Christian Dolle

Abraham

Obwohl es schon spät war, saß Abraham immer noch mit Brian am Computer und arbeitete. Schon ein paar Mal hatte Brian ein Gähnen nicht unterdrücken können, doch Abraham ermahnte ihn immer wieder, er wolle heute noch mit den Tests fertig werden. Er war eben von ganzem Herzen Wissenschaftler und konnte es nicht leiden, eine Arbeit auf morgen zu verschieben. Brian nannte ihn oft ein richtiges Arbeitstier, aber er selbst hielt sich einfach nur für gewissenhaft und wusste auch, wie wichtig seine Arbeit für das Institut war. Ohne ihn ging hier gar nichts, er war sozusagen das Herz der Forschungsabteilung, doch er wusste, mit dieser Verantwortung umzugehen. Dabei war er erst seit wenigen Jahren Mitglied im Team, damals hatten sie ihn aus seiner Heimat hierher beordert, erklärten ihm, dass sie seine Hilfe brauchten, und nachdem die erste Hürde genommen war und er endlich ihre Sprache erlernt hatte, war er schnell mit seinen Forschungen vorangekommen und hatte dem Institut erstaunliche Erfolge eingebracht. Er hatte vor etlichen Kongressen gesprochen, war sich am Anfang seiner Sache lange nicht so sicher gewesen wie heute, doch je mehr er erkannte wie innovativ und wichtig seine Forschungen waren, desto sicherer wurde er sich seiner Sache und desto verbissener steigerte er sich in seine Arbeit hinein. Wenn ihm seine Popularität zu Beginn seiner Karriere noch fremd und bedrückend vorgekommen war, so gab es ihm inzwischen Bestätigung, wenn er mehr Publikum auf seinen Kongressen anzog als sonst irgendein Wissenschaftler im Land.

Doch jetzt konnte auch er seine Müdigkeit kaum noch zurückhalten, aber als Brian erneut den Vorschlag machte, die Sache auf morgen zu verschieben, erklärte er nur: „Nein, Brian, wir werden das heute beenden. Und wenn wir müde werden, ist das nur ein Grund, schneller zu arbeiten.“

Brian schüttelte den Kopf, beugte sich dann aber wieder über den Computer. Abraham war froh, dass er nicht wie schon manchmal davon anfing, seine Frau und seine Kinder würden zuhause auf ihn warten, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sie deswegen Streit bekämen. Es kam ab und zu vor, dass Brian mit dieser Entschuldigung einfach die Arbeit beendete, wofür Abraham kein Verständnis aufbringen konnte. Die Wissenschaft hatte für ihn absolute Priorität, und das nicht nur, weil er selbst keine Familie hatte. Wenn man an einem Projekt solcher Bedeutung arbeitete, so meinte er, müsse man seine ganze Kraft darin investieren, und das Privatleben musste dann eben zurückstecken. Brian sah das leider nicht so und meinte, sie haben ihren großen Durchbruch schon geschafft und können nun etwas kürzer treten, doch eigentlich fing das Projekt jetzt erst an, interessant zu werden, und Abraham war sicher, sie würden noch einige wissenschaftliche Erfolge einfahren. Genaugenommen war er gerade zu besessen von dem Gedanken, irgendwann mehr als nur Popularität mit seinen Ergebnissen zu erlangen.

„Brian,“ fragte er jetzt, „meinst du, wir haben die Chance, irgendwann den Nobelpreis zu bekommen?“

Brian sah ihn an, verzog den Mund zu einem Lächeln und schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, Abe, ich glaube nicht, dass das möglich ist. Wir haben etliche andere Preise bekommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man dir einen Nobelpreis verleihen würde.“

„Und wieso nicht? Sind unsere Forschungen zu populärwissenschaftlich? Oder gibt es andere Projekte, die weiter sind als wir?“

Brian konnte sich jetzt ein Lachen nicht verkneifen, fing sich aber sofort wieder als Abraham ihm einen strengen Blick zuwarf. „Entschuldige, aber ich habe mir gerade bildlich vorgestellt, wie sie dir einen Nobelpreis verleihen.“

Und dann setzte er hinzu: „Aber das geht einfach nicht.“

„Warum sollte das nicht gehen? Nur weil ich Ausländer bin?“

Langsam wurde Abraham ungehalten. Er hatte genügend Menschen gesehen, die einen Nobelpreis bekommen hatten, auch Latinos, Farbige und Japaner, warum also nicht auch er? Wusste denn niemand außer ihm seine Forschungen wirklich zu schätzen?

Brian legte jetzt den Arm um seine Schultern und sah ihn tröstlich an.

„Nein, Abe, das geht wirklich nicht. Und wenn das wirklich ein Traum von dir ist, dann schlag es dir bitte aus dem Kopf. Bitte.“

Abraham schluckte schwer. Der Nobelpreis war nicht einfach nur ein Traum, sondern sein festes Ziel, sozusagen der Sinn seiner Arbeit, oder zumindest die einzige Anerkennung, die ihn für all die Jahre entlohnen würden, denn schließlich hatte er für das Projekt seine Familie und darüberhinaus sogar noch seine Heimat aufgeben müssen.

„Brian,“ setzte er erneut an, „dann nenne mir bitte mal einen guten Grund, warum das nicht gehen sollte.“

„Komm mal mit“, forderte Brian jetzt, erhob sich und zog Abraham hinter sich her aus dem Büro hinaus und auf die Toilette. Dort wies er auf den mannshohen Spiegel und forderte Abraham auf, hineinzusehen. Widerwillig, weil er sich fragte, was die Aktion sollte, stellte er sich vor den Spiegel und sah hinein. Aus der Welt hinter dem Spiegel blickte ihm ein ziemlich großer Gorilla entgegen, ein Gorilla mit frisch gebügeltem Hemd und Krawatte, den ein Forscherteam vor einigen Jahren aus dem Dschungel geholt hatte, um ihm das Sprechen beizubringen und seine Intelligenz zu erforschen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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