Ach, nach langer Zeit endlich einmal wieder eine Italien-Reise! Verheißungsvolle Sommerfahrt auf den Spuren von Goethe, Shelley, Stresemann und Opa (Isetta 1959). Mit der Bahn nach Locarno, dann mit dem Schiff nach St.Nazarro, in den Bus gesprungen und nach 15 Minuten am Zielort kurz hinter der Schweizer Grenze. Das war des Reisenden jüngster Plan. Ob mein alter Kombi sich noch einmal durch die Berge würde quälen können, war doch sehr fraglich. Lieber kein Risiko eingehen und dann anschließend mitleidig von einem “Gelben Engel” belächelt werden. In seligen, sicherlich leicht verklärten Erinnerungen an alte Interrail-Zeiten schwelgend, entschloss ich mich leichter Hand, für die italophile Frau an meiner Seite und mich eine Fernreise mit der Bahn zu buchen. Vergleichsweise günstiger Preis, nur dreimal umsteigen, Platzreservierung und annehmbare Abfahrtzeiten: Wer könnte da Einspruch erheben, wenn sich zudem jegliche Stau-Traumatisierung vermeiden ließ? Selbst die neudeutsche Verspätungsneigung konnte da nicht mehr schrecken – schließlich war Urlaubszeit, mit der sich verschwenderisch umgehen ließ. Entspannt und beseelt von der Aussicht, bald wärmere Gefilde zu erreichen, bestieg man den fast pünktlich eintreffenden Zug.
Allein, in Zeiten vermeintlichen Glücks neigt der Mensch allzu leicht zum schwärmerischen Hochfliegertum. Das anhaltende Lamento meiner Weggefährtin unterschätzend, dass die selige Zeit der Ferrovia-Schlafwagen leider passé sei, erging ich mich in der maßlosen Überschätzung meiner körperlichen Widerstandskraft gegen die Folgen einer schlaflosen Nacht. Erzählerisch lassen sich dreißig Jahre mit Leichtigkeit überspringen, körperlich eindeutig nicht! Golemsgleich torkelte ich in am Ankunftsort Locarno meinem zweiten, teuer bezahlten Kaffee entgegen: Franken vergessen, na schön!. Für etwas Sonnenschein und italienisches Flair nahm ich die harte Schweizer Preisrealität gerne in Kauf. Endlich die ersehnte Fähre bestiegen, entschlossen wir uns, einmütig wie verliebte Studenten auf großer Fahrt, einfach an Bord zu bleiben und zu sehen, wohin uns das navale Schicksal tragen würde. Warum nicht die Isole di Brissago schon am ersten Tag mitnehmen? Meine kunstgeschichtlich versierte Begleiterin hatte dereinst eine Forschungsreise dorthin unternommen und wusste nur Zauberhaftes von dort zu berichten. Als wir die Hauptinsel betraten, nahm ich jene botanische Pilgerstätte nur noch rauschhaft wahr, in lemurenhafter Gewissheit, dass die exotischen Inselgewächse nach über 70 Jahren erstmals wieder die Ankunft einer Gestalt aus dem Schattenreich wahrnahmen. Wie wir von dort wieder zurückkamen und schließlich in das für uns reservierte Appartement gelangten, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur, dass es sich göttlich anfühlte, endlich sämtliche Glieder strecken zu können. Noch beim Schreiben dieser Zeilen muss ich wieder gegen den Schlafimpuls ankämpfen.
Dem wiedererwachten Bewusstsein wurde eine schmerzliche Erkenntnis gewahr. Nachträglich hiermit die Ehrenmitgliedschaft im Bielefelder Alpenverein beantragend, hatten wir uns unwissentlich – Ursprung allen wahren Heldentums – dafür entschieden, in Zeiten grenzenloser Mobilität die Reize der relativen Immobilität wiederzuentdecken. Ausgerechnet am Lago Maggiore, wo internationale Schickeria, alter Geldadel und Neureiche ihre Sportwagen, Luxus-Oldtimer, Edel-SUVs und Luxusyachten zur Schau stellen, waren wir einzig auf Bus und Bahn und die gottgegebene Gehmuskulatur angewiesen. Letztere war in besonderem Maße gefordert, denn die Internet-Ankündigung einer “grandiosen Aussicht auf den Lago” war keineswegs übertrieben, was jedoch bedeutete, dass wir uns diese täglich erst mühsam “erarbeiten” mussten. Hätte man sicher antizipierend messerscharf schlussfolgern können: Keine Aussicht ohne Berg!
Erfreulicherweise waren die Verspätungen der an unserer allmorgendlich aufgesuchten Bushaltestelle eintreffenden Vehikel kaum häufiger als bei der italienischen Staatsbahn, die nämlich auf dem uns zugeteilten Streckenabschnitt gar nicht mehr fuhr. Ein halbes Jahr Pause wegen dringend erforderlicher Gleisarbeiten, und der unmittelbar in unserem Ferienidyll gelegene kleine Bahnhof erinnerte zu diesem Zeitpunkt bereits fatal an die Eingangssequenz des berühmtesten aller Italo-Western: C´era una volta ... Für jeden Linienbus, der fahrplangemäß auch tatsächlich hielt waren wir um so dankbarer, als das unbeschattete Warten in der norditalienischen Sonne bereits nach kürzester Zeit seinen konditionellen Tribut fordert. Schon drei Jahrzehnte zuvor hatte ich verstanden: Gott musste Italiener sein, und nicht selten erschien er in Gestalt eines Busfahrers oder Zugschaffners. Selbst ohne Fahrkarte wurden wir zweimal bereitwillig chauffiert, da in unserem kleinen Bergdorf Fahrkarten nicht zu erhalten waren und der Busfahrer keine Kasse an Bord hatte; “Che cosa, turiste senza macchina!” Ecce homo, sag´ ich da nur. Einmal hatten wir gar unverhofften Erfolg, als wir nach verpasster Busabfahrt – dem weithin im Ausland verbreiteten Klischee, dass Deutsche stets pünktlich seien, vermochten wir leider mehrmals nicht gerecht zu werden – wie Reisende aus einer vergangenen Zeit per Anhalter in südliche Richtung reisen wollten: zwei völlig disparate italienische Handwerker räumten die mit Werkzeugen belegte Rückbank ihres kleinen Fiat und nahmen uns bereitwillig mit in den nächsten Ort. Selbst die Annahme einer kleinen Spende für den bereits auf Reserve laufenden Motor ihres Kleinmobils wurde verweigert. “Parola d´onore!” Mit solchen Italienern will ich jederzeit und für alle Zunkunft ein neues Europa aufbauen! Mit jenem deutschen Pärchen mittleren Alters, das uns nur irritiert und verschüchtert anstarrte, als wir es nach einer Mitfahrgelegenheit bis zu unserem nur 6 Kilometer entfernten Ort fragten, könnte ich mir hingegen sehr gut eine Rückkehr in vornapoleonische Zeiten der Kleinstaaterei vorstellen. Jedes Mal, wenn sie Westfalen durchquerten, würde ich höchstpersönlich an der Grenze auf sie warten und eine ordentlich bemessene Reisetaxe für diese "Landsleute" einfordern!
Das Zauberwort für wandernde Italienreisende heißt übrigens "Pullman", wie wir leider erst am vorletzten Tage unseres Aufenthalts durch Zufall erfuhren. Dabei handelt es sich um noch tarifgünstigere Kleinbusse, die sich geisterhaft zwischen kleineren Ortschaften bewegen und deren Abfahrzeiten nur Einheimischen bekannt sind.
Ein Appartement mag noch so schön sein und zum Verweilen einladen, doch man weiß ja, dass Immobilität auf Dauer krisenhaft wirkt und zu ernsthaften zwischenmenschlichen Spannungen führen kann. So wagten wir an meinem Geburtstag schließlich einen bestens geplanten Ausbruchversuch. Mit dem frühestmöglichen Bus nach Luino und von dort weiter mit der Fähre nach Verbania und schließlich zur Villa Taranto, einem Tusculum gleichermaßen für versierte GartenliebhaberInnen wie botanische Laienflaneure (wie mich). Und wo ließe es sich besser aushalten bei windstillen 32 Grad Celsius?! Neben der Erkenntnis, dass selbst im Lande der handwerklichen Speiseeiskunst ein Genuss versprechendes Industrieeis italienischer Provenienz meilenweit hinter den Erwartungen zurückbleiben kann, verschaffte mir jedoch eben nicht die Blütenvielfalt an jenem Ort eine bleibende Erinnerung, sondern die unscheinbare Büste eines Mannes, der einst die Idee für diese Anlage hatte und das Grundstück im Jahre 1931 einer Marquise abgekauft hatte: ein schottischer Kapitän mit dem phonetisch herausfordernden Namen Neil Mc Eacharn. Den unwiderstehlichen Reizen des milden Klimas konnte offenbar selbst der italienische Faschismus nichts anhaben! Was ich schon lange geahnt hatte, wurde mir augenblicklich zur in Bronze gegossenen Wahrheit: die europäische Menschenwelt besteht aus einer genetischen Kombinatorik von etwa dreißig Grundphysiognomien. Selbst nach der dritten Umrundung des Schottenkopfes blickte mir unzweifelhaft immer noch Heinz Rühmann entgegen. Irgendwie scheint hier alles kulturgermanisiert zu sein, selbst bizarre Immigranten aus den Lowlands.
Wenn wir schon bei Germania sind: längst heimgekehrte, ehemalige Gastarbeiter haben sich offenbar ein kleines Zubrot als Übersetzer in einer traditionell stark von Deutschen frequentierten Urlaubsregion verdient. Die Entbabylonisierung der Sprache auf barbarischem Google-Niveau ignorierend, entschied ich mich in diesem paradieshaften Ambiente für jenen viel sympathischeren Erklärungsversuch der omnipräsenten Gegenwart rätselhafter Schilderaufschriften wie “auber von Fährrader” oder “Strand reserviert für die Chef von Hund” an einem ausschließlich Hundehaltern vorbehaltenen Seeuferabschnitt. Überhaupt entpuppte sich der freie Umgang mit Sprache als eine der wenigen Kreativitätsreserven, die sich in der touristischen Edelregion erhalten haben. An sich können wir das aber vernachlässigen, denn die überwiegende Zahl der Ankömmlinge sucht hier ja schließlich nicht originelle Kreation, sondern pure Rekreation.
Nun denn, auch in fortgeschrittenem Alter lässt sich mit leichter Hand noch ein Abenteuerurlaub bewerkstelligen, wenn man: a) zu dösig ist, an alles zu denken; b) Pauschalreisen für einen verzichtbaren, gar lästigen Luxus hält; c) in der Lage ist, körperliche Gebrechen vorübergehend zu ignorieren; und d) sich noch den Blick für die vielen kleinen, unentdeckten und schönen Dinge hat bewahren können. Man muss sich nicht in entlegene exotische Gegenden dieser Erde begeben, um Abenteuerliches zu erleben. Wer das “Abenteuer Urlaub” sucht, der kann uns buchen; nein, besser gleich am nächsten Wochenende selbst in der Provinz um die Ecke damit beginnen und in der nächst unvermeidlichen Ferienzeit den Radius bis in eine stabile Schönwetterzone erweitern. Man muss danach ja nicht gleich eine Erzählung schreiben!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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