Irene Beddies

Lange Schlange



Lange Schlange

Mira suchte und suchte. Sie wollte ihr altes Springtau finden, denn im Fernsehen hatte sie erfahren, dass viele Menschen durch Seilspringen fit und schlank wurden. Nicht dass sie schlank werden musste, aber fit, sehr fit wollte sie sein. Das war cool.
Als Berta ins Zimmer kam, saß Mira vor einem großen Pappkarton und wühlte darin. Sie warf gerade ein Spielzeugauto auf den Teppich, auf dem schon andere Gegenstände aus der Kiste verstreut waren. Berta sah sich die Dinge an, sie hoffte, dass vielleicht etwas für sie dabei war, das Mira nicht mehr haben wollte.

Was war denn das für eine ulkige Holzpuppe? Eine dickliche Frau ohne Arme, aber mit fünf matallenen Haken auf dem Kopf, erregte Bertas Neugier. Als sie die komische Puppe aufhob, stellte sie erstaunt fest, dass sie von oben bis unten hohl war. „Was ist das?“, fragte Berta und hielt ihrer Schwester die Holzpuppe unter die Nase. Mira wehrte ab, dann aber schaute sie näher hin. „Das ist meine alte Strickliesel: Ich wusste gar nicht, dass ich sie noch habe.“
„Aber du hast sie doch auf den Teppich geworfen.“ „Ich suche nur mein Springseil, alles andere tue ich aus dem Karton ohne hinzusehen. Du kannst sie haben, wenn du willst.“

„Was macht man denn damit?“ „Damit kann man lange Schlangen stricken.“
„Wie denn? Mama strickt mit Nadeln Strümpfe.“ „Die Strickliesel macht das eben einfacher, deshalb ist sie für Kinder.“ „Was hast du denn damit gestrickt? Einen Pullover?“ „Nein, Schwesterherz, einen Untersetzer für heiße Kochtöpfe. Mama hat die Schlange zusammengenäht.“

„Kannst du mir zeigen, wie das mit dieser Liesel geht?“, bettelte Berta.
„Dazu brauchst du noch eine Holznadel, ohne die geht es nicht. Und Wolle natürlich auch.“

Sofort rannte Berta in die Küche, wo Greta das Abendessen kochte.
„Mama ich brauche ganz schnell Wolle und eine Holznadel!“
„Immer Ruhe, Kleine, du siehst doch, dass ich jetzt nicht kann.“ „Aber gleich nach dem Abendbrot?“ „Ja doch, ja. Aber sag mal, wofür brauchst du denn das so eilig?“ „Mira hat mir ihre alte Liesel geschenkt. Ich will auch eine lange Schlange stricken.“ „Aha.“

Nach dem Essen suchte Greta ihr Wollreste. Eine hölzerne Nadel hatte sie natürlich nicht. „Was machen wir denn da…?“, überlegte sie. Sie ging in die Küche und holte einen hölzernen Schaschlickspieß. Er war zu lang, ließ sich aber mit einer Kneifzange kürzen. Glücklich zog Berta ab in Miras Zimmer. Die hatte inzwischen längst ihr Springseil gefunden und alle alten Spielsachen, die sie nicht mehr haben wollte, in zwei Plastiktüten verstaut. Die sollte die Mutter morgen mit in den Kindergarten nehmen und fragen, ob sie dort gebraucht werden könnten.
Einträchtig setzten sich die beiden Mädchen auf Miras Bett nebeneinander. Mira knotete das Ende eines roten Knäuels an einem Haken der Strickliesel fest und machte für Berta die ersten Strickreihen, bis die gestrickte Schlange im Innern der Liesel verschwand. Dann zeigte sie Berta, was zu tun war.

Den ganzen Abend strickte nun Berta unverdrossen weiter. Das machte doch Spaß. Die Schlange wurde länger und länger. Ab und zu wechselte Berta die Farben.
Das ging nun schon eine Woche so: Berta strickte und strickte, oft mit der Zunge zwischen den Zähnen, so eifrig war sie.
„Willst du nicht mal aufhören? Deine Schlange ist ja schon so lang, dass du sie immer hinter dir herziehen musst, wenn du deinen Platz mal wechselst“, meinte Mira. „Wie lang soll sie denn noch werden? Und was willst du aus ihr machen?“ „Ich will einen Schal.“ „Lass mich mal nachmessen, wieviel Meter du schon hast.“ Mira holte den Zollstock aus Papas Werkzeugkiste und Berta legte die Schlange daneben. Sie maß fast die ganze Länge des Zollstocks. „Ich glaube, es reicht schon für einen nicht ganz langen Schal“, meinte Mira. Es müssen nur noch drei Längen zusammengenäht werden.“
Zunächst aber prüfte Mira doch noch, ob der Schal lang genug würde. Berta war froh, dass ein Schal fertig war, denn allmählich verliert auch das verbissenste Vorhaben an Lust.

Mira nahm die Schlange von der Strickliesel ab. Sie verknotete die letzten Maschen.
Am nächsten Tag sah Berta genau zu, wie ihre Schwester mit Nadel und weißer Wolle drei Längen von der Schlange zusammennähte. Fertig war der Schal!

Voller Stolz ging Berta am nächsten Morgen, geschmückt mit dem Schal, obwohl es warm draußen war, in den Kindergarten. Alle staunten.
Berta war glücklich. Sie hatte es mal wieder geschafft im Mittelpunkt zu stehen. 

 

© I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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