Manfred Bieschke-Behm

Ein Abend am Strand

 

Winslow genießt es nach Sonnenuntergang am Strand spazieren zu gehen oder einfach an einem Fleck zu verharren. Die Licht- und Schatteneffekte und verschwimmende Formen, die sich am Tage so nicht zu erleben lassen, erfüllen Winslow mit einer kaum zu beschreibenden Zufriedenheit. Er erlebt das Meer abends und nachts anders als am Tag, wenn es unter dem Einfluss der Sonne steht. Der Geruch des Wassers hat sich verändert. Es riecht ein wenig nach Fisch und Seetang und Muscheln, nach Freiheit und nach Unendlichkeit. Winslow fährt sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckt das Salz des Meeres, er schmeckt Sehnsucht und Abenteuer. Keine tobenden Menschen und keine kreischenden Möwen stören ihn in seinen Empfindungen. Winslow steht da und bewundert die Leuchtkraft des Mondes die aus dem Meer ein Spiegel gemacht hat in dem sich die Sterne betrachten können. Er genießt es, dem Wellenschlag zuzuhören und spürt, wie sich sein Herzschlag verlangsamt. Wenn in Gleichmäßigkeit die Wellen an den Strand schlagen und anschließend zurückbilden um sich in der Dunkelheit zu verlieren kann es vorkommen, dass sich bei Winslow leichte Wehmut auftut und das Gefühl von Sein und Nichtsein breitmacht. In solchen Momenten vermischen sich Poesie und Geheimnis und werden zu einem Ganzen.

Winslow schließt seine Augen. Er möchte sich durch nichts ablenken lassen. Er hofft, dass er seine Glückseligkeit festhalten kann. Plötzlich mischt sich das Meeresrauschen mit Musik. Er sieht zwei Frauen in weißen langen wallenden Kleidern im Zentrum des Lichtes tanzen. An den Füssen tragen sie Tanzschuhe, die keine Spuren im Sand hinterlassen. Die Tanzenden drehen sich schnell und immer schneller und bleiben dennoch im Takt. ‚Woher kommt die Musik?’ Winslow überlegt seine Augen zu öffnen, um nachzusehen. Er tut es nicht. Die Musik wird lauter. Sie übertönt das Meeresrauschen.

Die Frauen bewegen sich Richtung Meer. Winslows Herz schlägt schnellen. ‚Sie werden sich doch nicht vom Meer verschlingen lassen?’ Ein kurzer Blitz durchzuckt Winslow Körper. Der Himmel verfinstert sich. Das Licht des Mondes strahlt die Tanzenden an, wie ein Scheinwerfer Künstler auf einer Bühne. Wellen türmen sich auf. Winslow kommt sich vor, wie auf einem schwankenden Schiff. Links von den Frauen haben sich Schatten gebildet, die von den Wellen überspült werden und dennoch nicht verschwinden. Erst jetzt entdeckt Winslow eine Gruppe von Männern. Einige von ihnen stehen andere hocken oder sitzen rechts von den Frauen. Er kann sie nur schemenhaft von hinten erkennen. Sie schauen nicht hinüber zu den Tanzenden, sondern blicken hinaus auf das weite Meer. ‚Sind sie die Musikanten?’, fragt sich Winslow der noch immer seine Augen geschlossen hält.

 

„Winslow kommst du. Wir wollen zu Abend essen“, hört er jemanden rufen. Er findet es nicht schön, jetzt gerufen zu werden. Er möchte mehr erfahren. Er möchte erfahren was mit den Tänzerinnen und den Männern weiterhin passiert.

„Winslow kommst du. Wir wollen zu Abend essen“, hört er erneut seinen älteren Bruder Charles rufen. Er öffnet seine Augen. Er sieht weder sich im Walzertakt drehende Frauen noch die Männergruppe, in deren Gesichter er gerne geschaut hätte. Er dreht sich um. Er blickt auf das strandnah gelegene Haus, dessen Eingangstür weit offen steht. Winslow hört vertraute Musik und spürt die Kühle der Nacht.
 

Als Vorlage für meine Geschichte "Ein Abend am Strand" dient das Bild
Sommernacht gemalt von Winslow Homer (1836-1910)
Manfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

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Nimm doch die Freiheit dir heraus,
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