heucheln, sich als irregleitet darzustellen. Doch kaum waren die Anwälte gegangen, planten die Studenten schon ihre nächste Aktion. Der Staat musste endlich erkennen, dass die Ausbeutung der Menschen durch Kapitalismus, Rebellion und Gewalt nach sich zog. Es war die Aufgabe der geistigen Elite, dieses hohe Ziel zu verfolgen.

Florian wurde sich bewusst, dass sein Schicksal ein Kollateralschaden war. Diejenigen, die sich berufen fühlten, nahmen keine Rücksicht auf den normalen Bürger. Sie sahen sich als Helden, während er alles verloren hatte. Oder war er etwa selbst schuld, weil er sich nicht an den Regeln des Kapitalismus orientiert hatte, nicht mit dem architektonischen Mainstream geschwommen war? Florian war nie ein Kämpfer gewesen. Nun musste er diese Bürde tragen.

Plötzlich wusste er nicht mehr, was ihn überhaupt dazu getrieben hatte, an dem Gerichtstermin teilzunehmen und einen freien Tag dafür zu opfern. Nichts hätte sich für ihn geändert, wenn die beiden Studenten zu hohen Strafen verurteilt worden wären. Wünschte er sich Gerechtigkeit? Was bedeutete diese überhaupt?

Zu Fuß ging Florian Richtung Bahnhof um seine Heimreise anzutreten. Die Sonne schien und nichts trieb ihn vorwärts. Stattdessen betrachtete er die anderen Menschen auf der Straße. Ein junge Frau, das Smartphone am Ohr, schob einen Kinderwagen vor sich her. Zwei Türkinnen handelten mit dem Besitzer eines Gemüsestandes. Eine alte Frau bewegte sich langsam mit ihrem Geh-Wagen an den Schaufenstern der Läden vorbei, verharrte manchmal versonnen, um dann ihren Weg mit einem traurigen Gesichtsausdruck fortzusetzen. In der Höhe auf einem Gerüst strichen zwei Männer die Hauswand an. Ein Fahrer huschte aus seinem, in zweiter Reihe geparkten Taxi in eine Bäckerei und kehrte bald mit einem Becher Kaffee zurück. Eine Mutter zerrte ihr plärrendes Kind hinter sich her.

Auf dem Platz vor dem Bahnhof tauschten ein stattlicher Afrikaner und ein vergleichsweise mickriger Teenager, bemüht darum, nicht beobachtet zu werden, etwas aus. Eine kichernde Gruppe von Schulmädchen schlenderte vorüber. Ein älterer Mann, der wie ein südamerikanischer Indio gekleidet war, hockte auf dem Boden vor einer Litfaßsäule und spielte Pan-Flöte. Neben diesem stieg eine sehr elegant gekleidete Frau auf edlen, hochhackigen Schuhen mit einer ledernen Aktentasche in der Hand aus einem Taxi, warf eine Münze in den Schoß des Musikers und eilte zu den Bahnsteigen.

Plötzlich wurde Florian bewusst, dass all diese unterschiedlichen Menschen die Gesellschaft bildeten. Sie waren das Volk und blieben als Individuen doch unbemerkt. Er war ein Teil dieser bunten Mischung. Die einen strebten nach höheren Zielen, nach öffentlicher Aufmerksamkeit, während die anderen versuchten, ihr mehr oder weniger mühsames Leben zu meistern. Vermutlich waren sie einander egal. Versöhnt mit sich und dem Leben ging er zu einem Kiosk und kaufte sich eine Bockwurst.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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