Franz Dietrich

Zeit im Strandkorb

Nach fünfzig Jahren, beginnt das Leben eines Mannes schleichend etwas bröselig zu werden. Es schleift sich an den Kanten ab, wie alter Sandstein, der zu lange der Witterung ausgesetzt ist. Im Kern noch fest, verliert es Zusehens an Form, wird langsam unansehnlich und leider auch unerträglich.

Der fünfzigste Geburtstag ist daher kein Festtag. Wer ihn als Mann mit einem rauschenden Fest begeht, ist entweder total beknackt oder mathematisch unterbelichtet. Conrad Stadler war weder das Eine, noch das Andere. Er sah die Dinge realistisch. Sein Leben war zu Zweidrittel abgelebt, der Rest, bröselig und abgeschliffen, musste mit Vorsicht angegangen werden. Statt ordentlich mit dem faltigen Arsch zu wackeln, kündigte er, ohne nähere Angaben von zwingenden Gründen, seinen Job bei der Oberfinanzdirektion, der ihn mehr als dreißig Jahre über Wasser gehalten hatte. Mehr aber auch nicht. Von einem erfüllten Arbeitsleben, pflichtbewusst, korrekt und mit Hingabe bewältigt, konnte keine Rede sein. Er hatte dreißig Jahre funktioniert, wie der Kaffeeautomat in der Kantine.

Neunzig Tage vor seinem fünfzigsten Geburtstag, hatte er mit dem gleichen vorgetäuschten Pflichtbewusstsein das in dreißig Jahre über Wasser gehalten hatte, seine langjährige Freundin auf die Straße gesetzt, seinen Vater zu Grabe getragen und sein Erbe in Form eines zweistöckigen Mietshauses angetreten. Er nahm eine der sechs Wohneinheiten für sich selbst in Anspruch, renovierte sie nach seinen Vorstellungen und übertrug den Rest des Hauses einer Maklerfirma mit zweifelhaftem Ruf. Seine langjährige Freundin verschwand in einem Möbelwagen, sein Vater (ein tyrannischer Nachkriegstyp mit straffen Prinzipien), endete gottgewollt unter zwei Tonnen Marmor. Ein friedliches Ende für einen Mann, der ihn lebenslang mit dämlichen Weisheiten gequält hatte, stellte Conrad erleichtert fest.

Seine fristlose Kündigung wirbelte weniger Staub auf als ein Kinderpups. Conrad war nicht das Ass der Abteilung, als Mitarbeiter des Monats hatte er deshalb nie zur Debatte gestanden. Sein Schreibtisch war immer sauber und aufgeräumt gewesen, fein geordnet wie sein restliches Leben, über das seine Kollegen nur wenig wussten. Er war stets freundlich gewesen, aufmerksam, zurückhaltend und nie auf Kollisionskurs. Der Verlust, den Conrads Abgang hinterließ, war nicht erwähnenswert.

Alter Schreibtisch, neuer Mitarbeiter, Deckel drüber.

Am letzten Arbeitstag schüttelte Conrad ein paar Hände, gab seine Identitätskarte zurück und pinkelte heimlich in einen monströsen Blumentopf.

Nach gelungener Flucht aus staatlicher Obhut, gönnte er sich eine Woche Urlaub an der Ostsee. Jeder andere Platz auf dieser Welt wäre ihm ebenso willkommen gewesen. Das Hotel in der Nähe von Stralsund hatte seine Aufmerksamkeit erregt, weil es Ruhe und Erholung versprach. Ideal, so sagte man ihm im Reisebüro, den Kopf frei zu bekommen. Genau das was er wollte. Noch hatte er manchmal das dringende Bedürfnis in weitere monströse Blumentöpfe zu pinkeln. Ein kleines Laster, das dem Ex-Mitarbeiter einer deutschen Oberfinanzdirektion, nicht sonderlich gut zu Gesicht stand. Er unternahm lange Spaziergänge, folgte unauffällig alleinstehenden Frauen und würzte seinen Nachmittagskaffee mit einem kräftigen Schuss Amaretto. Am Abend erzählte er den alleinstehenden Damen von seinen langen Spaziergängen, wechselte von Amaretto zu Gin Tonic und stahl sich mit dem Hinweis, er sei ein glücklich verheirateter Ehemann, aus jeder weiteren Verantwortung.

Seine Ambitionen Verantwortung zu übernehmen, waren nie sonderlich ausgeprägt gewesen. Einer der Gründe, weshalb er nie geheiratet und ein halbes Dutzend Kinder in die Welt gesetzt hatte. Mit fünfzig Jahren irgendetwas daran ändern zu wollen, machte wenig Sinn.

Auf einem seiner langen Spaziergänge, stieß er auf einen Laden der gebrauchte Strandkörbe verkaufte. Er ging hinein, fand ein Exemplar mit blau-weißer Musterung und erstand es zu einem sensationellen Sonderpreis. Lieferung frei Haus, innerhalb von sieben Tage, garantiert weniger als zwei Saisonen im Gebrauch, versprach der angedudelte Verkäufer. Conrad glaubte ihm, trotz der deutlichen Alkoholfahne. Er leistete eine minimale Anzahlung, ertrug abends den Spott der alleinstehenden Damen und erfreute sich seines neuen Lebens.

Nach sieben Tagen setzte er sich in ein zwanzig Jahre altes Mercedes Kabriolett und fuhr zurück in seine frisch renovierte Wohnung im Zentrum einer Kleinstadt nördlich von München. Seine Abreise wirbelte noch weniger Staub auf, als sein nüchterner Abgang aus der Oberfinanzdirektion. Außer einer alleinstehenden Dame aus Zimmer Vierundzwanzig im ersten Stock und der rothaarigen Hupe an der Rezeption im Erdgeschoß, nahm niemand Kenntnis davon.

 

Der Weg zurück in ein Leben, das nicht an den Kanten abgeschliffen wurde wie verwitterter, alter Sandstein, fiel Conrad Stadler überraschend leicht. Dreißig Jahre Stallgeruch ließen sich natürlich nicht von heute auf morgen in Jasminduft verwandeln. Der Alltag roch auch in seiner frisch dekorierten Wohnung nach Pflicht, Ehre und Kaffeemaschine. Seit er ins Singlezeitalter abgetaucht war, roch es außerdem hin und wieder nach verpasster Müllentsorgung, Waschmaschine und antibakteriellen Schimmelreiniger. Der Kampf mit Mindesthaltbarkeitsdaten wurde zur alltäglichen Bedrohung. Manchmal gewann, manchmal verlor er den Kampf.

Langsam nahm sein Leben verschleißfreie Formen an.

Vier Tage nach Rückkehr aus dem Urlaub, wurde der Strandkorb geliefert. Er fand seinen idealen Platz auf dem überbreiten Balkon, nahe der Glasfront zum Wohnzimmer, leicht schräg ausgerichtet um freies Sichtfeld zur Domkirche hinauf zu haben. Erste Tests verliefen überaus zufriedenstellend. Der gewählte Standort erwies sich als windresistent, geräuscharm und größtenteils uneinnehmbar für neugierige Nachbarn. Trotzdem zog der nur bis zur Hälfte sichtbare Strandkorb, wie selbstverständlich die Aufmerksamkeit des Viertels auf sich. Einmal entdeckt, wurde er über Tage hinweg zur absoluten Attraktion. Manche Beobachter schüttelten verständnislos den Kopf, andere dachten womöglich an ihr eigenes, abgeschliffene Leben und lächelten zustimmend. Conrad Stadler genoss ihr Interesse mit Zurückhaltung. Er war dreißig Jahre im Kreis gelaufen und musste sich erst an die neue Laufrichtung gewöhnen.

Nachdem die Aufregung um den Strandkorb wichtigeren innenpolitischen Themen gewichen war (zum siebten Mal in wenigen Jahren, stand der Verantwortliche für den Bau der Westumgehung vor dem Rauswurf), zelebrierte Conrad in einer lauschigen Nacht Richtfest für den neuen Strandkorb. Einziger Gast: Er selbst. Als kulinarischer Höhepunkt des Abends, wurde nach Einbruch der Dunkelheit eine Flasche Rotwein aus Südafrika und eine aufgepimpte Pizza mit zerkrümelter Salsicca, Chilischoten, roten Zwiebeln, Mozzarella und Oregano gereicht. Aufgrund einer zweiten Flasche Wein, dauerte das Fest beinahe die ganze Nacht. Der Kater am nächsten Tag dauerte etwa bis Mittag.

Ein schmerzhafter Teil der neuen Laufrichtung, an die er sich erst gewöhnen musste.

Wieder in Form gebracht, stellte er sich seinen Mietern als neuer Hausherr und Vermieter vor. Da er wenig Kontakt zu seinem verstorbenen Vater gepflegt hatte, war er den Meisten völlig unbekannt. Einigen war er während der Renovierungsarbeiten schon kurz über den Weg gelaufen. Mehr als ein flüchtiger Gruß unter Zufallsbekanntschaften war dabei nicht ausgetauscht worden. Sein Vater Maximilian Stadler, war Zeit seines Lebens ein überzeugter Eigenbrötler gewesen. Nur in den kurzen vier Jahren, in denen er mit Conrads Mutter verheiratet gewesen war, hatte er hin und wieder kurz über den Tellerrand hinausgelinst. Offenbar hatte er seine Mieter in ähnlich zurückgezogenen Kreisen gesucht und gefunden. Ehepaar Seifert, seine Flurnachbarn auf der rechten Seite, lebte lautlos wie ein kaputtes Fernsehgerät. Kein einziger lauter Ton drang je aus ihrer Wohnung, keine Tür knallte, kein zänkisches Gezeter und auch kein guter alter Rock`n Roll.

Im ersten Stockwerk residierte Zahnarzt Doktor Kleist, nebst Papagei Nepomuk und Putzfrau Swetlana aus Kasachstan. Kleist und Nepomuk waren Dauergäste, Swetlana kam zweimal die Woche. Der weitaus unterhaltsamste Teil des Trios war der Papagei. Er beherrschte mehr deutsche Wörter als die Putzfrau und legte in seinem Käfig in einer Stunde mehr Meter zurück, als Dr. Kleist an einem ganzen Wochenende zwischen Hausbar und Kleiderschrank zustande brachte.

Gegenüber logierten zwei ältere Schwestern, die mit dem Adjektiv älter noch gut bedient waren. Maria und Sebastiana Popp hielten sich mit Hilfe von täglich angebotenen Quizsendungen auf diversen Fernsehkanälen und der massenhaften Einnahme leistungsstärkender Präparate aus dem Drogeriemarkt, halbwegs bei akzeptablem Verstand. Sebastiana war in jüngeren Jahren Nonne gewesen, ehe man sie wegen Unzucht mit einem rosaroten Dildo aus dem Konvent geworfen hatte.

Im Erdgeschoss waren ein Architekturbüro und ein Nagelstudio untergetaucht. Beide mit befristeten Mietverträgen über zehn Jahre, von denen vier schon abgelaufen waren. Architekt Waclaw Grzyl – die korrekte Aussprache lautete Gschill – war vor Jahren aus Polen zugezogen, legal und ohne Umwege über irgendein Auffanglager. Er war spezialisiert auf Rundbauten wie Futtersilos oder Wassertürme.

Das Nagelstudio war fest in asiatischer Hand. Wie ein Blick in die Bücher zeigte, bezahlte Familie Lo ihre Miete pünktlich und machte auch sonst keinen nennenswerten Ärger. Lediglich die Anzahl der Personen, die über die Adresse des Nagelstudios ihre Post zugestellt bekamen, gab hin und wieder Rätsel auf. Vielleicht die asiatische Form eines verschleißfreien Lebens, das nicht an den Kanten abgeschliffen wurde.

Die laufenden Mieteinnahmen garantierten Conrad Stadler ein sicheres Einkommen. Dreißig Kilometer nördlich von München und vermutlich noch weit darüber hinaus, wurde aus Einkommen sprachlich ein Auskommen. Warum auch immer. Conrad war es egal, er plante weder eine sündhafte teure Weltreise, noch die Anschaffung des neuesten Kraftprotzes mit Stern auf der Motorhaube, noch ein zunehmend beliebter werdendes kleines Spielchen mit Spekulationspapieren jeglicher Art und Herkunft. Ob nun Ein- oder Auskommen, nach dreißig Jahren staatlicher Abhängigkeit, befand er sich plötzlich unerwartet auf der finanziellen Überholspur und nur das war wichtig. Das Schleifen an den Kanten seines Lebens hörte nicht gänzlich auf, aber es wurde erträglicher.

Gesegnet mit einer Menge Freizeit und einem Bankkonto das regelmäßig befüllt wurde, verging der erste Sommer mit ausgedehnten Erkundungstouren durch die Stadt und langen Wanderungen über blühende Wiesen, vorbei an goldgelben Getreidefeldern und eingezäunten Viehweiden. In unbeobachteten Momenten knallte er manchmal einen spitzen Stein auf das breite Hinterteil einer Milchkuh, die verärgert im gestreckten Galopp das Weite suchte. In beobachteten Momenten, ließ er spitze Steine unangetastet liegen, wischte sich den Schweiß der Stirn und gab theatralisch den einsamen Spaziergänger.

Am Ende des Sommers war sein neues Leben in ein Fahrwasser geraten, dass ihn rundherum zufrieden stellte. Seine Mieter und der Postbote grüßten höflich – wenn sie ihre Lautlosigkeit für einen Augenblick ablegen konnten -, sein neuer Hausarzt hatte ihm eine schmerzlose Zeckenschutzimpfung verpasst und das Cafe Ludwig, am Anfang der innerstädtischen Einkaufsmeile, akzeptierte in langsam als Stammgast und gewährte ihm gewisse Sonderkonditionen. Sein betagtes Mercedes Kabriolett hatte sicheren Unterschlupf im Parkhaus am Mühlbach gefunden. Vorausgegangen war ein dezenter Tipp seines neuen Hausarztes. Völlig kostenlos, versteht sich, Krankenschein nicht nötig. Etwas schwieriger gestaltete sich die Suche nach einem neuen Frisör. Die Auswahl war groß, die Gegenargumente noch größer. Nach fünfzig Jahren Seitenscheitel kam eine Risikobehandlung nicht in Betracht. Modischer Firlefanz noch viel weniger. Hairdesign Mattie erfüllte alle nötigen Voraussetzungen, auch wenn ihm der Name nicht sonderlich zusagte. Er war auf der Suche nach einem gepflegten Haarschnitt und wollte nicht designt werden. Besitzerin Mattie Weber überzeugte ihn mit Humor und einem kostenlosen Kamm für den Seitenscheitel.

Die Kleinstadt, in der er jetzt einen Sommer lang wohnte, erlangte seine Zuneigung erst nach und nach, in unzählig kleinen Schritten. In vielen Ecken roch es noch zu sehr nach Maximilian Stadler, seinem verstorbenen Vater. Eine Parkbank am Pflasterweg hinauf zur Domkirche, rühmte ihn mit Messingschild als edlen Spender derselben. Das städtische Kulturamt fragte nach, ob er das Abonnement für Platz Zwölf, Reihe Vier, im Stadttheater aufrecht erhalten wolle. Nein, wollte er nicht. Auch als Mitglied einer politischen Vereinigung, stand er nicht zur Verfügung, es sei denn, so ließ er mitteilen, sie könnte sich mit den Plänen des Ku-Klux-Klans einverstanden erklären. Das wiederum, wollte die Vereinigung nicht.

So kam es, dass man Conrad Stadler im letzten Sonnenlicht oft vor dem Cafe Ludwig wiederfand, und nicht am politischen Stammtisch der Klangegner. Er trank in aller Ruhe seinen Dämmerschoppen, lauschte dem letzten verbliebenen Straßenmusiker oder hörte sich die Sorgen von Erin, der türkischen Kellnerin an. Sie hatte sich mit einem verheirateten Mann eingelassen, noch dazu einem Deutschen, und machte sich große Sorgen was Allah und ihr Vater dazu sagen würden.

Conrad versicherte ihr, beide würden den Fehltritt verzeihen.

Als die Tage langsam spürbar kürzer wurden, saß er an einem frühen Morgen im Wartezimmer seines Hausarztes Doktor Plesser. Nichts Ernstes, nur ein bisschen Rückenschmerzen der vergänglichen Art. Ungewollt, und anfänglich wenig interessiert, musste er die Unterhaltung zweier jungen Frauen mit anhören. Eine der Beiden, lebte in einer Doppelhaushälfte am Stadtrand, zusammen mit ihrem Mann und ihrer sechsjährigen Tochter. Sie war völlig durch den Wind, hochgradig erregt und den Tränen nahe. Aus heiterem Himmel, wie sie sagte, hatte ihr Vermieter den weiteren Verbleib von zwei Katzen untersagt, die seit mehr als fünf Jahren bei ihnen lebten und der ganze Stolz ihrer Tochter waren. Er führte hygienische Gründe ins Feld, schickte Ungeziefer an die Front und pochte, falls das nötig sein sollte, auf sein verbrieftes Recht als sorgengeplagter Hausherr.

Die Katzen Kim und Phoebe mussten weg. Ehemann Alfred hatte sie nach langem hin und her, an diesem Morgen ins Tierheim gebracht.

Conrad Stadler war zeitlebens nicht der engagierte Tierschützer gewesen, aber die Geschichte um die beiden Katzen gefiel ihm ganz und gar nicht. Aus mehreren Gründen hielt er sie für ungerecht, sowohl gegenüber der sechsjährigen Tochter, als auch mit Blick auf zwei unschuldige Katzen. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, wie Kopfschmerzen nach einem gigantischen Fönsturm. Sie verfolgte ihn zur Terminvereinbarung von sechs, durch Doktor Plesser verschriebene Massagen, drängte sich in sein sonst erholsames Mittagsschläfchen und versaute das Kartoffelgratin, das er normalerweise mit verbundenen Augen auf den Teller zauberte. Am frühen Abend – Kartoffelgratin Versuch Zwei führte zum gewünschten Erfolg - setzte er sich mit einem Glas Rotwein in den Strandkorb, legte die Beine hoch und schloss die Augen.

Nach einer Weile wurde das Licht schwächer. Die Zeit war blockiert!

 

Ein paar Tage danach, bekam das Doppelhaus am Stadtrand ungebetenen Besuch. Aus einem Erdloch hinter den Mülltonnen kroch eine Kompanie Mäuse, grau, wuselig, ausgehungert, und machte sich auf die kurze Wanderschaft zu den Kellerabteilen des Hauses. Hausherr Rainer Schwarzmann, Betreiber eines Reformhauses in der Innenstadt, lagerte dort seine eisernen Vorräte an abgepackten Körnermischungen, Nüssen aller Art, geschroteten Samen und diversen biologisch einwandfreien Backzutaten. Aus Sicht der Mäuse ein wahres El Dorado. Der Schaden, den die gutausgebildete Schar unter seinen Vorräten innerhalb der nächsten Stunden anrichtete, war enorm. Außer einigen Flaschen erlesener Gemüsesäfte überlebte so gut wie Nichts die hinterhältige Attacke.

Einen Tag danach fuhr Ehemann Alfred, auf Wunsch von Hausherrn Schwarzmann, ein weiteres Mal zum Tierheim. Sein Auftrag lautete: Befreiung der beiden Katzen Kim und Phoebe und sofortige Rückführung der beiden in gewohnte Umgebung. Zweck der Aktion: Vollständige Niederwerfung, wenn möglich restlose Vernichtung der ungebetenen Eindringlinge. Der Plan ging auf. Kim und Phoebe schienen zu wissen, dass ihr weiterer Verbleib davon abhing, wie schnell und wie nachhaltig sie der Mäuseplage zu Leibe rückten. Innerhalb von vierzehn Tagen war das Massaker beendet. Die beiden Katzen erhielten daraufhin ein lebenslanges Bleiberecht. Rainer Schwarzmann behielt sein Reformhaus in der Innenstadt.

 

Am gleichen Abend saß Conrad Stadler wieder in seinem Strandkorb, trank ein Glas Rotwein, legte die Beine hoch und schloss zufrieden die Augen.

Nach einer Weile wurde das Licht über der Stadt intensiver. Die Zeit war entzerrt.

 

Erin, die türkische Kellnerin aus dem Cafe Ludwig, steckte in ernsthaften Schwierigkeiten. Vater Achmed war durch einen dummen Zufall hinter ihre Beziehung mit einem deutschen Mann gekommen, und als wäre das nicht Grund genug für ein paar private Reformen, hatten sie die Typen vom Autohaus Splitt auch noch kräftig über den Tisch gezogen. Grundsätzlich finanziell wackelig aufgestellt, war der einzig gangbare Weg aus der Misere, der endgültige Verzicht auf ausgedehnte Einkaufstouren durch hochpreisige Klamottenläden und die reumütige Rückkehr an Papas breite Brieftasche.

Der eigentliche Grund ihrer verzweifelten Lage, war der schwarze Sportwagen aus bayrischer Fließbandproduktion, das Geschenk ihres Vaters zum zwanzigsten Geburtstag. Sie hatte den Wagen an diesem Morgen zur Inspektion gebracht, wohlwissend, dass ihr aktueller Kontostand nicht viel mehr als einen flüchtigen Blick unter die Motorhaube abdecken konnte. Seit einem kurzen Anruf vor etwa zwanzig Minuten wusste sie, wie pikant die Situation tatsächlich war. De facto war ihr Konto vor zwanzig Minuten in einem glutroten Feuersturm aufgegangen. Erin hatte die teilnahmslosen Worte noch deutlich im Ohr: „Die Inspektion hat weitere Schäden an dem Fahrzeug ergeben. Aus Sicherheitsgründen mussten wir das elektrische Schiebedach austauschen. Da war nichts mehr zu machen.“

Exakt, dachte Erin, da war nichts mehr zu machen.

Das Autohaus Splitt stellte ihr eine vierstellige Summe in Rechnung. Fällig bei Abholung. Bar oder mit Karte?

Ihr Chef Otto Sander, Pächter des Cafés und Ex-Türsteher, geschult in vielen finanziellen Schräglagen, gab der Geschichte die entscheidende Wendung.

„Ausschlaggebend ist immer, was im Auftrag steht“, sagte er wissend. „Die Werkstatt darf nur das machen, was du mit Unterschrift abgesegnet hast. Bist du mit dem Austausch des Schiebedachs einverstanden gewesen, oder nicht?“

„Nein, Mann“, sagte Erin aufgebracht, „ich wollte nur die Inspektion.“

„Und genau das, und nichts anderes, steht im Auftrag?“

„Klar, ich hab das Ding hier.“ Erin kramte es aus ihrer Handtasche und hielt es Otto unter die Nase. Ein kurzer prüfender Blick genügte, der Auftrag zum Wechsel des Schiebedachs war nicht erteilt worden.

Otto Sander verschaffte seiner Kellnerin noch am gleichen Tag, einen Termin bei einem befreundeten Rechtsanwalt. Sie erstattete Anzeige gegen das Autohaus Splitt wegen grob fahrlässiger Täuschung und Betrug. Ihr Auto wurde bis zur endgültigen Klärung der Geschichte einbehalten. Ein großer Nachteil für Erin. Sie wohnte zusammen mit einer Freundin in der nächsten Stadt und war auf ihr Auto angewiesen. Mehr als auf ihren deutschen Liebhaber, dem Vater Achmet einen abgeschnittenen Pimmel in Aussicht gestellt hatte. Ohne Auto war sie aufgeschmissen. Voll krass, Alter!

Conrad Stadler wurde die Geschichte keine Stunde später zugetragen. Zwischen Dämmerschoppen und dem Abendfilm auf Kanal Zwei, erzählte ihm Erin persönlich die traurige Story ihrer unglücklichen Liebe zu einem deutschen Auto und einem deutschen Liebhaber, der, sollte ihr Vater nicht bald zur Vernunft kommen, in absehbarer Zeit ohne Pimmel herumlaufen würde. Seine Frage, wer ihr wichtiger sei, der Liebhaber oder das Auto, ging klar zum Vorteil eines schwarzen Sportwagens aus bayrischer Fließbandproduktion aus.

 

Am folgenden Abend setze sich Conrad mit einem Glas Rotwein in seinen Strandkorb, legte die Beine hoch und schloss die Augen. Nach einer Weile wurde das Licht schwächer. Die Zeit war blockiert!

 

Zuerst entdeckte der Wachmann das Loch im Drahtzaun, kreisrund gearbeitet, als wäre ein echter Künstler am Werk gewesen. Die Fußspuren im aufgeweichten Boden zeigten, dass mehrere Personen aus Richtung der nahen Zubringerstraße zur Autobahn Nürnberg gekommen waren, durch das Loch im Zaun stiegen und sich gleichmäßig über den Firmenparkplatz von Autohaus Splitt verteilten.

Als nächstes entdeckte der Wachmann einen arg mitgenommen Geländewagen der gehobenen Mittelklasse. Kühlergrill und Motorhaube fehlten gänzlich, ansonsten erschien er ihm äußerlich unbeschädigt. Einige Sekunden später entdeckte er die eingedrückte Glasscheibe auf der Fahrerseite. Lose Kabelenden quollen aus dem Armaturenbrett. Das Navigationsgerät war – soweit er das beurteilen konnte – fachmännisch ausgebaut worden.

An einer cremefarbenen Limousine fehlte das Steuergerät, die Scheinwerfer vorne und der Kofferraumdeckel. Nichts mit purer Gewalt entfernt, vielmehr präzise entnommen wie ein inneres Organ. Aus einem zweisitzigen Kabriolett waren das Sportlenkrad und die beiden handgenähten Ledersitze entfernt worden. Der Übeltäter hatte nach getaner Arbeit, sogar die Türen links und rechts wieder sorgfältig geschlossen. Es schien als würde er Autos lieben, auch wenn er sie ausnahm wie einen gefangenen Fisch.

Am schlimmsten hatte es einen schwarzen Sportwagen mit Schiebedach erwischt. Seine nackten Achsen standen auf Holzklötzen, Felgen und dazugehörige Reifen fehlten gänzlich. Der Innenraum war praktisch ausgeweidet, sogar die Sonnenblenden waren entfernt worden. Frei zugängliche Teile des Motors waren abgeschraubt. Zu diesem Zweck waren die beiden Kotflügel gewaltsam nach außen gebogen worden. Gleiches am Heck des Fahrzeuges. Die Schürze über den Auspuffrohren war fachmännisch abmontiert. Trotzdem hatten es Blechschäden zu Hauf gegeben. Aus der Sicht eines erfahrenen Gutachters, war der Wagen nur noch ein Haufen Schrott.

Inhaber Walter Splitt war auf Geschäftsreise, also wurde Geschäftsführer Hinrich Moltke-Schreiber zum Tatort zitiert. Er besah sich den Schaden und informierte die Polizei. Die Beamten einer erst kürzlich zusammengestellten Sonderkommision namens „OSTMARK“, erkannten anhand der Spurenlage sofort die Handschrift einer professionellen Diebesbande aus Osteuropa, die seit Jahren im süddeutschen Raum unterwegs war. Sie arbeitete auf Bestellung, wusste genau was geordert wurde und wo es zu finden war. Sie waren Profis, keine kleinen Gelegenheitsdiebe.

Moltke-Schreiber meldete den Schaden wie üblich der Versicherung und schickte seinem Boss eine kurze Mail.

Als der Gutachter der Versicherungsgesellschaft zwei Tage die Geschäftsbüros des Autohauses betrat, war der schwarze Sportwagen mit Schiebedach längst auf dem Schrottplatz gelandet. Das Autohaus Splitt hatte der Besitzerin des Wagens, Erin irgendwas mit oglu am Ende, ein großzügiges Angebot gemacht, das sie innerhalb von einer Stunde telefonisch angenommen hatte. Voller, großzügiger Schadensersatz für das zerstörte Auto, Rücknahme aller ausstehenden finanziellen Forderungen resultierend aus den Folgen eines falsch interpretierten Inspektionsauftrags und, falls gewünscht, kostenlose Bereitstellung eines Ersatzfahrzeuges für die Dauer von sechs Wochen. Einzige Bedingung: Sofortige Rücknahme der eingereichten Strafanzeige.

 

Und wieder saß Conrad Stadler mit einem Glas Rotwein in seinem Strandkorb, legte die Beine hoch und schloss zufrieden die Augen. Nach einer Weile wurde das Licht über der Stadt intensiver. Die Zeit war entzerrt.

 

Der Winter kam früh in diesem ersten Jahr seines Verweilens in der Kleinstadt nördlich von München. Mitte Oktober fiel der erste Schnee. Die Nächte wurden bitterkalt, in manchen Landesteilen sanken die Temperaturen bereits stellenweise unter null Grad.

Ende Oktober machte Conrad Stadler seinen Strandkorb winterfest. Er schlug den Innenraum mit goldfarbener Wärmefolie aus dem Sanitärfachgeschäft aus und stapelte Schaffelle – von Schafen aus natürlicher Aufzucht, wie man ihm beim Kauf versicherte – darüber. Links und rechts des Korbes platzierte er gasbetriebene Heizstrahler, deren Wärmeabgabe einem Kampfjettriebwerk neuerster Baureihe alle Ehre gemacht hätte. Über die Schaffelle warf er bunte Daunendecken, laut Hersteller hochgebirgsgetestet, und legte eine Wollmütze norwegischer Produktion bereit. Im Bodenfach hortete er einen kleinen Vorrat hochprozentiger Spirituosen. Strohrum aus Südtirol und selbstgebrannter Pflaumenschnaps aus Kroatien nahmen die besten Plätze ein.

Nach einer besonders stürmischen Schneenacht Anfang November, montierte er als ultimativen Windschutz eine zwei Meter breite und ebenso hohe Plexiglasscheibe an das Balkongeländer. Danach fühlte er sich bestens vorbereitet. Das obligatorische Glas Rotwein, ersetzte er durch einen Becher heißen Glühweinpunsch. Manchmal auch zwei. Scharfe, dampfende Gulaschsuppe tat ein Übriges, seine Körpertemperatur im Überlebensbereich zu halten. Er genoss die winterlichen Abende auf dem Balkon wie ein Junkie den ersten Schuss am Morgen. Vielleicht sogar mehr, das wusste er nicht so genau. Es fehlten ihm die Vergleichsmöglichkeiten.

Seine Mieter sah er nur selten. Seit die Temperaturen in den Keller gefallen waren, wie Aktien nach einem Börsencrash, frönten sie ihrem zurückgezogenen Lebensstil offenbar noch intensiver. Wenn sie mal ausgingen, was nicht sehr oft der Fall war, taten sie es leise und unauffällig. Sie schlichen über Treppen und Flure mit der Lautlosigkeit geübter Einbrecher. Und ebenso leise kamen sie wieder zurück.

Nach Monaten intensiver Nutzung, hatte der Strandkorb auf dem Balkon im dritten Stock, seine Anziehungskraft auf Nachbarn und Spaziergänger weitgehend verloren. Auch der dazugehörige verrückte Typ im pelzbesetzten Parka, etwa Fünfzig, scharf gezogener Seitenscheitel, sonst eher unauffällig, war zum gewohnten Anblick geworden. Er war eben einfach nur ein ruhiger verrückter Typ, fanden die Meisten. Er grölte keine schrägen Parolen durch die Nacht, warf nicht mit windigen Flugblättern um sich und belästigte niemand mit wüsten Beschimpfungen. Er saß einfach nur in seinem Strandkorb, nippte an einem Glas Rotwein und schlürfte einen Teller heißer Gulaschsuppe. Eine ältere Dame aus dem Haus gegenüber, teilte die allgemeine Meinung über den ruhigen Verrückten von der anderen Straßenseite nur zu einem gewissen Maß. Sie hatte Seltsames beobachtet. Mindestens zwei Mal in den zurückliegenden Monaten war ihr aufgefallen, wie das Abendlicht über der Stadt, kaum wahrnehmbar, für eine Sekunde schwächer geworden war. In beiden Fällen hatte der Mann mit hochgelegten Beinen, zufrieden lächelnd, mit geschlossenen Augen in seinem Strandkorb gesessen. Durch das Opernglas ihres verstorbenen Mannes betrachtet, mehrfach vergrößert und in allen Einzelheiten erkennbar, war ihr in beiden Fällen ein kalter Schauer über den gekrümmten Rücken gelaufen.

Conrad ahnte von all dem nichts. Trotz immer tiefer sinkender Temperaturen, unternahm er weiterhin lange Spaziergänge über verschneite Wiesen, vorbei an abgemähten Stoppelfeldern und verlassenen Viehweiden. Er trank seinen Morgenkaffee nach wie vor im Cafe Ludwig, empfahl Erin, der türkischen Kellnerin, zum hundertsten Mal sich endlich von ihrem deutschen Liebhaber zu trennen und studierte dabei die spärlichen Lokalnachrichten in der Tageszeitung. Manchmal gesellte sich Otto Sander, ausrangierter Türsteher und Pächter des Cafés zu ihm, trank einen frühen Pastis, oder sonst einen goldigen Wachmacher und erzählte Schauermärchen über seine charismatische Ehefrau. Eines seines Lieblingsthemen, obwohl Gott und die Welt wusste, dass er seine Frau abgöttisch liebte. Und das in jeder erdenklichen Lebenslage. Mit der gleichen Hingabe liebte er seine heranwachsende Tochter, obwohl sie eigentlich rund um die Uhr nur Mist baute.

„Ich war in ihrem Alter genauso“, führte Otto Sander nachdenklich aus, „hab nur Blödsinn gemacht, gekifft wie ein Weltmeister und die Lehrer in der Schule nach Strich und Faden verarscht.“

„Tolles Leben“ antwortete Conrad, „klingt als hättest du viel Spaß gehabt, damals.“

Otto nippte vorsichtig an seinem Pastis. „Mag sein, aber was hat es mir gebracht? Muss mich jeden Tag mit blöden Typen rumärgern, hab ständig Zoff mit dem Gewerbeaufsichtsamt und trinke zu viel.“

„Tolles Leben“, wiederholte Conrad grinsend, „hab ich doch gesagt.“

Otto grinste zurück. Als er zu seinem kleinen Büro rechts hinter der langen, schlechtbesuchten Theke ging, fiel Conrad zum wiederholten Mal seine nach links geneigte Körperhaltung auf. Ein Andenken an seine Zeit als Türsteher.

 

Der Winter kam und ging wie eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft, an die man sich schon kurz nach der Trennung nicht mehr erinnert. Was von ihm blieb, war die Erinnerung an viele entspannte Stunden in einem Strandkorb, köstlich gewürzte heiße Gulaschsuppe und amüsante Gespräche mit Otto Sander, der sich über den Winter hinweg zu einem echten Freund mauserte. Dem Pächter seines Stammcafes, und damit gottgegebener Beichtvater für die meisten seiner unterschiedlichsten Gäste, wurden Neuigkeiten meist früher zugetragen als dem Stadtpfarrer oder den alten Weibern vom Wochenmarkt. Otto Sander war ein wandelndes Informationsbüro. Und er erzählte gerne, wenn seine Frau nicht in der Nähe war.

Mit den ersten Sonnentagen Ende März, tauten die Stadt und Otto Sander so richtig auf. Laufkundschaft entdeckte das Cafe plötzlich wieder als Anlaufstelle für einen gemütlichen Plausch und brachte ordentlich Bares in die Kasse. Es vertrieb die winterlichen (meist männlichen) Dauerparker von den besten Thekenplätzen, die dort oft stundenlang vor einem Bier gesessen und dummes Zeug gequatscht hatten. Die Sommerkundschaft quatschte zwar ebenso viel dummes Zeug, fand Otto, machte aber deutliche höhere Rechnungen.

Zudem brach eine wahre Flut aufgestauter Neuigkeiten, bis dahin unterdrückter Gerüchte und neuester, noch unbestätigter Vermutungen über das Cafe und Otto Sander herein. So erfuhr Conrad Stadler, von Hermine Prist, die das Cafe Ludwig noch nie in ihrem ganzen Leben betreten hatte und trotzdem in diesem Frühjahr in aller Munde war.

 

Die ältere Dame von gegenüber war nicht auf ihrem Beobachtungsposten, als Conrad noch am gleichen Abend mit einem Glas Rotwein in seinem Strandkorb saß, die Beine hoch legte und zufrieden die Augen schloss. Nach einer Weile wurde das Licht schwächer. Die Zeit war blockiert.

 

Hermine Prist war beinahe siebzig Jahre alt, lebte allein in einem kleinen Haus am südlichen Stadtrand, Tag und Nacht umgeben von einem löchrigen Holzzaun und einem fußballfeldgroßen Obstgarten. Das Herz in ihrer Brust schlug immer noch kraftvoll, aber manchmal im falschen Takt. Es leistete sich hin und wieder kurze Aussetzer, wie ihr alter Fernseher. Leider immer nur dann, wenn das Programm besonders spannend war. Ihr behandelnder Arzt hatte ihr schon vor Monaten geraten, ins Altersheim, oder in ein anderes alternatives Haus mit betreutem Wohnen zu ziehen. Dort konnte ihr sofort geholfen werden, falls das Herz sich wieder einen Aussetzer leisten sollte. Oder Schlimmeres.

Hermine gefielen die Worte des Arztes noch weniger, als die gelegentlichen Aussetzer ihres störrischen alten Herzens. Dennoch hatte der betagte Kurpfuscher aus der Oberstadt natürlich recht. Schlimmeres hörte sich nicht gut an, es hörte sich an, als müsse sie vielleicht bald auf ihren alten Fernseher gänzlich verzichten. Also entschloss sie sich, ein letztes Mal in ihrem Leben ein gehorsames Mädchen zu sein.

Sie machte Kassensturz (auch dies vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben), stellte sämtlichen Besitz zur Disposition und erkannte rasch, dass ihre kleine Rente und das bisschen Geld auf ihrem Sparbuch, nie und nimmer ausreichten würden ihren Plan in die Tat umzusetzen. Blieb nur noch ein Ausweg. Das Haus, der Obstgarten, die alte Linde unten am Bachufer, alles musste verkauft werden. Und sie wusste auch schon an wen. Clemens Wagner, Besitzer der Baumschule, deren weitläufiges Areal östlich direkt an ihren Obstgarten grenzte, hatte schon lange ein Auge auf ihr Grundstück geworfen. Sein Kaufangebot aus dem vergangenen Jahr, war jedoch so verschwindend gering gewesen, dass sie ihm wütend die Tür gewiesen hatte. Das aus dem Takt geratene Herz in ihrer Brust, änderte die Sache jetzt augenscheinlich von Grund auf. Andere Bewerber für das Grundstück gab es nicht. Ohne ein echtes Wunder, würde sie das Angebot von Wagner annehmen müssen.

Die alte Dame stand reglos am Küchenfenster und starrte auf den verwilderten Obstgarten hinaus. Hinter der alten Linde, am jenseitigen Bachufer, saß auf einer Parkbank ein etwa fünfzigjähriger Mann in Wanderkleidung. Neben ihm stand ein blauer Rucksack, weit offen, überzogen mit einer Menge bunter Aufnäher. Hin und wieder trank er aus einer Plastikflasche irgendeine zitronengelbe Flüssigkeit und biss in ein belegtes Brötchen das zur Hälfte mit Alufolie umwickelt war. Auf seinem Kopf saß ein faltiger Hut mit heruntergezogener Krempe, der sein gesamtes Gesicht in tiefe Schatten tauchte.

Nach einer Weile erhob er sich, packte sämtliche Abfälle und die leere Plastikflasche in den blauen Rucksack und entfernte sich in Richtung Baumschule Wagner. Eine Minute später war er verschwunden.

 

Clemens Wagner war gerade mit seinen Sorgenkindern, den Lorbeerbüschen beschäftigt, als der Mann in Wanderkleidung auftauchte. Er sah schrecklich aus. Seine Schuhe waren stark verschmutzt, die Hose kniehoch völlig durchnässt, Karohemd und Windjacke hatten ebenfalls dringend eine umfassende Reinigung nötig. Seine Hände (keine Hände die zupacken können, stellte Wagner fest) zeigten viele kleine blutige Verletzungen. Unter einem faltigen Hut mit heruntergezogener Krempe, lugte ein Bündel verschwitzter grauer Haare hervor. In der Seitentasche seines blauen Rucksacks, steckte eine zusammengerollte Tageszeitung. Er deutete nach rechts, über den Innenhof hinweg, auf ein randvolles Wasserbecken vor den langgezogenen Gewächshäusern und sagte: „Wenn es ihnen recht ist, würde ich mir gerne den Dreck aus dem Gesicht waschen, ehe ich in die Stadt zurückkehre.“

Wagner vollführte eine einladende Handbewegung. „Immer zu“, sagte er ruhig, „immer zu.“ Er lächelte belustigt. „Nehmen sie den Wasserschlauch, das Regenwasser benutzen wir nur um die verschmutzten Geräte zu reinigen. Nichts für ein Stadtgesicht.“

„Danke“, sagte der Mann, „das werde ich mir merken.“ Er stellte seinen Rucksack neben dem Wasserbecken ab und zog mit spitzen Fingern die Windjacke von den Schultern. Etwas übertrieben, faltete er sie äußerst sorgfältig zusammen und legte sie auf einen Stapel Feuerholz. Aus einer der Seitentaschen fielen ein halbes Dutzend Münzen und rollten über die Pflastersteine am Beckenrand. „Kleine Scheißdinger“, sagte der Mann grinsend. Er ging in die Knie, beugte sich über die Münzen und verstaute sie wieder in der Jackentasche. „Hab sie vorne bei der Parkbank gefunden, auf Höhe der alten Linde am Bachufer.“

„Ich kenn die Stelle“, antwortete Clemens Wagner, „bin selbst ab und zu da.“

Der Mann nickte verständnisvoll. Er brauchte etwa fünf Minuten, um sich und seine Kleidung wieder halbwegs stadttauglich zu machen. Ein Gentleman sah anders aus, aber ein Penner aus dem Stadtpark in Bahnhofsnähe, hätte ihn um sein Aussehen mehr als beneidet. Er bedankte sich und verschwand mit ausladenden Schritten auf der holprigen Zufahrtsstraße Richtung Innenstadt.

Clemens Wagner wartete einige Augenblicke, beugte sich dann über die Stelle an der die Münzen aus der Jackentasche des Fremden gefallen waren und vergrub seine Finger in ein Grasbüschel, dicht neben dem aufgeschichteten Stapel Feuerholz. Er musste nicht lange suchen, bis er die Münze gefunden hatte. Er warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie in seine Hosentasche. Es bestand die Möglichkeit, dass der Fremde sie vermissen und im nächsten Moment zurückkehren würde. Er wandte sich wieder seinen Sorgenkindern, den Lorbeerbüschen zu.

In der Mittagspause zeigte eine kurze Recherche im weltweiten Netz, dass die Vorderseite der Münze den römischen Kaisers Hadrian darstellte und aus dem vierten Jahrhundert nach Christus stammte. Das einzige Wort das Wagner dazu einfiel war Volltreffer.

Am Abend – seine Frau leitete einen Kurs über angewandte Botanik an der städtischen Volkshochschule – setzte er sich auf die Parkbank gegenüber der alten Linde am Bachufer, und erinnerte sich an die Worte des schmutzigen Fremden vom Vormittag des gleichen Tages: Hab sie vorne bei der Parkbank gefunden, auf Höhe der alten Linde am Bachufer.

Die Spuren im morastigen Boden waren eindeutig, der schmutzige Fremde war hier gewesen. Da waren Fußabdrücke am Bachufer, abgerissenen Strauchwerk und gewaltsam aufgebrochenes Wurzelwerk. Die Schneeschmelze hatte die alte Linde stellenweise unterspült und große Erdbrocken sowie Teile des darunterliegenden Kiesbetts abgetragen. Er trat nahe an das Bachufer heran und sah sofort die Schuhabdrücke am Grund des Bachbetts. Bingo, der schmutzige alte Drecksack hatte die Münzen also nicht auf dieser Seite des Baches gefunden, sondern drüben am anderen Ufer, vermutlich unter dem freigelegten Wurzelwerk der alten Linde.

Dort drüben, am anderen Bachufer, regierte uneingeschränkt Hermine Prist, alt, streitsüchtig und jedem seiner Kaufangebote feindlich gesinnt. Er musterte das kleine Häuschen hinter den Obstbäumen mit einem wütenden Blick. Nach einer Minute sah er das Gesicht von Hermine hinter dem Küchenfenster auftauchen. In ihren Augen war ein kalter, beinahe feindlicher Ausdruck. Das Herz in ihrer Brust schlug immer noch kraftvoll, wenn auch hin und wieder im falschen Takt.

Dass Hermine im Lauf des Vormittags Besuch von einem ziemlich ramponierten Wandersmann erhalten hatte, ahnte Clemens Wagner nicht im Entferntesten.

 

Am nächsten Vormittag einigten sich Hermine und Clemens Wagner auf einen Verkaufspreis, der aufgerundet beinahe zehn Mal höher lag als das ursprüngliche Angebot. Hermine verbrachte noch einige sorgenfreie Jahre im städtischen Altersheim in der Heilig-Geist-Gasse. Clemens Wagner durchkämmte monatelang mit modernster Technik einen fußballfeldgroßen Obstgarten, fand aber außer einigen rostigen Nägeln und einem verbogenen Hufeisen nichts, was den Aufwand gelohnt hätte.

 

Conrad Stadler lieferte sich mit seinem Strandkorb einen langen Kampf auf Leben und Tod. Er verlor ihn. Zehn Jahre, nachdem er der Oberfinanzdirektion den Rücken gekehrt und zum Abschied in einen monströsen Blumentopf gepinkelt hatte, saß er drei Tage vor seinem sechszigsten Geburtstag, in seinem geliebten Strandkorb, nippte an einem Glas Rotwein, legte die müden Beine hoch und schloss zufrieden die Augen.

Das Licht über der Stadt wurde langsam schwächer. Seine Zeit war abgelaufen.

 

- ENDE -

 

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