8.45 Uhr, immer noch nicht topfit, aber es ging mir wesentlich besser, als zuvor.
Alle Fernsehsender, die ich empfangen konnte, waren in brasilianischer Sprache.
Zum Frühstück gab es mein mitgebrachtes Sojamüsli, und meine importierte H-Milch. Der heiße, grüne Tee fehlte mir….
Nach dem Frühstück erledigte ich die Aufzeichnungen vom 7./8. Juli 2005.
Programmpunkt Nr. 1 war einen Geldautomaten zu finden, und einkaufen zu gehen.
Ich stylte mich natürlich dezent, und in keiner Weise auffallend. Jeans, Hemdbluse, dunkelblaue Lederhalbschuhe, kleine Handtasche. Ich wollte wie eine Einheimische wirken.
Ich merkte mir die Ausgangsposition und ging zu Fuß los.
Reiche Prachtbauten umrangt von hohen Mauern, meist mit Stacheldraht darauf, dazu die Fenster vergittert und Eisentore überall. Zwischen diesen Häusern, immer wieder heruntergekommene, verwahrloste Bauten aneinandergereiht. In diesen Häusern, Parterre, waren gepflegt wirkende Shops, mit riesigen Aufschriften über den Eingangsbereichen. Von Deutscher Gründlichkeit und vom Bauamt keine Spur. Keiner schreibt hier vor, wo und wie das Haus, auf dem Grundstück, zu stehen hat. Welche Dachneigung das Haus haben soll, wie weit es vom Bürgersteig entfernt, wenn überhaupt, entfernt sein muß. Niedrige Häuser, Hochhäuser mit 5/ 7 Etagen, alles durcheinander, das traf auch auf die Baumaterialien zu. Völlige Gestaltungsfreiheit. Das brachte dann mit sich, daß gewisse Personenkreise die Bürgersteige nicht oder nur sehr schwerlich begehen konnten. Mal war ein einziger Bürgersteig breit, mal schmal, mal gepflastert, mal zum Stolpern, mal einladend mit Gewächsen und wunderschönen Blumen, ein anderes Mal mit tiefen Löchern versehen. Es schien, als sorgten oder auch nicht, die Haus- und Grundstücksbesitzer sich selbst um ihr kleines Stückchen Bürgersteig. Daraus ließ sich ableiten, so wie das Haus war, so sah auch der Bürgersteig aus. So konnte auch ein einziger Bürgersteig enorme Höhenunterschiede haben, bis zu oder über 30 cm waren keine Über- oder Untertreibung. Dazu kamen noch die Löcher in den Bürgersteigen. „Hans guck in die Luft“ aus unserer deutschen, volkstümlichen Literatur, käme ganz sicher noch nicht einmal bis zum Wasser. ;-)
Nun gut, ich wanderte vollkommen achtsam, mit fest am Körper gepreßter kleiner Handtasche, in dem Bewußtsein jederzeit überfallen werden zu können, die Straßen entlang, mit eingeschaltetem Orientierungssinn. Ich wußte, daß ich das Wichtigste direkt am Körper zu tragen hatte, und ein bißchen Kleingeld, für den Fall eines Überfalls, im Portemonnaie dabei haben sollte. Und trotzdem, neugierige Blicke waren ständig meine Begleiter. Frauen schauten mir direkt in die Augen, und lächelten mich dezent an, nein, sie strahlten mich an.
Beim Überqueren der Straßen herrschte, da wo ich war, pure Lebensgefahr. Vom 30 cm hohem Bürgersteig, über die mit Löchern gepflasterte Straße, auf den uneben, hohen, gegenüberliegenden Bürgersteig zu kommen, war schon eine Herausforderung. Dabei schaute ich auf die Autofahrer, und beinahe hätte mich doch tatsächlich eine Autofahrerin an- oder umgefahren. Ich schaute, als ich mich in Sicherheit gebracht hatte, der Dame nach, und bemerkte, daß sie sich wohl selbst erschrocken hatte, denn sie fuhr nur zögerlich weiter. Vielleicht wollte sie sich ja auch nur vergewissern, ob ich überlebt hatte….
Danach gings weiter. Endlich kam ich zu den Geschäften mit schwarzen, weißen Menschen, Menschen mit afrikanischer, europäischer, indianischer Abstammung. Ich sah Alte, Junge, Wartende, Erzählende, Sitzende, Stehende und Laufende. Eine lebendige, gemütliche Betriebsamkeit war zu vernehmen. Harte Gesichtszüge ließen auf Einiges schließen, oder Manches erahnen.
Ich sprach eine Dame, die gerade ihr Eingekauftes in den Kofferraum verstaute, auf Brasilianisch an. Sie schaute auf, verstand mich gleich, und zeigte auf einen Supermarkt. Ich ging zu ihm, doch ich konnte am Geldautomaten nur „defeito“ (defekt) lesen. Die Frau erinnerte sich wohl an den Apparat, kam zu mir, und erzählte auf Brasilianisch, daß sie mit ihrem Mann ihte eingekauften Sachen, im Kofferraum, verstauen wollten, und daß sie mich mit ihrem Taxi zu einem anderen Automaten mitnehmen würden. Ich checkte gleich die Situation, und wußte, daß von ihnen keine Gefahr ausgehen würde. Ich stieg ins Auto, und nach kurzer Zeit war es soweit. Das Auto hielt an, der Mann der Dame begleitete mich zum Automaten, und wartete höflich, mit Abstand von mir, auf mich. Es war nichts zu machen. Die Automaten, gleich fünfzehn, alle von Banco do brasil nebeneinander gereiht, nahmen meine Kontokarte nicht an. Ich hatte in Deutschland, vor meiner Abreise, das Konto eigens eröffnen lassen, um eventuelle Probleme erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch was nun? Der Herr, der es gut mit mir meinte, war sprachlos. Ein anderer, jüngerer, größerer und schlanker Herr bekam unsere Hilflosigkeit mit, und sprach mich in englischer Sprache höflich an. In dem Moment verabschiedete sich der andere Mann mit Handschlag von mir, und ich bedankte mich für seine Mühen. Doch bevor er ging, bat er den Herrn auf Brasilianisch doch für meine Begleitung zu sorgen. Ich erzählte dem Mann von meinem Problem, doch er wußte gleich andere Geldautomaten. Als dann seine Gattin zu uns kam, schilderte er kurz die Lage und beide luden mich ein, mit ihnen zu fahren. Neuer Apparat, neues Glück. Doch das klappte, wie sich herausstellte, auch nicht.
Angst? Nein, die hatte ich nicht. Meine gute Menschenkenntnis und mein Wissen darum, daß die Menschen, die in Brasilien Englisch sprechen, daß das gebildete Leute sind, gab mir schon Sicherheit, und das bestätigte sich erneut. Der Herr, den ich zuletzt kennengelernt hatte, war Universitätsprofessor für Geschichte, und fing gleich im Auto an mir von Lenin und Marx zu erzählen. Seine Gattin war ebenfalls Lehrerin für Geschichte. Während der Autofahrt unterhielten wir uns in Englisch über sämtliche Dinge. Zum Abschied, als sie mich zum Hotel zurückgebracht hatten, nahm mich die Frau in die Arme, drückte und küßte mich rechts und links auf die Wangen und sagte, daß der Stadtteil, in dem ich wäre, sehr gefährlich sei. Der Mann verabschiedete mich ebenfalls sehr herzlich mit Handschlag, und flüsterte mir zu, daß es so gefährlich, wie es seine Frau darstellte, doch nicht sei. Er wünschte mir zum Schluß viel Glück für mein Tun. Ich erzählte ihnen zuvor, daß ich Brasilianisch lernen wollte, und das mein Thema „Straßenkinder“ heißen würde.
Nun hatte ich aber immer noch kein Geld. Was nun?
Im Hotel, an der Rezeption, fragte ich später einen jungen Mann in Englisch, ob er nicht eine Postbank oder Ähnliches kennen würde. „Nein“, erklärte er, und bot mir an, mich mit dem Auto zum Flughafen zu fahren. Auch dort rückte mir die „Banco do brasil“ nichts heraus. Wir fuhren zum Hotel zurück. Ich holte mein bereits in Deutschland eingetauschtes Notgeld in Brasilianischer Währung, und kaufte im nahe gelegenem Supermarkt die wichtigsten Dinge.
Mein Hunger machte sich bemerkbar, und ich beschloß den Tag allmählich gegen 18 Uhr ausklingen zu lassen. Zudem wußte ich, daß ab 17.30 Uhr kein Ausländer, vor allem keine Frau, auch keine einheimische Frau, auf der Straße zu sehen sein soll. Was hieß das?
Die arbeitende Bevölkerung zog sich zurück, und regelrechte Banden, so nahm ich an, zogen durch die Straßen und demonstrierten ihre Macht. Laute Musik, Autorasereien, Gebrülle, Gehupe, auch Schießereien, Schreierei, Polizeisirenen bis in die Morgenstunden hinein, ließen auf nichts Gutes schließen.
Ich erinnerte mich, als ich am Nachmittag allein unterwegs war, folgte mir eine Zeitlang ein Auto mit Gehupe. Ich tat, als hätte ich nichts bemerkt, ignorierte es, und ging meiner Wege. Das Auto verfolgte mich bis zum Hotel.
Es war schwierig für mich zu verstehen. Auf der einen Seite wohnten hier sehr gebildete Menschen voller Energie, zogen ihr Ding durch, waren materiell gut gestellt, und andererseits saßen Menschen auf den Bürgersteigkanten, aßen dort, hatten wohl nichts zu tun, und machten zudem einen ärmlichen Eindruck.
Das waren krasse Gegensätze!
Als ich im Supermarkt meine ausgesuchten Sachen bezahlte, packte ein schwarzer Jugendlicher sie in Plastiktüten, und stellte sie zurück in den Einkaufskorb. Anschließend fragte er mich, ob er mir den Korb zu mir nach Hause fahren dürfte. Ich fragte kurz die Kassiererin, ob das mit dem Wagen okay sei, und dann schob der junge Mann den Einkaufskorb die Straße hinauf, zum Hotel. Ich wußte gleich, daß er sich so etwas Geld verdienen wollte. Ich erlaubte es ihm gern. Er schaute mir zum Abschied lächelnd und dankbar in die Augen, als ich ihm einige Münzen in die Hand drückte. Er nickte mehrmals bejahend mit dem Kopf, strahlte und sagte, daß er mir gern wieder helfen würde.
Brasilien ist eine junge Demokratie. Schnelle und gute Konzepte für gewisse Bevölkerungskreise sind zwingend erforderlich. Bleibt es bei der Armut, greift sie noch weiter um sich, wird die Anarchie noch stärker. Was hat Präsident Lula der Bevölkerung versprochen? Er, der selbst aus der Arbeiterschicht kam, der die Armut kannte, wollte sich um die Ärmsten, um die Vertriebenen, besonders kümmern…
Und ich fragte mich am Ende des Tages: „Was tue ich eigentlich hier?“…
Anna Elisabeth Hahne
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2017.
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