Hartmut Wagner

Der Reisebürokratenpass

Ein Freitag im Juli 1992, Zeit, meinen Reisepass verlängern zu lassen, große  Ferien, Montag hebe ich ab, irgendwohin, nur weg. Mit dem Fahrrad zum Schwerter Rathaus. Es ist 10 Uhr morgens, 'ne Viertelstunde, dann habe ich meinen Verlängerungsstempel sicher. Wie teuer der wohl diesmal wird?
 
Vor dem Einwohnermeldeamt sechs Stühle, alle besetzt, Gott oder wem auch immer sei Dank, jedenfalls noch keine Warteschlange. Gegenüber, am Standesamt, erklärt eine Schlank- und Langbeinige, blumenstraußdekoriert, also Trauzeugin, dem kugelig untersetzten Standesbeamten, warum das Brautpaar noch nicht da ist. lch greife zum ausliegenden Stadtteilkäseblatt "Ruhrbote", um die kurze Wartezeit zu überbrücken, schiele gelegentlich genüsslich auf kurzberockte Beine. Über der Tür des Einwohner-meldeamtes leuchtet in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die freundliche Aufforderung: "Der Nächste bitte!"
Wenn der Nächste gebeten wird, ertönt ein unharmonischer Piepton, der zu übersetzen ist: "Nun aber los, wenn's geht, ein bisschen flott!" Missverhältnis zwischen Bild und Ton. Endlich darf auch ich das Einwohnermeldeamt betreten.
 
Fünf oder vier beam(tinnen)bewehrte Tische mit Computern und sonstigem notwendigen Zubehör ausgestattet. Ein Tisch, hinter dem eine knackfrische Jungbeamtin im rosa Kostüm sitzt, ist ohne Kundschaft, ein Mangel, dem ich abhelfe. lch krame meinen bereits etwas zerlesenen grünen Reisepass aus der Arschtasche hervor. Fünfmal wurde er
bisher verlängert. Stempel aus Kreta, Botswana, Niagara Falls und, ich will nicht angeben, fast der ganzen weiten Welt bezeugen meine internationale Vergangenheit. Das Passbild zeigt mich jung. Platz für weitere Stempel gibt es auch noch.
 
"lch möchte meinen Pass verlängern!" "Wann?" "Sofort! Montag will ich verreisen." "Das geht nicht mehr!" "Was, das Verreisen oder das Passverlängern?"
»Nach dem neuen Passgesetz werden Reisepässe nicht mehr verlängert, sondern es gibt alle fünf Jahre neue. Das kostet fünfzehn Mark. Nur der Europass gilt zehn Jahre, kostet dafür aber auch dreißig Mark. Den haben wir aber noch nicht." "Dann machen Sie mir eben den anderen schnell fertig." "Haben Sie Bilder?" "Wieso, ich wollte doch nur den Pass verlängern |assen." "Für den Neuen brauchen Sie aber mindestens zwei Bilder." "Was, kommen da jetzt zwei Bilder rein?" "Nein, eins behalten wir. Wir können aber jetzt schon alles ausfüllen, und wenn Sie mir die 15 Mark bezahlen, bekommen Sie lhren neuen Pass, sobald Sie mir die Bilder bringen. Am Bahnhof, da ist so ein Fotoautomat."  "Ach ja, stimmt." "Größe 1,83, Augen graugrün, Rufname Ödipus?" "Ja, immer noch alles richtig." "Gut, dann bis gleich."
lch erhebe mich und verlasse die Stätte der unkomplizierten Verwaltung,  schwinge mich auf mein Fahrrad und eile zum Bahnhof. Da kommt mir Freund Olaf entgegen: "Hallo, lange nicht gesehen." "Du, hab' keine Zeit, muss fur den Reisepass Fotos machen lassen." "Hier um die Ecke, bei der Kaufhalle, ist so ein Automat." "Nein, ich will zum Bahnhof, da kann ich mir auch noch Zeitungen kaufen."
 
lm Bahnhof zum Automaten geeilt: Vier Passbilder sieben DM. Was soll ich denn mit vier, brauche doch nur zwei? Na ja, nehmen wir halt vier! Moment, natürlich kein Kleingeld. Hole ich mir eben erst die Zeitungen und lasse wechseln. lch gehe zum Kiosk, kaufe eine "Frankfurter Rundschau" und "konkret" ein gutes, aber teures Monatsmagazin. Die Verkäuferin: "Macht vierfünfzig!" lch präsentiere einen Hunderter. "Können Sie rausgeben?" "Nein, haben Sie es nicht kleiner?" lch habe und bezahle. "lch muss Passbilder machen lassen. Die im Rathaus verlängern die Reisepässe nicht mehr, und für den Automaten da draußen brauche ich sieben Mark Kleingeld. Wäre das
möglich... ?" "Wenn Sie fünfzig Mark haben, dann geht es."
 
Zurück zum Automaten. Der ist besetzt, und zwar vom Servicemann. "Wie lange dauert das noch mit Ihnen? Ich brauche dringend Passbilder" " ‘Ne
halbe Stunde bestimmt!" "Dann fahre ich zur Kaufhalle, da gibt es noch einen Automaten."
 
In der Kaufhalle sortiert eine Mitarbeiterin Büstenhaiter. "Entschu|digen Sie bitte, wo ist hier der Fotoautomat?" "Der Fotoautomat?
Nirgends mehr, den haben sie vor einiger Zeit abgeholt, hat sich wohl nicht ge|ohnt."
Ist das zu fassen? Ich schwinge mich nicht auf mein Fahrrad, sondern schiebe es zum Bahnhof. Dann ist der Servicemann vielleicht bei meiner Ankunft fertig.
lm Bahnhof findet gerade ein fröhliches Gespräch zwischen Servicepersonal und hübscher Bekanntschaft statt: "Aber ich will dich nicht länger stören. Ich sehe, du hast Kundschaft."  Der Servicemann: "Noch fünf kurze Minuten."
 
Na, lese ich eben so lange die berühmte, aber etwas teure Monatsschrift, einen Artikel über die unterdrückten Frauen in Agypten. Wo ist der Servicefritze? Einfach abgehauen. Jetzt aber rein in den Automaten. Aha, aufnahmebereit. Stuhl so lange drehen, bis Kopf unter Spiegelbalken! Kopf ist zwar noch nicht unter Spiegelbalken, aber Stuhl lässt
sich nicht mehr herunterdrehen. Beuge mich einfach etwas herunter. Lächeln Sie in den Spiegel! Wird gemacht! Fast alle Zähne werden sichtbar. Drücken Sie auf den Knopf! Ich drücke, lächle, und es blitzt zweimal. Ich verlasse die Kabine. Nach vier Minuten Fotos entnehmen! Ich lese weiter Zeitung und entnehme später. Die Bilder eine Minute trocknen lassen! Ich trockne und trockne die Fotos, aber nach zehn Minuten kleben sie immer noch.
 
Egal, jetzt ein kleines Zeitfahren zum Rathaus zurück. Sieh an, da schlängelt es sich riesig vor dem Einwohnermeldeamt, und inzwischen ist es viertel nach elf. Eine neue
Hochzeitsgesellschaft steht vor dem Standesamt. Reiskörner knirschen auf dem Boden. Die Brautführerinnen sind womdglich noch langbeiniger oder kurzberockter.
 
Endlich, es ist mittlerweile halb zwölf, werde ich musikalisch und optisch ins Meldeamt gebeten. Ein junger Mann bildet sich ein, er sei gerufen worden, aber kurz und heftig kläre ich ihn auf. Die Rosakostümierte hat schon Kundschaft. lch muss mit einer fast so netten Kollegin vorlieb nehmen. "lch war eben bei einer Kollegin, habe schon alles ausgefüllt und bezahlt, hier sind die Bilder." "Bei welcher?" lch zeige auf die rosa Augenweide. Meine jetzige Betreuerin schwebt jedoch auf eine ganz andere zu. lch weise
mit beiden Zeigefingern auf die Erwähnte, wo doch schon einer unhöflich ist.
 
Endlich. Die Bilder werden mitgenommen, zwei ausgeschnitten, eins davon in den neuen Pass geklebt, eins auf ein Formular, das ich unterschreiben muss.
"Das war's dann."
lch halte meinen neuen Pass in den Händen. Er ist genauso grün und sieht genauso aus wie mein Alter, nur nicht so zerfleddert. lch frage mich, warum
ich keinen Verlängerungsstempel in den Alten kriegen konnte. Geht es um Unterstützung der Foto- und Passdruckindustrie? Um Sparmaßnahmen? Konjunkturankurbelung?
 
lch frage die städtische Mitarbeiterin. "Das hat weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun. Hier geht es um das neue Passgesetz."
 
lnzwischen ist es fünf vor zwölf.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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