Christiane Mielck-Retzdorff

Scheinheiligkeit

 

 

Viktoria stand in ihrem edlen Seiden Kostüm vor einem Juwelier am Jungfernstieg und wartete ungeduldig darauf, dass ein Taxi erschien. Wenn sie gewusst hätte, wie schwierig es ist, eines zu ergattern, hätte sie noch in der Luxusboutique eines bestellt. Dort war sie Gast einer Modenschau für ein auserwähltes Publikum der Hamburger Gesellschaft gewesen. Sie wollte schon zurückgehen, als ein ungewaschener Mittelklassewagen vor ihr hielt und dessen Seitenscheibe herunterglitt. Eine weibliche Stimme sprach sie an, ob sie eine Mitfahrgelegenheit suche.

Als sie die Frau am Steuer erkannte, konnte Viktoria es kaum glauben. Dort saß ihre Jugendfreundin Sabine, die sie seit Jahren nicht mehr getroffen hatte, und lachte sie aufmunternd an. Freudig überrascht stiegt sie ein und umarmte ihre Retterin. Beide Frauen zeigten sich glücklich über die überraschend Begegnung und fuhren gemeinsam davon.

Schnell einigten sie sich, in einem Café Rast zu machen und zu plaudern. Aufgekratzt erzählte Viktoria von ihrem sorglosen Leben im Wohlstand. Ihr Mann Frank verdiente sehr gut als Unternehmensberater und sie konnte sich ganz ihrem Hobby dem Golfspielen widmen. Ihre beiden Kinder studierten erfolgreich im Ausland, so konnten sie und ihr Mann endlich unabhängig von den Schulferien die Sonne auf Mallorca genießen.

Sabine kam kaum zu Wort. Ohne ernsthaftes Interesse nach ihrem Leben befragt, antwortete sie nur, dass sie immer noch mit Peter verheiratet sei, der als Software-Entwickler in einer Firma angestellt war, ihre beiden Kinder nach Abschluss einer Lehre in Köln lebten und sie selbst Dozentin für Literaturwirtschaft an der dortigen Universität sei. Dass die beiden Frauen sich nun wiedersahen, war Sabines Besuch bei ihren Eltern zu verdanken.

Viktoria hatte gleich das schmucklose Äußere ihrer Freundin bemerkt. Außer dem goldenen Ehering trug diese nur Jeans und ein T-Shirt. Das verwunderte sie allerdings wenig, denn sie kannte Sabine als den Symbolen des Wohlstands abgeneigt. Sie stammte ja auch aus einer Arbeiterfamilie.

Die Frauen gingen dazu über, Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend auszutauschen. Manch lustiges Erlebnis ließ sie wie die Teenager kichern. Einen Moment lang fühlten sich beide in die Zeit zurückversetzt, in der Träume und Zukunftspläne wie Luftballons im Wind durch die Luft kreisten. Doch dann drängte Viktoria zum Aufbruch.

Sabine fuhr sie bis nach Blankenese, wo eine prächtige Villa auf ihre Hausherrin wartete. Wegen der Gefälligkeit ihrer Freundin fühlte sich Viktoria aus Gründen der Höflichkeit verpflichtet, diese auf einen Drink in ihr Heim einzuladen. Und es gefiel der Gastgeberin natürlich, der Gefährtin ihrer Jugend zu zeigen, wie teuer und edel die Zimmer eingerichtet waren, was diese mit einem anerkennenden Lächeln zur Kenntnis nahm.

Bei dem Abschied mit einer steifen Umarmung lud Victoria die Freundin und ihren Mann zur Feier ihres 50. Geburtstags ein. Dieser sollte im großen Rahmen in einem Nobelhotel mit Speis, Trank und Tanz gefeiert werden. Doch statt der erwarteten Dankbarkeit äußerte Sabine nur, dass sie es sich überlegen wolle. Als sie ging, rief Viktoria ihr hinterher, sie bräuchte innerhalb von vier Tagen ihre Zu-oder Absage, um alles organisieren zu können.

Wieder daheim in Köln dachte Sabine über die Begegnung und die Einladung zur Geburtstagsfeier nach. Ihr Mann Peter hielt sich gerade beruflich im Ausland auf, sie wusste aber, dass er große Feiern verabscheute. Und auch sie verspürte wenig Lust, daran teilzunehmen, auch wenn sie sicher war, dass es köstliches Essen und sehr guten Wein geben würde. Selbst die Aussicht, mal wieder ausgelassen zu tanzen, reizte sie nicht, dabei blieb sie früher selten einer Tanzfläche fern und beherrschte die Kunst, sich zur Musik zu bewegen, außerordentlich gut.

Warum also freute Sabine sich nicht über diese Einladung? Sie hatte keinen Grund sich zwischen den anderen, vermutlich vermögenden Gästen minderwertig zu fühlen. Ihr Mann und sie lebten in mehr als zufriedenstellenden, finanziellen Verhältnissen. Außerdem durfte sie mit Stolz den Titel Professor Doktor tragen. Sie war schlank und sah gut aus. Auch fiel es ihr nicht schwer, selbst mit fremden Menschen interessante Gespräche zu führen.

Doch sie hatte von Viktoria den Eindruck gewonnen, dass diese in einer Welt des Scheins, der Selbstdarstellung und des Prahlens lebte. Also war zu vermuten, dass auch ihre Freunde und Bekannten sich gern im Licht des Wohlstands suhlten. Die Geburtstagsgäste würden über Fernreisen, ihre Erfolge im Sport, kulinarische Genüsse, Mode oder ihre gewinnbringenden Geschäfte plaudern. Nichts, außer dem Gemecker über Politik, würde die heitere Stimmung trüben. Jeder würde sich befleißigen, den Eindruck eines glücklichen Menschen zu vermitteln.

Das sollte bei einer Feier auch so sein, schließlich war das Ziel so einer Veranstaltung, mit der Gastgeberin fröhliche, unbelastete Stunden zu verbringen. Schon oft war Sabine Teil so einer verschworenen Gemeinschaft gewesen, erkannte dabei aber auch, wie viele Lügen sich hinter dem Schein verbargen. Sie bevorzugte mittlerweile Gespräche mit Menschen, die sich nicht verstellten, da von ihnen bekannt war, dass sie nicht den Normen der Gesellschaft entsprachen, schon mal den legalen Weg verlassen oder Schicksalsschläge erlitten hatten.

Den selbstgefälligen Anstand der Wohlhabenden, zu denen sie zwar auch gehörte, missbilligte die Frau. Oft blickten diese mit Hochmut auf Obdachlose, Bettler, Prostituierte, Gauner und selbst auf die eigenen Hausangestellten. Doch für Sabine waren alle Menschen gleich, auch die Erfolglosen, Verarmten, Unmoralischen und sogar Kriminellen. Sie fühlte sich nicht berufen, diese als weniger wert zu erachten.

Aber solche Ansichten waren bei der Geburtstagsfeier verständlicherweise nicht erwünscht. Würde sie die Einladung also annehmen, geböte die Höflichkeit, sich in die Regeln dieser Gesellschaft zu fügen. Aber die zu erwartenden Gespräche würden sie vermutlich langweilen.

Sabine rief Viktoria mit dem Vorsatz an, ehrlich den Grund für ihre Absage zu äußern. Und das tat sie auch. Ihrer Jugendfreundin blieb die Sprache weg. Sie war empört über diese Unverfrorenheit. Wenn Sabine nicht an der Feier teilnehmen wollte, hätte sie doch die Verpflichtung zur Wahrnehmung eines anderen Termins vortäuschen können. Viktoria kündigte ihr die Freundschaft und beendete das Gespräch.

Als sie sich abends zu einem Essen mit ihren drei besten Freundinnen traf, wurde zwar zuerst über Golfspielen, das bevorstehende Fest und die Auswahl der Kleidung zu diesem Anlass geredet, doch dann musste Viktoria ihrem Ärger über die unverschämte Absage ihrer Einladung, die sie nur aus einem Anfall von Gutherzigkeit aussprach, obwohl sie Sabine seit Jahren nicht gesehen hatte, Luft machen. Hätte das Geburtstagskind etwa Penner und Bettler in ihren erlauchten Kreis aufnehmen sollen? Die Frauen lachten. Oder hätten Prostituierte und Verbrecher die Feier bereichert? Wieder lachten die Freudinnen peinlich berührt. Anschließend fanden sie Worte der Entrüstung über dieses Erlebnis und meinten, die Abwesenheit der verrückten Fremden sei bestimmt kein Verlust für die Feier.

Die Mahlzeit wurde von den Frauen ungewohnt stumm eingenommen. Jede hing ihren Gedanken nach. Viktoria musste zugeben, dass sie sogar erleichtert war, dass ihre Jugendfreundin abgesagt hatte. Auch wenn Sabine verschwiegen war, bestand doch die Gefahr, dass sie Geheimnisse aus ihrer gemeinsamen Teenager- und Studienzeit preisgab.

Viktoria hatte sich schon früh für das andere Geschlecht interessiert und war bei der Wahl ihrer Partner nicht anspruchsvoll gewesen. So lernte sie die Kunst der Verführung und setzte diese auch bei Lehrern ein. Wenn einer dieser Männer ihr verbotenerweise erlag, war es ein Leichtes für die Schülerin gewesen, ihre Verschwiegenheit durch Informationen über Prüfungsarbeiten zu erkaufen.

Mehr aus Verlegenheit denn aus wirklichem Interesse studierte sie Betriebswirtschaftslehre und lernte bald einen jungen Dozenten kennen. Auch diese Verbindung musste geheim bleiben, doch Viktoria hatte wenig Lust am Studieren, also wurde sie von diesem Mann aus besten Hamburger Verhältnissen schwanger. Frank war es dem guten Ruf und den Ansprüchen seiner Eltern schuldig, sie zu heiraten. Über all diese, durch weibliche Verführung erlangten Vorteile wusste Sabine Bescheid.

Viktorias Freundin Simone erinnerte sich derweil an ihre Zeit in London, dieser sehr teuren Stadt. Dort besserte sie ihr schmales Einkommen als Au-pair-Mädchen mit den Diensten für einen Begleitservice auf. Da ihr Vater aus dem Libanon stammte, war sie der arabischen Sprache mächtig. So wurde sie bevorzugt für reiche Araber eingesetzt, die sich als sehr großzügig erwiesen, wenn Simone weit gefälliger war, als vorgesehen.

Constanze dachte an die Zeit, als ihr Vater die Familie verließ, alles von Wert mitnahm, seine Frau und die Kinder in Armut stürzte. Damals lebten sie in Frankfurt und waren plötzlich obdachlos. Der Teenager war enttäuscht und bockig, suchte ein freies, neues Leben auf der Straße, schlief unter Brücken und ernährte sich von Diebstählen.

Elisabeth wurde plötzlich bewusst, was sie bisher verdrängt hatte. Jahrelang war sie in die Schweiz geflogen, um dort Geld für ihren Mann auf einem Nummernkonto einzuzahlen. Als dann die Steuerbehörden diese vermehrt ins Visier nahmen, kehrte das Geld zurück nach Deutschland und ruhte nun in diversen Schließfächern in unterschiedlichen Banken. Als Steuerberater war ihr Gatte sehr vorsichtig, besonders was das Schwarzgeld anging, was er von Kunden bekam, deren Namen er nie nannte. Auch was deren Geschäfte anging, zog er Elisabeth nicht ins Vertrauen. Zwar wurde es nie ausgesprochen, aber seine Verschwiegenheit diente ihrem Schutz.

Das lange Schweigen der vier Frauen am Tisch erstaunte den Kellner, weswegen er nachfragte, ob die Gäste mit den Speisen zufrieden seien. Sogleich wurde die gewohnte Köstlichkeit des Essens gelobt, wobei sich keine an den Geschmack erinnern konnte. Dann nahm das Gespräch wieder Fahrt auf. Reisepläne wurden mit den, an diesen Orten bereits gemachten Erfahrungen gewürzt. Ein bevorstehendes Golfturnier beschäftigte die Frauen. Auch der beste, örtliche Friseur wurde zum Thema. Ausgelassene Stimmung macht sich wieder breit. Und alle sahen mit Freunde Viktorias Geburtstagfeier entgegen.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.07.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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